Regen
Die Regentropfen auf der Fensterscheibe ziehen langsam ihre Bahnen. Hinter ihnen nur trübes Grau. Manchmal stelle ich mir vor die Tropfen seien Menschen, jeder auf seinem eigenen Pfad. Mal verschmelzen zwei miteinander, gehen den Weg gemeinsam, zumindest für einen Augenblick. Erst scheint der dadurch entstehende Fluss stärker, widerstandsfähiger, doch schon bald trennen sich die Regentropfen wieder, gehen neue Wege, oder, was fast noch schlimmer ist, verlaufen ins Nichts.
Zu bald.
Leise seufzend wende ich mich ab und schüttle den Kopf. Lebendige Regentropfen, das geht nun wirklich zu weit, bei aller Liebe. Ich zücke mein Handy, stecke mir einen Kopfhörer ins Ohr und lasse mir per Zufallsmodus ein Lied aus meiner Musikbibliothek vorspielen: Girlfriend in a Coma von den Smiths. Leise fange ich an zu lachen, erst ist es nur ein ungläubiges Schnauben, doch schon bald muss ich mich am Fensterbrett festhalten, um nicht umzufallen, mein Gesicht zu einer furchteinflößenden Grimasse verzogen.
Draußen hat es aufgehört zu regnen. Ein letzter Regentropfen bahnt sich seinen Weg das Fenster hinunter, wird immer kleiner und ist schließlich ganz verschwunden. Was bleibt ist eine schwache Spur auf dem Glas, und nur zu bald wird auch sie dem Vergessen anheimfallen.
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Wie oft hatte ich mir gewünscht, sie morgens mit Frühstück am Bett zu überraschen, mit einem Tablett in der Hand. Croissants, frisch gepresster Orangensaft, vielleicht ein wenig Rührei.
Was ich ganz sicher nicht gedacht hatte, war, dass ich mich einmal mitten in der Nacht, verkleidet als Pfleger, ins Krankenhaus schleichen würde, nur um ihr aus ihrem Lieblingsbuch vorzulesen. 'Der goldene Handschuh' von Heinz Strunk. Doch nun stehe ich hier, das ungeöffnete Buch in einer Hand, die andere an der Stange am Fußende ihres Betts. In krakeliger Handschrift steht dort ihr Name geschrieben: Marie Steiner. Obwohl sie in meiner Fantasie natürlich stets einen anderen, meinen Nachnamen trug.
Ihre Lippen sind weiß und durch das monotone Piepsen der Geräte komme ich nicht umhin, wieder einmal festzustellen, wie hübsch sie ist. Ganz automatisch wandert meine Hand in ihr Gesicht, streicht ihr sanft über die Wange, folgt der geschwungenen Linie ihres Mundes. Sofort durchströmt mich das altbekannte, angenehm warme Glücksgefühl. Wie können sie nur sagen, es wäre krank, wie könnte etwas so Reines falsch sein? Von meiner Euphorie, sie endlich wiederzusehen, sie an meinen Fingerspitzen spüren zu können, angetrieben, lasse ich mich auf ihrem Bett nieder und fange an mit ihr zu reden.
"Hey, mein Engel, ich hab dich vermisst. Schau, was ich dir mitgebracht habe, ich dachte ich lese dir ein Wenig vor. Und wenn du dann aufwachst, können wir vielleicht einen Spaziergang zusammen machen, nur wir zwei, ist ja ganz schön, diese Parkanlage hier."
Wieder streiche ich ihr übers Gesicht, stecke ihr vorsichtig eine Haarsträhne hinters Ohr. Ein Lächeln umspielt meine Lippen, als mir klar wird, dass wir zum ersten Mal alleine sind. Nur wir Zwei.
Schemenhaft blitzen Gesichter und Stimmen in meiner Erinnerung auf, Männer mit ernsten, grauen Gesichtern, in weißen Kitteln, die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt. Unfallflucht. Koma. Irreparable Schäden. So jung.
Ruckartig ziehe ich meine Hand zurück und greife nach dem Buch, schlage es so heftig auf, dass die erste Seite leicht einreißt. Nicht so schlimm, denke ich, kann man wieder kleben. Wird schon wieder.
Mehrere Stunden lang lese ich ihr vor, bis meine Stimme rau und der Himmel hinter den weißen Vorhängen langsam hell wird. Leise, als könnte ein zu lautes Geräusch sie aus ihrem Schlaf reißen, klappe ich das Buch zu. "Ich muss gehen, meine Schöne. Wir werden uns bald wiedersehen."
Als ich in mein Auto steige, sehe ich sie plötzlich vor mir, Hand in Hand mit diesem Typen, Jens, oder Jan, oder wie er hieß, laut lachend, über irgendeinen Witz, den er erzählt hat.
Aus dem Augenwinkel sehe ich die Lichter der Straßenlaternen vorbeiziehen, langsam, dann immer schneller, wie in dieser kalten Novembernacht vor zwei Wochen. Eine einzelne Träne rollt über meine Wange. Ich weiß, was jetzt zu tun ist.
Ich trete das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Nur dieses eine Mal will ich der Erste sein.
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Es hat wieder angefangen zu regnen. Die Regentropfen prasseln leise auf das zerstörte Dach des ausgebrannten Autos. In der Ferne erklingt das schwache Heulen der Sirenen.
Ein einzelner Regentropfen seilt sich ab, ins Innere des Wagens. Noch bevor er den Grund erreicht, verschlingt ihn die Hitze des Feuers.