Rechtsdrehend
Schon im Moment des Aufwachens lief der rastlose und quicklebendige Verstand des Horst Dreher auf Hochtouren. Schonungslos offen und kritisch analysierte er die wesentlichen Herausforderungen des Tages.
Es war an der Zeit Joghurt einzukaufen, das wurde ihm schnell klar. Natürlich konnte man nicht einfach irgendeinen Joghurt einkaufen. Er war ja nicht „Otto Normalverbraucher“, der mit einem IQ von 85 (geröstetes Weißbrot hat 77) blindlings durch die Gänge eines beliebigen Supermarktes irrte und wahllos zu einem Nahrungsmittel geringer Güte greift.
Einfach gedacht, wäre ein Joghurt mit rechtsdrehender Milchsäure natürlich naheliegend. Eine bessere Verdauung, schönere Haut, besseres Aussehen und mehr Glück in der Liebe waren die logischen Folgen seines Genusses. Doch Horst Drehers wacher Geist misstraute den platten Werbebotschaften.
Könnte man doch vielleicht mit linksdrehenden Milchsäuren noch bessere Erfolge erzielen? Gibt es unter Umständen ein geldgieriges Machtkartell von umsatzgeilen Industriellen, korrupten Bürokraten und mit billigen Drogen bezahlten Werbern, die künstlich einen Markt für rechtsdrehende Milchsäuren aufrecht erhalten? Man kannte das ja zur Genüge. Diese zwielichtigen Gestalten, die mit einer Vielzahl bunter Armbänder in zwielichtigen Vergnügungsstätten „die Sau raus lassen“ und Horst Dreher sollte die Zeche bezahlen! Damit war ein für alle Mal Schluss!
Es würde ihn ja überhaupt nicht wundern, wenn der feine Herr Wulff schon manch vergnüglichen Urlaubstag mit seiner blutjungen Gattin am Pool der Finka eines Joghurtbarons verbracht hatte, während sich die Milchsäuren unter Kunstlicht in billigen und schlecht beheizten Discounterketten stumpf immer weiter drehten.
Er vermutete, dass wenn man die Sache exakt analysierte und Experten zu Rate zieht, es wohl darauf hinaus laufen würde, dass nur Joghurts mit freilaufenden Milchsäuren wirklich gesund sind. Konnte die Welt solche Wahrheiten jetzt schon vertragen? Wäre er in Gefahr, wenn er schon jetzt in die Öffentlichkeit geht? Sicher wurde er bereits jetzt vom Verfassungsschutz beobachtet.
Mit einem verschmitzten Lächeln dachte er, dass am Ende des ganzen Verdauungsprozesses alle Milchsäuren sich in seinem Wasserklosett „Taifun“ ohnehin nach links drehen mussten. Er verdrängte diesen närrischen Gedanken sofort. Die Sache war zu wichtig, um sie ins Lächerliche zu ziehen. Vielleicht war er einem Kartell auf der Spur, das klassische Strukturen wie die der Cosa Nostra locker in den Schatten stellte.
Die Analyse machte ihn müde. Will er die Welt ein wenig verbessern, musste er das ausgeruht tun, Fehler konnte er sich in einem solch kriminellen Umfeld nicht leisten. Er beschloss, sich noch für zwei Stunden dem Schlaf hinzugeben.
Er hatte noch Zeit. Die Chefarztvisite kam erst gegen 10.00 Uhr.