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Die Regengeschichten sind eine kleine Kurzgeschichtenreihe. Die einzelnenen Geschichten haben nicht viel gemein außer einem simplen Umstand: Es regnet.
Regengeschichten - Flügel aus Papier
Flügel aus Papier:
Liz sitzt am Schreibtisch vor dem Fenster. Obwohl es erst kurz nach sechs Uhr ist, ist es dank der grauen Wolken, die den gesamten Himmel bedecken, schon ziemlich finster im Zimmer und sie hat die Schreibtischlampe eingeschaltet, um besser sehen zu können. Es ist ziemlich still, das einzige lautere Geräusch ist der Regen, der gegen die Scheibe und auf das Fensterbrett prasselt. Irgendwo an der Außenwand treffen in regelmäßigen Abständen immer genau zwei direkt aufeinander folgende Regentropfen auf einen metallischen Gegenstand, wodurch ein sehr hohes und überraschend lautes Geräusch entsteht. Ein helles "Di-dink", etwa einmal pro Minute. Als Liz hier eingezogen ist, hat das "Di-dink" sie wahnsinnig gemacht. Sie konnte dabei nicht einschlafen, weil sie jedes Mal unwillkürlich hochschreckte, wenn das Geräusch wiederkam. Mittlerweile fand sie es fast beruhigend. Als sie das letzte Mal bei Mama zu Hause war, hat sie sich sogar dabei erwischt, wie sie beim Regen auf das "Di-dink" gewartet hat.
Natürlich ist es sonst nicht wirklich still im herkömmlichen Sinne. Da sind all die Geräusche, die man in einem Wohnblock erwartet, der fast ausnahmslos aus Studenten-WGs besteht. Von der Straße unten dröhnt das zu- und abnehmende Rauschen von Autos herauf. Hin und wieder sind lautere Stimmen zu hören, die durch die eher dünnen Wände von anderen Wohnungen her drinnen. In der Küche klappert ihre Mitbewohnerin Chrissie mit dem Geschirr herum. Und irgendwo im Haus hat ein Typ seine Anlage wieder viel zu laut aufgedreht, sodass der Bass durch alle Wohnungen wummert. Aber alle diese Geräusche blendet Liz mittlerweile automatisch aus, darin ist sie ziemlich gut geworden. Alles was sie hört, sind die Geräusche des Regens und das Rascheln des Papiers, während sie es faltet.
Wie jedes Mal, wenn sie hier sitzt und das Papier faltet, denkt sie daran zurück, wie sie das zum ersten Mal gemacht hat. Damals ist sie acht gewesen, vielleicht auch neun, und sie hat unzählige Anläufe gebraucht, weil sie es nur einmal bei ihrer Klassenkameradin Hannah gesehen hatte und einfach nur versucht hat, es aus dem Gedächtnis nachzumachen. Das merkwürdige ist, dass Liz dieses Falten immer eine ganz eigene – man könnte fast sagen kindliche – Freude bereitet und auch an diese Erinnerung ihrer ersten Versuche denkt sie immer lächelnd zurück. Und das, obwohl es eigentlich keine besonders fröhliche Erinnerung ist. Es gehört zu den Dingen, über die sie eigentlich gern mal mit einem Therapeuten reden würde.
Nicht, dass sie Therapie nötig hätte. Klar ihre Eltern sind geschieden, aber wessen Eltern sind das heutzutage nicht, und seit ihrem Schulabschluss hat sich ihr Verhältnis zu ihrem Vater wieder deutlich gebessert. Man könnte es jetzt ziemlich gut nennen, mehr als das, wenn man die Umstände bedenkt. Allgemein ist ihr Leben natürlich nicht perfekt – wessen Leben ist das schon? – aber sie kann sich eigentlich nicht beschweren. Ihr Studium – mittlerweile ist sie im vierten Semester – hat sie bisher mühelos gemeistert und sie hat seit dem Umzug in die Stadt viele neue Freunde gefunden. Einen festen Freund hat sie zwar nicht, aber wenn die Beziehung ihrer Eltern sie eines gelehrt hat, dann, dass es eher unglücklich macht, um jeden Preis eine Beziehung zu suchen oder aufrecht erhalten zu wollen. Nein, Liz kann sich echt nicht beschweren. Es ist mehr eine Art Neugierde, die sie bei dem Gedanken an einen Therapeuten reizt. Die Frage, wie eine neutrale, außenstehende Partei bestimmte Dinge in ihrem Leben wohl einordnen würde. Zum Beispiel, dass sie bei Regen gern an ihrem Schreibtisch sitzt, Papierflügel faltet und an einen Abend zurückdenkt, an dem ihre Eltern, den zu diesem Zeitpunkt schlimmsten Krach ihrer Ehe führten.
Natürlich würde es nicht der schlimmste Streit ihrer Eltern bleiben. In diesem Jahr – etwa knapp eineinhalb Jahre vor der Scheidung – nahmen die Streitereien immer mehr an Intensität zu. Ziemlich genau im selben Maße wie der Alkoholkonsum ihres Vaters. Auch der hatte noch nicht seinen Höhepunkt erreicht, wie ihr Vater ihr später beschämt gestand kam der Höhepunkt seines Alkoholismus etwa ein Jahr nach der Scheidung. Trotzdem war es auch damals schon ziemlich schlimm gewesen. Ihr Vater war kein gewalttätiger Alkoholiker. Wenn man Filme ansieht, könnte man meinen, dass alle Alkoholiker automatisch auch zu Schlägern werden – vermutlich versucht man damit die Dramatik zu erhöhen und den Schaden zu zeigen, den die Alkoholiker sich selbst und ihren Liebsten zufügen. Aber die Wahrheit ist, dass man seine Liebsten nicht schlagen muss, um ihnen Schaden zuzufügen.
Zu diesem Zeitpunkt war ihr Dad bereits seit ein paar Monaten arbeitslos. Natürlich hatte er ihrer Mutter gegenüber behauptet, dass man ihn wegen Kürzungen und firmeninterner Politik und weiß-Gott-was-noch gefeuert hatte, aber selbst Liz mit ihren zwölf Jahren war klar, was der eigentliche Grund war: Einen Betrunkenen an einer Maschine arbeiten zu lassen, war nicht nur schlecht für die Firma, es war auch gefährlich für den Betrunkenen. Das Ergebnis war allerdings natürlich, dass ihr Dad jetzt noch mehr Zeit fürs Trinken übrig hatte.
An diesem Tag war sie um drei von der Schule heimgekommen. Ihr Dad saß am Küchentisch, im Eck standen drei leere Flaschen Bier, die vormittags dort noch nicht gestanden hatten, am Tisch stand ein noch fast voller Whiskey. Liz ging wortlos auf ihr Zimmer und machte ihre Hausaufgaben. Um vier rief ihre Mutter an und sagte ihrem Mann, dass sie heute länger arbeiten müsste und erst um sechs Uhr heimkommen würde. Er solle doch bitte die Wäsche raushängen, die sie in der Früh in die Maschine gepackt hatte. Dass Liz‘ Vater bereits auf bestem Wege war, sich zu betrinken, merkte sie übers Telefon nicht. Der Geruch von Alkoholfahnen überträgt sich nun einmal nicht durch Funknetze und abgesehen davon klang er noch stocknüchtern. Im Nachhinein ist Liz natürlich klar, dass das an sich schon ein problematisches Anzeichen ist, wenn ein Mensch nach drei Flaschen Bier und einer halben Flasche Whiskey noch stocknüchtern wirkt. Mal abgesehen davon ist es natürlich auch ein schlechtes Zeichen, wenn jemand Whiskey aus der Flasche trinkt.
Damals konnte sie vielleicht nicht das Problem so konkret erkennen und beschreiben, aber die Grundproblematik verstand sie selbst als Kind. Mit Acht kannte man den Begriff Alkoholiker vielleicht nicht, aber man war durchaus in der Lage, grundlegende Zusammenhänge zu erkennen. Zum Beispiel: Papa trinkt viel und das macht Mama traurig. Sie half ihrem Dad beim Aufhängen der Wäsche – was hieß, dass sie die meiste Arbeit machte. Dann fragte sie ihn ob, sie sie später abhängen sollte.
„Nein, nein, Kleine, das mach ich schon. Da musst du dich nicht drum kümmern“, sagte er.
Und sie reagierte wie jede Achtjährige, die den magischen Satz „Da musst du dich nicht drum kümmern“ gehört hatte – sie vergaß die Sache fast augenblicklich. Sie erledigte ihre Hausaufgaben, dann sah sie etwas fern. Irgendwann begann es zu regnen, aber das bemerkte sie fast gar nicht. Es fiel ihr erst wieder ein, als sie das Auto ihrer Mutter heimkommen in der Einfahrt hörte.
„Papa, die Wäsche!“, rief sie entsetzt.
„Oh Scheiße!“, antwortete ihr Papa mindestens genauso entsetzt.
Die Whiskeyflasche war mittlerweile leer.
Liz hörte den Haustürschlüssel und ohne ein weiteres Wort zu sagen, machte sie den Fernseher aus und flitzte die Treppe hoch in ihr Zimmer. Sie wusste bereits, was jetzt kommen würde, und sie wollte nicht dabei sein. Ihr genügte schon die gedämpfte Hörspielversion. Sie hörte die Haustür zuknallen. Ihre Mutter sagte irgendwas Unverständliches, das irgendwie erschöpft klang. Dann sagte ihr Vater etwas, das sie zwar auch nicht verstand, das aber vermutlich irgendwas wie „Tut mir leid, ich habe die Wäsche draußen vergessen“ gewesen sein musste. Denn danach ging das Geschrei los.
„Verflucht nochmal! Ich schufte mich den ganzen Tag kaputt und du schaffst es nicht einmal, einen beschissenen Korb Wäsche im Auge zu behalten!“
„Mein Gott, es ist doch nur ein Korb Wäsche, es ist doch nicht so, als hätte ich alle unsere Klamotten auf einmal vernichtet. Dann braucht das Zeug halt einen Tag länger zum Trocknen.“
„Es geht doch nicht nur um die Wäsche! Merkst du eigentlich nicht wie unfähig dich das Zeug da mittlerweile macht? Und das vor unserer Tochter!“
„Erzähl du mir nicht, wie ich mit unserer Tochter umzugehen habe. Wenigstens bin ich für sie da!“
„Sich im selben Haus aufhalten und zu saufen ist kaum dasselbe wie ‚Für sie da sein‘! Weißt du, wer für sie da ist? Diejenige, die den ganzen Tag in der Arbeit ist, um Geld für diese Familie ins Haus zu bringen und die abends ihr dann trotzdem noch bei den Hausaufgaben hilft, weil ihr versoffener Vater schon am Nachmittag dazu nicht mehr in der Lage ist!“
„So ein Schwachsinn, ich bin…“
Und so ging es vor und zurück. Liz versuchte, die Geräusche auszublenden. Sie setzte sich an den Schreibtisch und kramte aus ihrer Schultasche ihren DinA4-Block heraus. Sie riss zwei Blätter heraus und dann konzentrierte sie sich voll und ganz aufs Falten. Alles andere verschwand, nur die Geräusche des Regens sickerten noch leise hindurch. In der Schule hatte ihr Hannah heute gezeigt, wie man ein Blatt so falten konnte, dass es aussah wie ein Engelsflügel. Es war ziemlich schwierig, wie Hannah natürlich voller Stolz immer wieder betont hatte, aber wenn man die Knicke genau richtig hinbekam, war das Ergebnis echt toll. Der Flügel war dann halbgeöffnet, als würde er sich gerade entfalten. Liz versuchte es ein erstes Mal und der Flügel war kaum als ein solcher zu erkennen. Sie starrte ihn an und versuchte zu erkennen, was sie falsch gemacht hatte. Dann zerknüllte sie ihn und warf ihn in den Papierkorb neben dem Schreibtisch. Anschließend nahm sie das zweite Blatt und probierte es. Diesmal war die Form zwar etwas deutlicher, aber der Flügel wirkte immer noch krumm und irgendwie auch gestutzt. Sie musterte ihn wie den ersten, warf ihn weg und riss sich ein weiteres Blatt vom Block. So machte sie immer weiter und nach einer Stunde hatte sie den halben Block aufgebraucht und ihr Papierkorb war fast voll. Aber als sie dieses Mal das Blatt faltete, waren die einzelnen Knicke präzise und der Flügel sah auch wie ein richtiger Flügel aus. Glücklich legte sie ihn behutsam zur Seite. Dann nahm sie ein weiteres Blatt und versuchte den zweiten Flügel. Sie brauchte nur zwei Versuche für diesen, jetzt hatte sie den Dreh raus. Als sie mit ihm fertig war, war der Lärm von unten verstummt. Sie legte die beiden Flügel vor sich auf den Tisch und sah sie mit einem gewissen Stolz an. Kurz darauf ertönte ein leises Klopfen an der Tür.
„Lizzy, darf ich reinkommen?“
„Klar, Mama“, antwortete sie.
Ihre Mutter betrat das Zimmer. Ihre Augen sahen verweint aus und ihr ganzes Gesicht wirkte erschöpft und niedergeschlagen. Diesen Anblick bekam Liz in letzter Zeit immer öfter zu sehen und sie würde ihn auch noch für eine ganze Weile sehr regelmäßig sehen. Mama kam zu Schreibtisch und sah die Flügel an.
„Was hast du denn da gemacht?“, fragte sie.
„Meine ganz eigenen Flügel“, erklärte Liz stolz. „Die häng ich mir an den Rücken und dann fliege ich durchs Fenster und hoch über dem Haus!“
„Aber Lizzy“, sagte ihre Mama und strich Liz liebevoll eine Strähne ihres kastanienbraunen Haares aus dem Gesicht. „Es regnet doch. Da werden die Flügel nass und reißen, kaum dass du aus dem Fenster bist.“
„Das klingt sehr traurig, Mama“, sagte Liz.
Dabei klang sie merkwürdig erwachsen, gar nicht wie ein achtjähriges Kind. Ihre Mutter schien das auch so zu sehen, denn sie sah ihre Tochter überrascht und irgendwie sogar verletzt an.
„Das ist nicht traurig, Lizzy, es ist die Realität. Besser, man findet sich damit ab“, erwiderte sie barsch. „Essen ist in dreißig Minuten fertig.“
Und damit verließ sie das Zimmer. Liz sah ihr nach und schluckte ihre Antwort herunter.
Das klingt jetzt noch viel trauriger, hatte sie beinahe laut gesagt. Dann drehte sie sich wieder zu ihren Flügeln um und sah sie an. Ihre Flügel würden nicht im Regen reißen. Sie schloss die Augen und stellte sie vor wie sie die Flügel anlegte.
Und dann springt sie durch das Fenster hinaus. Die halbgeschlossenen Flügel öffnen sich und spannen sich zu einer Weite auf, die man von ihrer vorherigen Größe nicht hätte erahnen können. Sie strecken sich aus und Liz fliegt in den Regen hinaus. Sie gleitet auf unsichtbaren Böen und Aufwinden, die nur Kreaturen der Luft zu sehen scheinen. Sie dreht ihre Runden um das Wohnhaus fliegt hoch hinauf, zischt dann im Sturzflug hinab, direkt vor dem Fenster des Typen mit der übertrieben lauten Anlage vorbei, dann streckte sie Flügel wieder aus und zischte in einem halsbrecherischen Bogen wieder nach oben. Sie wendet sie nach links, fühlt eine Böe und…
Ein Klopfen an der Tür schreckt Liz aus ihren Gedanken hoch. Sie braucht einen kurzen Moment, um in die Realität zurückzukehren, dann dreht sie sich zur Tür um.
„Herein!“
„Hey Liz!“, sagte Chrissie. „Ich habe mir Spaghetti gemacht und es ist etwas zu viel geworden. Hast du zufällig gerade Hunger?“
Liz muss lachen. Irgendwie wird es bei Chrissie immer etwas zu viel. Sie hat sich schon öfters gefragt, ob ihre Mitbewohnerin einfach ein netter Mensch ist, der gerne für einen mit kocht und das dann mehr oder weniger elegant versteckt, oder ob sie einfach tatsächlich katastrophal darin ist, Portionen abzuschätzen.
„Tatsächlich habe ich sogar recht großen!“, sagt sie. „Danke.“
Chrissie sieht an ihr vorbei und auf das gefaltete Papier auf ihrem Schreibtisch.
„Was ist denn das?“, fragt sie.
„Das sind meine eigenen Flügel“, erklärt Liz mit einem Zwinkern. „Fliegen sich echt super..."