Refugium - Die Feste. Teil I
Das Kreischen der Bestien ertönte in der Halle, und die Kinder lachten.
Liberio betrachtete seine Schützlinge, die auf weichen Fellen vor dem knisternden Feuer saßen, und alle Anspannung fiel von ihm ab. Sie lachten! Sogar Silvi, die kleinste von ihnen, die letztes Mal noch in ein tagelanges, angsterstarrtes Schweigen verfallen war. Doch an diesem Tag las Liberio in ihren Augen, dass die Angst sie nicht mehr unter Kontrolle hatte. Auch wenn sie wohl bis zu ihrem Tod bei ihr bleiben würde.
Das Mädchen saß mit im Halbkreis um Tejan, den ältesten der Jungen, und lauschte seinen Geschichten von Narren und Königen. Großartiger Bursche, dachte Liberio, fantasiereich und vertrauenerweckend. Und noch wesentlich mehr. Vielleicht würde er sie eines Tages zum Frieden führen.
Liberio sah sich in der Halle um, deren Wände von Abbildungen längst vergessener Schlachten verziert waren. Zufrieden sah er, dass jedes der Kinder seinen Platz gefunden hatte. Einige der kleinsten balgten mit Gav, seinem treuen Adjutanten, während die älteren von ihnen Setta beim Abdecken des Abendessens halfen oder Löcher in ihrer Kleidung stopften. Er beobachtete einen Moment lang die hübsche Jolanda und musste lächeln. Sie versuchte vergeblich, sich auf ihre Handarbeit zu konzentrieren, während ihr Blick doch dauernd zu Tejan wanderte.
Das Kreischen war verklungen. Die Kreaturen hatten wohl das Interesse verloren und waren weitergezogen. Liberio entschloss sich, noch einen Rundgang zu machen. Er öffnete die schwere Eichentür des inneren Turms. Eiskalter Wind blies ihm entgegen. Er beeilte sich, ins Freie zu kommen und schlug die schützende Tür hinter sich zu.
Der Tag wich bereits der Dunkelheit. Es würde eine eiskalte Nacht werden. Der alte Mann, dessen Bart mit den Jahren ebenso dünn geworden war wie sein Körper, zog seinen Mantel eng an sich. Er stapfte durch den kniehohen Schnee, der im Innenhof der Feste lag. Die Menschen der verängstigten Dörfer nannten sie verfallen, düster, sogar gottverlassen. Er stimmte ihnen zu. Und um nichts in der Welt würde er von hier fortgehen.
Er stapfte entlang der uralten Mauern, bis zu jenem Punkt, an dem sie sich in heilloses Geröll auflösten. Jahrhunderte der Vernachlässigung hatten tiefe Spuren an dem Gemäuer hinterlassen.
Da erblickte er eine der Bestien. Sie hatte keinen Laut von sich gegeben. Sie stand auf der anderen Seite der zerstörten Mauer, die vorderen ihrer sechs Augen starr auf ihn gerichtet. Der schwere Atem der haarlosen Kreatur schien an der Luft zu gefrieren, und sie zitterte vor Kälte. Ihrem Erschaffer lag nichts daran, seine Schöpfungen zu verhätscheln.
Liberio trat einen Schritt auf das sonderbare Wesen zu. Alles, was ihm von seinen langen Jahren in der Armee geblieben war, waren sein Mut und eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber dem Tod.
Nur noch drei Ellen trennten ihn von der wütenden Kreatur. Zähne, beeindruckend in Zahl und Größe.
Das klaffende Maul schoss auf ihn zu. Liberio rührte sich nicht. Eine Elle von seinem Gesicht entfernt zuckte die Bestie plötzlich zurück und heulte auf. Blut tropfte von ihrem Schädel. Verwirrt, ja beinahe beleidigt starrte die Kreatur auf die vermeintliche Lücke in der Mauer. Sie verstand nicht, wie ihre Beute zugleich so nah und dennoch unerreichbar sein konnte. Ihre vier Klauen ertasteten den unsichtbaren, undurchdringlichen Wall, von dem sie noch nicht wissen konnte, dass er die ganze Feste umgab.
Liberio drehte sich um und ging zum Turm zurück. Der Anblick eines einzigen der Wesen würde sicherlich genügen, um seine nächtlichen Albträume zu nähren. Er bemühte sich darum, nicht daran zu denken, was Kreaturen wie diese den Eltern seiner Schützlinge angetan hatten. Besser, die Gedanken auf die Lebenden zu richten. Nur ihre Listigkeit hatte es den Kindern erlaubt, sich versteckt zu halten, während ihre Väter und Mütter verzweifelt um Leben und Vieh gekämpft und beides verloren hatten. Liberio und seine Helfer fuhren unter Lebensgefahr durch das Land und lasen so viele der verlorenen, verstörten Kinder auf wie sie konnten.
Als das letzte Geheul der Bestie verstummt war, warf er noch einen Blick zum Bergfried hinauf. Die Kammer des Magischen war schwach erleuchtet. Liberio nickte in Richtung des Lichtes, ein stummer Gruß der Dankbarkeit zu dem, der die ewige Einsamkeit der fröhlichen Gesellschaft im großen Turm vorzog. Liberio hatte den Magischen nie gefragt, warum es ausgerechnet das Refugium war, dem er die unschätzbare Gabe seiner Kräfte geschenkt hatte. Er wusste nur, dass Gott diese Feste verlassen haben mochte, doch dass er es zusammen mit den anderen geschafft hatte, den Himmel hier näher heran zu bringen, als er es an irgendeinem anderen Ort in diesem Land, zu dieser Zeit war. Er öffnete die Tür des Turms und trat in das Licht, die Wärme und das Lachen.