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03.01.2001
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Reflektionen

Stunden vergehen wie Tage. Tage vergehen wie Wochen. Wie lange bin ich schon hier? Ich habe es vergessen. Waren es Monate? Oder gar Jahre? Die Zeit ist hier sehr dehnbar. Als befände ich mich am Rande einer riesigen Quantensingularität. Als würde jeder Teil meines Lebens mir langsam Stück für Stück entrissen und verschwände im Maul einer schrecklichen Bestie.
Ich fühle, wie die weißen Krankenhauswände immer näher rücken. Wie sich die Decke langsam auf mein Haupt herab senkt. Mir stockt der Atem. Und ich warte. Auch dieser Anfall geht vorbei, wie die letzten vor ihm. Ich schließe meine Augen und lausche meinem Inneren. Doch mir antwortet nur die Leere, die von mir vor Ewigkeiten Besitz ergriffen hat.

Aus regelmäßigen Freundenbesuchen wurden im Laufe der Zeit erst seltene, dann nur noch sporadische. Schließlich ebbten sie nahezu gänzlich ab. Ich bin hier gefangen, bin den Menschen, die mir am Herzen liegen, fremd geworden.

Jeder Tag vergeht wie der letzte. Nichts ändert sich. Ab und zu schaut eine Schwester herein und fragt, wie es mir geht. Dann schließt sich schon wieder die Tür und sie entflieht, fernen Pflichten in anderen Zimmern entgegen. Jeden Vormittag begegne ich der täglichen Visite mit aufkeimender Hoffnung, wartend auf eine gute Nachricht, auf ein Wunder. Doch die Hoffnung hält nicht lange an. Zu viel Sinnlosigkeit umgibt mich.
Im Zimmer gegenüber liegt ein Mann, sich noch von einer schweren Bypass-Operation erholend. Vorhin begegnete ich ihm draußen, auf der Terrasse vor der Station, eine Zigarette in der Hand und in vollen Zügen das ihm geschenkte Leben verdampfend. Ergibt das noch Sinn? Gestern brachten die Krankenträger einen Patienten, den ich noch von früher kannte. Er teilte lange Zeit mein Leid, lag Wochen auf der Station. Bis endlich der Bescheid von der zentralen Organbank kam, und eine neue Leber für ihn bereit stand. Gestern kam er wieder, zitternd und dem totalen Kollaps nah, gezeichnet von einer schweren Alkoholvergiftung. Die ihm vermachte Leber hätte einem Menschen das Leben retten können, dessen Organ von einer bösartigen Virus- oder Bandwurminfektion zerfressen worden war. Aber er stand nur auf Platz Zwei der Warteliste.
Dagegen erscheint mein eigenes Leid geradezu lächerlich. Mir der makabren Komponente dieser Einsicht bewusst, schöpfe ich neue Kraft.

Mit einem Klicken fällt die Tür hinter mir ins Schloss und ich atme die frische Abendluft. Schnellen Schrittes begebe ich mich zu meinem Auto, das mich nach Hause trägt, weit weg von der Not und dem Elend hinter mir. Doch es gibt kein Entrinnen. In wenigen Stunden beginnt meine neue Schicht... und die weiße Hölle hat mich zurück.

***
Daniel Polster: Reflektionen, 09/03

 

Hallo Visek.
meiner Ansicht nach funktioniert deine Geschichte (noch) nicht.
Ich witterte beim Lesen eine Pointengeschichte, nämlich dass der Leser erst in die Richtung gelenkt werden soll, dass der Protagonist Patient ist, er sich aber dann als Pfleger oder so herausstellt.
Für den Patienten sprechen:
Die scheinbar endlose Zeit des Wartens, dass besonders am Anfang statisch begründet zu sein scheint (Wachkoma etc)
Die abnehmenden Freundesbesuche
Das Gefühl, eingeengt, gefangen zu sein
Von Schwestern besucht zu werden

Dagegen willst du am Ende das Steuer herumreißen. Plötzlich hat dein Ich- Erzähler Einblick in andere Zimmer (keine Bettlägerigkeit mehr?), erzählt von anderen Patienten.
Doch am Schluss setzt er sich einfach in sein Auto und fährt weg, mit "bis zur nächsten Schicht" wird klar gemacht, dass er irgendwie zum Pflegepersonal gehört.

Das funktioniert mE so noch überhaupt nicht, ich rate dir zur inhaltlichen Überarbeitung.
Entweder, er ist Patient, dann kann er nach den "Ewigkeiten" nicht einfach weg. Oder er ist Pfleger, warum sollte er dann Besuch kriegen.
Stilistisch in Ordnung, wenn auch manchmal etwas übertrieben ( "Anfall", "die von mir vor Ewigkeiten Besitz ergriffen hat", "weiße Hölle" ) wirkend.

Grüße,
...para

 

Danke für die Hinweise. Werde den Text wohl tatsächlich noch ein wenig überarbeiten müssen.

Vor allem muss ich deutlicher herausstellen, dass das Ganze nicht aus Sicht eines Pflegers, sondern aus der Sicht des Arztes geschrieben ist. Dann ergibt auch vieles mehr Sinn, wie zum Beispiel das eigene Zimmer, die Fragen der Schwestern, die langen Schichten von früh bis abends und das stark beschränkte Privatleben.

Viele Grüße, Daniel

 

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