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Refugium
Refugium - ( überarbeitete Version )
Refugium
Er ging darauf zu. Trotz aller Zweifel. Oder gerade deswegen. Die Steinfassade ragte über ihn empor und glitt aus der massiven Front in zwei schlanke Türme hinauf, die sich unter den Nachthimmel stemmten.
Bei dem Versuch, die schwere Tür mit der linken Hand auszuschieben, unterdrückte er kaum den Aufschrei. ‚Nicht willkommen, falscher Ort', schoss es ihm durch den Kopf.
Einen Moment lang war er versucht, Halt zu suchen, an der Fassade herabzusinken und darauf zu warten, dass es geschah. Dass sie kamen und es beendeten. So, wie es mit ihr geschehen war. Der Gedanke, dass er nicht entkommen konnte, kreiste ihn ein.
Gegen den Sog stemmte er einen Spalt in das massive Holz und zwängte sich hindurch. Das Portal schloss unendlich langsam, obwohl er sich dagegenlehnte, und jetzt glitt er daran herunter. Als nur noch ein winziger Spalt blieb, zog ein saugendes Geräusch aus dem Raum und verschwand in die Dunkelheit. ‚Entweiht.' Seine Gedanken formten für Sekunden die bruchstückhafte Anklage.
Er rang noch immer nach Luft, sodass sein Körper zusammengesunken allein dem Rhythmus seines Atems folgte. Noch lief er die dunklen Straßen entlang. Ziellos, davon. Sein Blut strömte so schnell durch seine Adern, wie seine Füße ihn tragen konnten. Das Stechen in den Lungen zog die Straße in die Länge. Die Häuser wuchsen über seinen Blicken in den wolkenverhangenen Nachthimmel hinauf und schoben sich dicht zusammen. Ließen ihn nicht entkommen. Bis hierher. Die Fassade hatte durch ihren grauen Kalkstein auf ihn herabgesehen, ihn angeschwiegen, er solle gehen.
Seine Augen begannen, sich an das schwache Licht zu gewöhnen, als sein Atem langsam ruhiger wurde. Vor ihm ragten zu beiden Seiten die Bänke auf. Dunkles Holz. Ohne Polster.
Auf dem Boden kauernd blickte er den Gang zwischen ihnen unendlich entlang. Begrenzt von dunklem Holz, bis zu den Stufen. Die Müdigkeit breitete sich in ihm aus.
‚Hier liegen bleiben. Solange, bis alles vorbei ist. Es wird vergehen.' Die Kälte des blassen Marmors breitete sich in ihm aus und hielt ihn fest. ‚Kein Entkommen.' Die Gedanken an sie, an die letzten Stunden, holten ihn ein und trieben ihn voran. Er war den ganzen Weg gerannt und hatte gedacht, sie hinter sich zu lassen. Aber es war ihm nicht gelungen. Jetzt waren sie da, drängten hinter ihm herein und würden ihn zugrunderichten.
Etwas in ihm wehrte sich dagegen, nach all dem aufzugeben. Die rechte Hand immer noch um die Waffe gekrampft, stemmte er sich vorsichtig aus der Kälte heraus. Es fiel ihm schwer, die Distanz zur ersten Bank zu überwinden. Er klammerte sich daran, als würde er ertrinken. Weiter vorn schimmerte das Licht einer einzelnen flackernden Flamme und er bewegte sich darauf zu, ohne eine Wahl zu haben. Die Schritte hallten von den Wänden wider und er ließ sich von diesem Geräusch und dem leisen Geruch nach Weihrauch einschließen.
Das Knarren an der Tür drang viel zu plötzlich in sein Ohr. Eine Warnung, beinahe zu spät. Er ließ sich zu Boden fallen und robbte unter eine Bank auf der linken Seite. Die Waffe entglitt ihm bei dem schmerzhaften Aufprall und schlidderte klappernd unter die Bank vor ihm.
Jetzt hatte das Portal sich schon so weit geöffnet, dass er das einzelne Auto hören konnte, das vor der Kurve herunterschaltete, um dann wieder zu beschleunigen und Stille zu hinterlassen. Unter den Bänken hindurch konnte er im Widerschein der Straßenlaternen den Fuß sehen, der sich durch den Spalt schob. Dann einen weiteren. Einen Moment später traten sie ein. Ihre Absätze schlugen hart auf den Stein, als sie zu dritt durch das Hauptschiff schwemmten. Die Waffen im Anschlag.
Sein Blick wanderte verzweifelt zu dem Revolver, der schimmernd unter der nächsten Bank lag. Zu weit entfernt. Sie kamen näher. Bank für Bank. Er wollte die Augen schließen, fest, und darauf warten, dass sie ihn fanden und zurückließen. Kein Entkommen. Dann zumindest schnell. Er hielt schmerzhaft den Atem an. Die Schritte überspülten ihn und entfernten sich, Bank für Bank, umkreisten den Altar.
Den Blick wieder auf die Waffe gerichtet, wartete er. Sie kamen jetzt zurück. Zentimeter vor ihm blieb ein Paar Füße stehen, sah sich ein weiteres Mal um. Er konnte fühlen, wie sich ihre Anspannung mischte. Draußen begann ein Hund zu bellen und die Füße setzen sich wieder in Bewegung. Einen endlos aussetzenden Herzschlag später erreichten sie das Portal und er zählte ihre Schritte, als sie über die Stufen hinabgingen.
Noch Minuten wagte er nicht, sich zu bewegen. Dann schob er sich unter der Bank hervor und erhob sich. Mit einer Hand stütze er sich auf die Sitzfläche und obwohl er sich nur langsam bewegte, versetzte sich der hohe Raum in Schwingungen. Sich weiter als bis auf die Knie hochzuziehen, erschien ihm für den Augenblick zu riskant.
Während er sich auf die Lehne vor ihm stützte, sah er sich um. Die Steinfiguren, die die Seiten des Hauptschiffes säumten, musterten ihn stumm, aber ihre anklagenden Blicke sprachen eine deutliche Sprache. Erzeugten ein mulmiges Gefühl.
Er sah auf seine Hände, die auf der Lehne übereinanderlagen. Blut daran. Noch von vorhin. Er dachte an Beten. Aber das lag ihm nicht. Stattdessen schoben sich die Männer von vorhin in sein Bewußtsein. ‚Oh Gott', dachte er, ‚das war verdammt knapp.' Seine Worte trafen sie blutigen Hände und hallten unausgesprochen zwischen den Figuren hin und her. Schnell beugte er sich herab, um die Waffe aufzuheben und einzustecken. Zu schnell, denn er wankte wieder ein wenig und konnte das Gleichgewicht nur mit Mühe wiedergewinnen.
Ihr Gesicht drehte sich in immer kleineren Kreisen vor seinen Augen und fragte, wieso es soweit hatte kommen müssen. Warum es geschehen war. Er hatte es gewusst, all die Jahre. Das Risiko gekannt. Die falschen Entscheidungen getroffen. Sich ohne Ausweg mit ihnen eingelassen. Dass er dafür bezahlen müsste, hatte er immer gewusst. Jetzt hatte es sie getroffen. Und ihr Gesicht drehte sich unaufhörlich in der Dunkelheit.
Nach einer Ewigkeit der nachlassenden Drehungen kam er auf die Füße und begann zielstrebig, in den vorderen Teil der Kirche zu gehen. Fort. Voran. Aufgehalten von jeder einzelnen Figur, deren Vorwurf er ausweichen musste.
Der Altar aus weißem, schimmerndglattem Marmor ragte auf dem Podest über ihn und vermittelte ihm das Gefühl von Winzigkeit. Es mischte sich mit der Angst und der Verlorenheit, durch die er hierhergerannt war. Und mit dem Zorn, der ihn vorwärtstrieb.
Mit einem tiefen Atemzug und vor Entschlossenheit geballten Fäusten trat er die Stufen hinauf. Ein Knarren am Portal ließ ihn zusammenzucken und mit einer Hand nach der Waffe greifen, die hinten in seinem Gürtel steckte. Aber das Tor blieb geschlossen. Langsam atmete er aus.
Die kleine Tür aus dunklem, verzierten Holz vor ihm, direkt rechts vom Altar, stand einen Spaltbreit offen. Sie versprach ein wenig Sicherheit davor, entdeckt zu werden. Sie würden zurückkommen. Ihnen entkam man nicht, wenn man einmal zu ihnen gehört hatte. Auf welche Weise auch immer.
Vorsichtig schob er die Tür auf. Beim Hindurchtreten musste er den Kopf einziehen. Der dumpfe Geruch schlug ihm massiv entgegen und als er sich aufrichtete, konnte er sekundenlang nichts erkennen. Hier war es noch dunkler, als in der Kirche selbst.
Er lehnte sich an die Wand neben der Tür und fühlte sich zum ersten Mal, seit es geschehen war, wieder allein und sicher. Seit ihr Blut über seine Hände gelaufen war. In einer Welt, in der sie nur noch Sekunden lebte. In der nach einer fremden Waffe griff und wahllos auf die Männer schoss. In der ihr Blick alles war, was ihm bleiben würde.
Er konnte einen von ihnen getroffen haben. Vielleicht getötet. Daran zu denken, ließ Furcht in ihm aufsteigen. Furcht vor sich selbst. Aber vor allem vor ihnen.
Sie hatten sie gefunden. Immer hatte sie ihm gesagt, dass es eines Tages dazu kommen würde. Dass sie nicht sicher waren. Nirgendwo. Er hatte sie gehalten, bis ihr rasendes Herz sich beruhigt hatte. Jedes einzelne Mal. Bis zu diesem letzten Abend. Ihre Angst hatte ein Fundament erhalten und ihr Herz verebbte in seinen Armen. Ein letztes Mal beruhigt. "Sie werden mich jagen. Ich werde sterben." Die Stimme, die als Echo zu ihm zurückkehrte, klang fremd und hohl. Er musste den letzten Satz wiederholen, um ihn zu begreifen. "Ich werde sterben."
"Nicht heute nacht." Aus dem Schatten am Ende des Raumes, aus dem heraus die Dunkelheit zu fließen schien, trat ein Mann auf ihn zu. Mit ausgestrecktem Arm. Unfähig, sich zu rühren, spürte er die Waffe unerreichbar fern im Gürtel und starrte dem Mann entgegen.
"Ich habe Sie hereinkommen hören. Deshalb habe ich hier auf Sie gewartet." Nur noch zwei Meter entfernt. Seine Stimme hatte einen tiefen, warmen Klang. "Reden wir." Er bot ihm die ausgestreckte Hand an und deutete auf zwei Stühle: "Setzen wir uns."
Ich werde sterben. Aber nicht heute nacht.