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Regen
Regentropfen schlagen gegen die Fensterscheibe, ziehen Schlieren nach sich, während sie langsam nach unten rinnen. Die leisen Klack und Klocks vermitteln, je nach momentaner Stimmung, einmal ein Gefühl des Trostes, wie ein altes, fast vergessenes Wiegenlied, dann wiederum wirken sie wie ein Symbol der unablässig verrinnenden Zeit und lassen nichts als eine Empfindung der Melancholie zurück.
Starr und unbeweglich sitzt sie auf ihrem Stuhl nahe am Fenster und folgt mit ihren Augen den Spuren des Regens auf dem Glas. Ihr Blick ist leer, die Gedanken, die in ihr wogen, zeigen keinerlei Rührung an der Oberfläche, genauso wie gefährliche Strömungen in einem Fluss auf dem Wasserspiegel oft nicht zu sehen sind. In dem undurchdringlichen Grau des Tages ist nicht auszumachen, ob die Mittagszeit angebrochen oder gar schon vorüber ist, der Frau auf dem Stuhl ist das eine so einerlei wie das andere. Manchmal schnieft sie, fährt sich mit dem Handrücken über die Nasenspitze, scheint die Umgebung kurz schärfer wahrzunehmen. Diese Augenblicke ziehen rasch vorbei und die Leere kehrt wieder in ihre Züge zurück. Neben ihr, auf dem kleinen Beistelltisch, steht ein Telefon, dessen Hörer die Gabel nicht vollständig nach unten drückt. Bei genauem Lauschen ist das leichte „tut, tut, tut“ des Besetztzeichens zu vernehmen, immer wieder vom Regen übertönt, so wie Wellen auf dem Sand mal größere, dann wieder kleinere Halbkreise hinterlassen. Seit sie hier sitzt und aus dem Fenster starrt, versucht ein Schrei sich seinen Weg ihren Hals hinauf zu bahnen, doch in der Schwere der Stimmung hat er keine Chance, nach oben zu gelangen. Sehnsucht und Trauer haben ihn erschaffen, halten ihn allerdings auch irgendwo zwischen Bauch und Hals fest. Der ganze Körper ist gefangen in einem einzigen Gefühlschaos, getönt in grau und schwarz, dem tristen Himmel gleich, leichte Gedanken haben keinen Platz.
Eine Vorahnung von künftigem Unglück macht ihr das Herz schwer. Ihrem eigenen Ende sieht sie gelassen entgegen, hat es doch etwas surreales, nicht zu fassendes, etwas, das irgendwann passiert, hier und jetzt jedoch keine Bedeutung hat. Wie anders werden diese Gedanken laut, wenn sie eine liebe Person betreffen! Das Telefonat mit ihrer Oma hat einen leichten Riss in ihrer Fassade hinterlassen. Ein langes und bewegtes Leben liegt hinter dieser Frau, sie hat vieles geschafft, manches aufgegeben. Eigentlich wäre es nun Zeit zu gehen, ihre Enkelin möchte dies aber nicht wahr haben.
Ihr ganzes Leben lang hat sie sich nach den Gesprächen gesehnt, welche sie jetzt miteinander führen, in denen sie ihre gegenseitige Liebe fließen lassen können, ohne etwas dafür zu verlangen oder zu erhoffen. Die andere genau so nehmen wie sie ist, die eine mit ihren neumodischen Worten und die andere mit ihrer leichten Vergesslichkeit – noch nicht lange sind sie dazu in der Lage.
Vielleicht hätten sie es schon immer gekonnt, doch die Vorstellungen der Enkelin, geprägt aus den Erzählungen und Imaginationen ihrer Mutter, standen dieser Verständigung im Weg. Eine halbe Ewigkeit war sie in dem Wissen aufgewachsen, das ihre Oma geschont werden müsse vor den Unbilden des Lebens. Als die Brückentrümmer des alten Lebens der Enkelin in die Fluten der Zeit stürzten und die Korsage der „Muss“ und „Soll“s zerbrach, blieb keine erzwungene Bande mehr zwischen den beiden Seiten, der Vergangenheit und der Zukunft. Zaghaft, fast schüchtern, mit leiser und dünner Stimme, noch geschwächt von dem langen Schweigen erhob sich die Stimme der Liebe. Sie stieg höher und höher, hinweg über Zweifel und Sorgen, bis sie schließlich einen klangvollen Chor bildete und einer Treppe gleich zwischen ihren beiden Herzen eine Verbindung schuf, in der weder ein Muss noch ein „das kann nur so sein...“ Platz hatten. Oma und Enkelin fanden wieder zueinander.
In der kurzen Zeit, die seit dem vergangen ist, entstand eine Nähe, die in den vergangenen Jahren nicht gewachsen war. Sagen was sie dachten, vergessen, was sie vergessen wollten, alles war möglich in diesen Gesprächen, sie konnten beide so sein, wie sie waren, in ihrer ganzen Ursprünglichkeit und oft übereinander grinsen. Fast schon atemlos gedachte die Enkelin nun an diesem Fenster all der lieben kleinen Gesten und der tröstenden Worten, der Aufmunterung und Nähe, die in ihrem Herzen durch den Kontakt mit ihrer Oma gewachsen war.
Jede Woche, wenn die Zeit des Telefonates näher rückte, dann war da zum einen die Angst vor schwierigen Themen, denn auch solche hatten sie, als auch die Freude über all die schönen Dinge des Lebens, welche sie, einem sprudelnden Springbrunnen gleich, einander berichteten. Dies stellte eine wichtige Lektion dar, die sie nur schwer verstand, allerdings bereitwillig zu lernen suchte. Nicht alleine eine Stimmung kann im Herzen sein, auch die unterschiedlichsten Strömungen sind möglich. Sie laufen einander scheinbar zuwider, doch erst die Summe aller Gefühle, der angenehmen wie der unangenehmen, füllte das ganze Sein aus. Das Herz wird ihr voller und voller, wenn sie an die gütige Stimme und die eigenwilligen Gedankengänge ihrer Oma denkt, skurril, lieb und immer für sie da.
Bei dem eben geführten Gespräch lag er zum ersten Mal deutlich in der Luft, der Gedanke an den Tod. Der Enkelin wurde, während sie von Genesung und allem möglichen sprachen, sich abzulenken suchten, immer mehr bewusst, wie tapfer die alte Frau sich gab, wie sie ihre Schmerzen herunterspielte und eine hoffnungsvolle Fassade zur Schau trug.
Nachdem sie unter vielen, vielen Küssen aufgelegt hatten, war ihr die Tragweite ihrer Gefühle klar geworden und nun zerrissen sie ihr die Brust. Sie würde bald sterben! Ich will sie nicht verlieren! Ich will noch Tage, Wochen, Monate und viele, viele Jahre mit ihr sprechen und mich an ihrer Nähe erfreuen. Sie kann doch jetzt nicht so einfach gehen, jetzt wo wir uns endlich gefunden haben! Dies waren die Schreie, welche nicht nach oben kamen, sondern unter der Oberfläche rumorten. Wenn sie jedoch an die Schmerzen ihrer geliebten Oma dachte, an die vielen harten Wegstrecken, die schon hinter ihr lagen und der Odyssee, welche nun vielleicht noch vor ihr lag – dann wusste sie eigentlich, was sie für besser hielte, was sich ihre Oma wünschte. Kann ich sie gehen lassen? Was ist dann mit mir? Oh ich würde sie so sehr vermissen! Ich will nicht ohne sie hier sein, sie soll bei mir bleiben! Ich möchte an meinem Dreißigsten mit ihr lachen und mit den großen Zehen wackeln, ihren Geschichten von früher lauschen und sie nie, nie gehen lassen. Allerdings sah sie das nur so, wenn sie einzig und allein an sich dachte, nicht jedoch, wenn sie auch an ihre Oma dachte.
Als sie an das manchmal so salopp hingeworfene „Scheiße“, „cool“, „abgefahren“ dachte, welches diese würdige alte Lady in den Mund nahm, an ihre schelmische Schläue, mit der sie unter vielen Bezeugungen von Gott, Jesus und manchmal sogar Maria genau das erreichte, was ihr im Sinne stand, ohne das irgend jemand zu sagen gewusst hätte, wie sie das zuwege gebracht hatte, da musste sie lächeln.
Mit einem Mal erinnerte das leichte Klopfen des Regens an das Klopfen ihrer Oma auf der Tischplatte, während sie den Fischer-Chören den Takt vorgab und fröhlich mitträllerte. Unvergessen das Funkeln dieser geliebten Augen! Der Schauer wischte die Trauer über die schwere Wahrheit nicht ganz beiseite, jedoch mischte sich in die Palette der Gefühle ein leichtes Strahlen von eben jener Fröhlichkeit, die ihre Oma ihr mitgab, und die Regentropfen wirkten wie ein tröstender Gruß aus der Ferne.