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Rechtfertigung des Wahnsinns

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04.06.2017
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Rechtfertigung des Wahnsinns

Kapitel 1

Es war Sonntag Abend. Doktor Heinrichs verbrachte ihn damit, gemeinsam mit einer schönen, jungen Frau im besten Restaurant der Stadt zu essen. Es war ganz klein und sie saßen an einem kleinen, runden Tisch aus sehr dunklem Holz, bedeckt mit zwei rötlich weißen Servierten, auf denen sich jeweils eine silberne Gabel und ein silbernes Messer befanden. Die Kerzen, die sich in der Mitte jedes Tisches befanden, erzeugten in Kombination mit dem sehr alten Kronleuchter aus schwarzem Metall raffiniert ein charmantes, dunkles Licht, welches die Gäste wohl glücklich, sinnlich, romantisch stimmen sollte. Der Kellner in einem schwarzen Anzug brachte die Speisenkarten und nahm die Getränkewünsche auf. Die Frau bestellte alkoholfreie Ingwer-Limonade, Heinrichs bestellte Whiskey auf Eis. Heinrichs tat eine Weile so, als würde er die Karte lesen und noch nicht wissen, was er essen wollte. Dabei bestellte er immer das irische Flankensteak. Während er gebannt sein Steak auf dem großen, alten Schwenkgrill aus Backstein betrachtete, welcher neben seinem Stammtisch in der Mitte des ganz kleinen Restaurants stand und sozusagen das Markenzeichen des Hauses war, fragte er sich, warum er jedes mal jenes irische Flankensteak bestellte. Gewiss konnte man Steak als sein Lieblingsessen bezeichnen, jedoch hielt er sich selbst immer für einen Menschen, der Abwechslung braucht. Immer wieder beschwerte er sich darüber, wie sehr es ihn nervte, als Arzt so einen routinierten Alltag zu haben. Und doch saß er nun wieder hier im selben Restaurant, am selben Tisch, am selben Wochentag, zur selben Uhrzeit, mit dem selben Essen. Nur die Frau war wie jedes mal eine andere, was jedoch ebenso eine Beständigkeit darstellte. Als Heinrichs zahlte, war sie schon gegangen. Das war neu, aber nur die logische Konsequenz daraus, dass er sie den ganzen Abend lang kaum beachtet hatte.

Er stieg in sein neues, sehr teures Auto und fuhr allein zu seinem Haus, in welchem er allein wohnte, obwohl er es nicht mochte, allein zu sein. Er hasste es regelrecht. Als er sein Auto geparkt hatte und gerade die dunkle, mächtige Tür mit seinem Schlüssel öffnen wollte, kam ihm sein Nachbar entgegen. Sie grüßten sich mit den Worten „Guten Abend“ und einem Händedruck. Freundlich fragte Heinrichs, was Gabriel an diesem Abend wohl getan hatte, welcher erwiderte, dass er mit seiner Frau im Restaurant um die Ecke gegessen hätte. Auch wenn man ihm manchmal ansehen konnte, dass er mit dem, was er an materiellem Besitz und beruflicher Verantwortung in seiner Firma hatte, nicht sehr zufrieden war, es war auch nicht sehr nennenswert, so hatte Gabriel doch die meiste Zeit ein Lächeln im Gesicht. Schließlich ging Heinrichs allein in sein Haus. Zuerst zog er seine Anzug-Schuhe aus und stellte sie in die Garderobe auf der linken Seite des langen Flurs. Von innen war das Haus sehr modern gestaltet, die Wände waren weiß, die LED-Lampen an der Decke beleuchteten jeden Raum trocken, schlicht, alle Möbel passten perfekt in das moderne, minimalistische Ambiente. Heinrichs Haus sah von innen aus wie eines dieser Häuser aus Magazinen für Innenarchitektur: Alles war so ordentlich, so unversehrt, dass man gar nicht vermutete, dass dort jemand lebte. Gerade als er in sein Schlafzimmer gehen wollte, rief Michael an. Heinrichs zögerte kurz, nahm jedoch nicht ab: Er wollte nur noch schlafen. Sein Jacket hatte er bereits in die Garderobe gehängt, den Rest seiner Sachen warf er vor seinem leeren Doppelbett auf den Boden und schlief ein.
6:30 Uhr. Auf Heinrichs Handy klingelte der Wecker am Montag Morgen. Das Handy befand sich auf einem sonst leeren, hellen Holztisch, welcher drei Meter entfernt vom Bett am Fenster stand. Die Jalousien waren schmaler als die Fenster, sodass der ein oder andere Lichtstrahl das Zimmer schon etwas erhellte. Heinrichs trat über das zerknitterte Hemd und die zerknitterte Anzug-Hose am Fuße seines Bettes, ging entlang des Kleiderschrankes den gewohnten Bogen zum Handy, stellte den grässlichen Lärm aus und zog die Jalousien nach oben. Er betrachtete seinen Garten. Die links und rechts aufgereihten Laubbäume, die ihr Laub schon größtenteils verloren hatten, es war Herbst, die große Rasenfläche in der Mitte und der alte Steingrill gleich hinter der Terrasse, die in den Garten überging, wurden angestrahlt von einem kalten Licht. Die Sonne schien nicht, der Himmel war bedeckt von grauen Wolken. Noch vor einiger Zeit im Sommer verwandelten das warme, direkte Sonnenlicht und der hellblaue Himmel den Garten in ein regelrechtes Paradies. Jetzt sah es immer so aus als würde es gleich anfangen zu regnen, doch es regnete fast nie.

Nach dem Frühstück fuhr Heinrichs über die Autobahn zum Krankenhaus. Jeden Morgen gab es Stau, sodass er immer etwas zu spät zu seiner Schicht kam. Doktor Böhme hatte ihm schon oft empfohlen, über die Dörfer zu fahren, jedoch hatte er sich wie alle Kollegen damit abgefunden, dass Heinrichs dies nicht tat. Das Wetter war hier natürlich das gleiche, das Krankenhaus wirkte von außen wie von innen unpersönlich steril - so wie Heinrichs Haus.
Schichtbeginn. Eine Person, die zuvor einen schweren Autounfall erlitten hatte, wurde eingeliefert. Sie hatte schwere innere Blutungen und musste sofort notoperiert werden. Heinrichs schnitt in die Kehle und setzte einen Schlauch zur künstlichen Beatmung in die Luftröhre ein. Der Patient hatte durch akuten Blutverlust einen lebensgefährlichen Schock erlitten. Weiteres Blut trat aus dem rechten Bein aus. Die Blutung musste gestoppt werden, jedoch befand sich die Verletzung in der Leistenregion. Der Mangel an Blut übte einen starken Druck auf umliegendes Gewebe aus und bedrohte hauptsächlich den Dickdarm, aber auch den Dünndarm. Hirnblutungen gab es nicht. „Amputieren Sie das Bein, Heinrichs!“, befahl der alte Doktor Aichinger. Er war es, der Heinrichs damals ins Boot geholt und selbst ausgebildet hatte, was eine große Besonderheit war, man konnte sagen, dass Aichinger derjenige war, der in diesem Krankenhaus am meisten zu sagen hatte. Eine Koryphäe mit einer beispiellosen Karriere und einer extraordinären Erfolgsquote. Noch nie in seinen 30 Jahren als Arzt hatte er während einer Operation einen Patienten verloren. Seine Strategie hierfür war denkbar einfach: Er operierte nie, wenn es zu riskant war. Oberste Priorität hatte immer seine Statistik, die ihn hoch ironischer Weise zu einem hoch angesehenen Arzt machte. So kam es, dass er Heinrichs aufforderte, das Bein zu amputieren, um das Leben des Patienten nicht zu gefährden. Weiterhin sprach er: „Heinrichs, wenn sie es nicht tun und der Patient stirbt Ihnen weg, auch wenn es unwahrscheinlich sein mag, dann ist ihre Karriere ruiniert.“ Heinrichs tat es nicht, entschied sich gegen eine Amputation. Die Operation glückte und der Patient konnte mit seinem rechten Bein überleben.
Eingriffe wie diese, die ihm immer zu gelingen schienen, hoben den jungen Heinrichs von der breiten Masse ab und führten dazu, dass viele seiner Kollegen ihn für einen brillanten Arzt hielten. Aichinger versuchte zwar stets als „Mentor“, wie er sich selbst immer wieder bezeichnete, ihm das ständige Spiel mit dem Feuer abzugewöhnen, jedoch machte Heinrichs Bereitschaft, hohe Risiken einzugehen, einen nicht unerheblichen Teil seines Potentials aus, und war somit auch ein Grund dafür, dass Aichinger ihn angestellt und ausgebildet hatte. Mit gerade einmal 25 Jahren befand Heinrichs sich nun bereits in einer leitenden Position.
Nach dem Eingriff besuchte er seinen Patienten Marius Müller. Müller war erst 24 Jahre alt und hatte Lungenkrebs. Er würde höchstwahrscheinlich in den nächsten Monaten sterben. Er war starker Raucher und hatte sich seine Krankheit dementsprechend größtenteils selbst zuzuschreiben, trotzdem waren Schicksale wie seines nie leicht zu verarbeiten. Während Heinrichs Besuch in Müllers Patientenzimmer stellte Müller eine Frage, die den Grund dafür auf den Punkt genau offenlegte. Er fragte nämlich: „Gibt es wirklich keine Möglichkeit mehr, mich zu retten?“ Heinrichs entgegnete: „Jetzt in diesem Moment weilen Sie noch unter den Lebenden. Das heißt, es muss auch eine Möglichkeit geben, Sie zu retten. Und es wurden auch schon Hunderte mit genau Ihrem Krankheitsbild gerettet. Aber durch Zufall. Wollen Sie wissen, was diesen Laden hier so grotesk macht? Der Zufall. Ihr Leben hängt genau wie das aller anderen hier von Zufallsgrößen ab. Und noch grotesker als diese Tatsache ist die Willkür, mit der diese Zufallsgrößen festgelegt werden. Sie stammen aus Statistiken, die alle völlig verfälscht sind. Und wieso sind sie verfälscht? Stellen Sie sich einen Patienten vor, der schwer krank ist und sofort operiert werden muss, sonst stirbt er garantiert. Nehmen wir mal an, dass die Wahrscheinlichkeit für den Patienten, die Operation zu überleben, von der Statistik auf 10% geschätzt wird. Würde sein Arzt also operieren, so würde mit einer Wahrscheinlichkeit von 90% seine Erfolgsquote sinken, was ihn heutzutage seine Karriere kosten könnte. Was tut sein Arzt also? Er behandelt ihn mit Medikamenten, von denen er weiß, dass sie wahrscheinlich nicht wirken werden. Der Patient stirbt schließlich und die statistische Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit dem selben Krankheitsbild überleben wird, sinkt auf 9%. Niemand hinterfragt diese allgemein anerkannten Bilder der Wirklichkeit, niemanden interessiert die Willkür dahinter, diese naiven, falschen Vereinfachungen. Und deshalb sehen alle falsch. Aber ich schweife ab. Verlassen Sie sich nicht zu sehr auf die, die Ihnen sagen, Sie hätten keine Chance mehr, denn nur die wenigsten verstehen auch wirklich etwas von dem, was sie da behaupten. Vielleicht passiert ein Wunder, hoffen Sie darauf.“
Früher hätte Heinrichs nie einen Patienten aufgegeben. Er hätte immer obsessiv nach Möglichkeiten gesucht, ihn zu retten, hätte bis zu dessen Tod nicht aufgegeben und sich, wenn es zu spät war, für jeden seiner Fehler während der Behandlung große Vorwürfe gemacht. Aber die Zeit hatte ihn abstumpfen lassen und zu einem Schauspieler gemacht, der seinen Patienten die Anteilnahme nur noch vorspielte, um sich selbst zu schützen. Er war wohl erwachsen geworden. Müller starb später an jenem Montag, was unerwartet war.

Es war Abend geworden und Heinrichs traf sich mit seinem besten Freund Michael in einer kleinen, schäbigen Bar. Nebeneinander saßen sie auf billigen, unbequemen Hockern vor dem dreckigen, verstaubten Tresen. Die Wände bestanden aus dunklen, rissigen Backsteinen und von der Decke herunter hing eine Glühlampe an einem schwarzen Kabel, die ein leicht flackerndes, nervöses Licht erzeugte, welches kaum in der Lage war, den Raum in einer angemessenen Weise zu beleuchten.
Heinrichs fühlte sich hier wohl. Michael war Handwerker. Er war sehr intelligent und verabscheute den Kapitalismus. Er war der Überzeugung, allein durch den Besitz von Geld füge man Menschen Leid zu. Denn was auf der einen Seite vorhanden sei, das fehle bekanntlich auf der anderen. Deshalb hatte er nicht viel Geld und keinen Job, der es einem ermöglichte, viel Geld zu verdienen. Seine Ansichten widersprachen in vielerlei Hinsicht denen der Allgemeinheit, aber das war ihm egal. Es war sogar mehr als das, man könnte sogar behaupten, dass es sein Antrieb war. Das bewunderte Heinrichs an ihm.
„Was ist mit Müller?“, fragte Michael. „Tot.“, entgegnete Heinrichs. „Wann ist er denn“, begann Michael zu fragen. „Heute“, unterbrach Heinrichs. Michael sah ihn an. Heinrichs bemerkte dies nicht wirklich, er starrte eine Weile gedankenleer auf das Schild am Ende des Raumes neben den Toiletten mit der Aufschrift „Wir haben kein W-lan. Unterhaltet euch!“. „Ist Dir das egal?“, fragte Michael. „Nein.“, erwiderte Heinrichs ganz trocken, was soviel hieß wie „Ja.“. Michael konnte das nicht verstehen. Sie unterhielten sich noch eine Weile über Heinrichs neue Abgestumpftheit. Es sprach dabei eigentlich nur Michael, während Heinrichs seinen Whiskey trank und zuhörte, obwohl es nicht so aussah, und ihm für den Versuch der Analyse seiner Gedanken in gewisser Weise dankbar war, obwohl er nichts sagte. Dann lächelte Heinrichs, verabschiedete sich, ging und ließ Michael allein in der dunklen, kalten Bar sitzen.

Kapitel 2

6:30 Uhr, Dienstag Morgen. Das Handy lag wieder auf dem hellen Holztisch, drei Meter entfernt vom Bett und stieß diese entsetzliche Tonfolge aus. Heinrichs trat über die Hemden und Hosen der vorherigen zwei Tage, die sich am Fuße des Betts befanden, ging entlang des Kleiderschranks den gewohnten Bogen zum Tisch, stellte den Wecker ab, zog die Jalousien hoch, betrachtete den Garten, öffnete den Kleiderschrank und starrte auf das Innere. Viele enge, edle Hemden in schlichten Farben an breiten Bügeln aus Holz auf der linken Seite, viele enge, edle Anzug-Hosen in schwarz und dunkelblau auf der rechten Seite. Dazwischen wenige Jeans, wenige Pullover und sehr wenige T-Shirts.
Heinrichs fuhr wie gewohnt über die Autobahn zum Krankenhaus. Es war an diesem Morgen sehr windig, Straßen und Wege waren bedeckt von Laub. Die im Wind tanzenden Blätter und die laubbedeckten Wege hätten im richtigen Licht eine sehr schöne Atmosphäre erzeugen können. Jedoch tanzten die Blätter nicht im Wind, sie wurden viel eher hastig und rücksichtslos von den Bäumen gerissen, die grauen Wolken am Himmel nahmen dem Sonnenlicht die Wärme, das Laub auf den Wegen war nass, zermatscht und zertreten.

Heinrichs fand Böhme in einem begehbaren Schrank auf dem Boden liegend, weinend vor. Doktor Böhme war zehn Jahre älter als Heinrichs und hatte anscheinend immer noch keinen Weg gefunden, mit dem Schmerz, der hier allgegenwärtig war, umzugehen. Heinrichs holte die Handschuhe, die er benötigte, aus dem Schrank, sagte nichts und schloss die Tür. Böhme war ohnehin kein sehr guter Arzt, wahrscheinlich hatte er wieder eine falsche Entscheidung getroffen und damit jemanden ins Jenseits befördert. Heinrichs war sich sicher, dass Böhme als Arzt nicht mehr lange durchhalten würde.
Gemeinsam mit ein paar Assistenzärzten führte Heinrichs anschließend Visiten bei diversen Patienten durch. Der erste hatte ein geschwollenes Gesicht mit verdickten Lippen, eine vergrößerte Zunge, Schwellungen um die Augenhöhle und eine heisere Stimme, was auf eine Schilddrüsen-Unterfunktion schließen ließ. „Jeder von euch muss in seinem Kopf eine Datenbank einrichten, in der ganz viele Symptome und die möglichen Krankheiten, auf die sie hinweisen, aufgelistet ist. So funktioniert Diagnostik. Es geht nicht um Intelligenz, es geht nicht um Kreativität, es geht allein um Wissen.“ Während Heinrichs diese Worte zu den jungen Assistenzärzten sprach, von denen im Übrigen einige noch jünger waren als er selbst, dachte er über deren Bedeutung nach. Im Prinzip wäre der beste Diagnostiker ein einfaches Computerprogramm. Es wäre sogar der beste Arzt ein einfaches Computerprogramm.
Aichinger unterbrach die Visite, indem er Heinrichs mitteilte, dass man ihn sofort brauchte. Es blieb Heinrichs keine Zeit, nach dem genauen Grund zu fragen, es musste aber ein Notfall von höchster Dringlichkeit gewesen sein. Aichinger und Heinrichs liefen so schnell sie konnten durch die Flure, an der Krebsstation vorbei zum Operationssaal. Er hatte einen quadratischen Schnitt, entlang der Wände fanden sich diverse Wägen mit Operationswerkzeug vor, es gab zwei Waschbecken und eine Liege in er Mitte des Raumes, auf welcher eine Frau lag. Einer der vier Assistenzärzte, die bereits um die Liege verteilt standen und auf Aichinger und Heinrichs warteten, schilderte aufgeregt die Situation: „Eine Frau fand sie ohnmächtig auf der Straße, sie führte keinen Ausweis oder ähnliches mit sich, sie ist auf den Hinterkopf gefallen und hat wahrscheinlich Hirnblutungen.“.
Diesmal operierte Aichinger, während Heinrichs assistierte. Die Operation glückte.

Einige Stunden später wachte die Patientin in einem Einzelzimmer auf. Vor ihr stand Heinrichs, der sich gespannt ihre ersten Worte anhörte, welche lauteten: „Wo bin ich?“. „Sie haben einen schweren Sturz erlitten und sind in einem Krankenhaus. Wissen Sie, wie Sie heißen?“ Höchstwahrscheinlich litt sie nach den schweren Hirnblutungen unter starker, temporärer Amnesie. Und tatsächlich: Sie konnte sich an nichts mehr erinnern. „Sie haben wohl einen Gedächtnisverlust erlitten. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wir kriegen Sie schon wieder hin. Ihr Name lautet übrigens Anna Wagner. So steht es jedenfalls in Ihrem Ausweis.“, sagte Heinrichs mit beruhigender Stimme und einem Lächeln in seinem Gesicht. Er blieb eine Weile in dem schlichten, sauberen Zimmer, welches eines der größeren Einzelzimmer war, und erklärte ihr, dass sie ihr Gedächtnis höchstwahrscheinlich in einer gewissen Zeit wiedererlangen würde, dass dies jedoch nicht garantiert sei und dass es außerdem noch unklar wäre, wie lange es dauern würde, bis ihre Erinnerungen zurückkehrten. Anschließend musste Heinrichs gehen und verabschiedete sich höflich mit der Entschuldigung, er müsse nun einen Patienten operieren.
Schließlich hinterließ er sie allein in dem großen, leeren, stillen Zimmer. Gegenüber ihres Betts hing ein kleiner Fernseher, den sie allerdings nicht anstellte. Sie dachte nach. Sie wusste nicht, ob im Moment jemand nach ihr suchen würde, sie wusste nicht, ob sie eine Familie, einen Freund oder einen Mann hatte, sie wusste nicht, ob sie einen Job hatte, sie wusste nicht einmal genau, wie alt sie war, oder ob Anna Wagner ihr richtiger Name war.

Es wurde Abend. Als Heinrichs zu Hause angekommen war, beschloss er, die zerknitterten Klamotten, welche sich vor seinem Bett angesammelt hatten, zu beseitigen. Anschließend ging er in durch den langen Flur in das Wohnzimmer und setzte sich an das Klavier. Es war von Yamaha, Hochglanz schwarz und schlicht. Bis er in sein Bett stieg und einschlief spielte er verschiedene Improvisationen.

Mittwoch, 6:30 Uhr. Der Wecker klingelte. Heinrichs stand auf, ging den gewohnten Bogen zum hellen Holztisch, nahm das Handy, stellte den Wecker aus und zog die Jalousien hoch. Die Sonne schien zu scheinen, was für Heinrichs Wohnort zu jener Zeit ungewöhnlich war.

Heinrichs fuhr über die Autobahn zum Krankenhaus und kam wie üblich zu spät. Er führte mit den Assistenzärzten die Visite durch und begab sich anschließend in das Zimmer von Anna Wagner. Sie lag in ihrem Bett und sah aus, als hätte sie in der letzten Nacht nur wenig geschlafen. Ihr Hinterkopf war bandagiert, da er die Aufprallstelle bei ihrem Sturz war. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie verängstigt war und sich in jenem Moment wohl mehr jemanden wünschte, der ihr helfen würde ihre Erinnerungen wiederherzustellen, als ihr Gedächtnis völlig in Takt wieder zu haben, was auf Heinrichs auf irgendeine undefinierbare Art sympathisch wirkte. Sie war genau so alt wie er.
Heinrichs, der auf dem Gebiet der Behandlung eines Gedächtnisverlusts wenig Erfahrung hatte, begann damit, ihr ein paar Fragen wie „Wie viele Beine hat eine Spinne?“, oder „Wie heißt unser Bundespräsident?“ zu stellen. Diese trivialen Fragen konnte sie alle richtig beantworten, es war also sehr wahrscheinlich, dass sie sich doch noch zu gewissen Teilen an bestimmte Ereignisse in ihrem Leben erinnern konnte.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sie auf eine dieser Erinnerungen wieder zugreifen konnte, dann erzählte sie von einem ihrer Kindergeburtstage. Sie erzählte von albernen Kinderspielchen und ihrem Hund, der sie beim Eierlauf umwarf und sie damit den Sieg kostete. Dabei musste sie lachen. Es gab für sie in diesem Moment nur eine Erinnerung, eine glückliche, und jegliche Niederlagen, Sorgen, Dämonen waren, obwohl sie existent waren, für sie nicht existent.
Heinrichs erzählte ihr auch ein paar Kindheitsgeschichten und als sie müde von der Unterhaltung waren, waren schon Stunden vergangen und es war Abend geworden.

Donnerstag. 6:30 Uhr. Die Wecker-App auf dem Handy, welches sich diesen Morgen auf der Fensterbank befand, klingelte. Heinrichs stand auf, ging den geraden Weg vom Bett zur Fensterbank, stellte den Wecker aus, zog die Jalousien hoch. Die große Rasenfläche in der Mitte des Gartens war mit matschigem Laub bedeckt und die Bäume waren so gut wie kahl. Aber der Garten sah an diesem Morgen trotzdem so schön aus wie seit langem nicht mehr, Heinrichs Theorie schien wohl zu stimmen: Das warme, nicht von grauen Wolken am Himmel abgefangene Sonnenlicht verwandelte den eintönigen, kühlen Bereich in eine bunte, idyllische, in gewisser Weise hoffnungsvolle Landschaft.
Im Krankenhaus leitete Heinrichs eine vierstündige, sehr komplexe Lungentransplantation. Es gelang ihm, dabei keinen kritischen Fehler zu machen, was durchaus eine beachtliche Leistung war, sodass die Operation glückte.

Heinrichs suchte das Zimmer von Anna auf. Ihre Mutter, die bereits am Dienstag kontaktiert worden war und folglich unverzüglich mit dem Flugzeug angereist war, hatte sie am Morgen dieses Donnerstags zum ersten Mal besucht. Sie war mehrere Stunden bei ihr geblieben und hatte ihr unter anderem erzählt, dass Anna Journalistin war und allein in einer kleinen Wohnung in der Innenstadt lebte.
Nach ihrem Besuch hatte die Mutter Annas Wohnung aufgesucht, um weder in ein Hotel ziehen zu müssen, noch nach einer so kurzen Zeit gleich wieder den Rückweg antreten zu müssen. Außerdem konnte sie Anna in den nächsten paar Tagen wahrscheinlich eine große Hilfe sein. Denn sie würde am nächsten Morgen entlassen werden, wie Heinrichs ihr mitteilte. Ihre kognitiven Fähigkeiten waren uneingeschränkt funktionstüchtig und auch sonst bestand kein Risiko einer erneuten Hirnblutung.
In einem weiteren langen Gespräch erklärte Heinrichs, dass sie sich erst wieder langsam an ihren Alltag gewöhnen müsse und sich keines Falls zu früh zu viel Arbeit zumuten dürfe. Sie sollte ihrer Mutter, solange sie bei ihr war, so viele Fragen, wie möglich stellen, das könnte ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, sich laufend an mehr und mehr Dinge zu erinnern. Schließlich gab er ihr seine private Handy-Nummer, auf der sie ihn jeder Zeit und bei jeglichen Fragen erreichen könnte, wie er ihr freundlich mitteilte. Dann warf er ein letztes Mal in diesem Krankenhausbett einen längeren kurzen Blick auf sie und verschwand.

Kapitel 3

An jenem Abend traf sich Heinrichs wieder mit Michael in der dunklen, alten Bar. Er erzählte von der Amnesie-Patientin ohne dabei ihren Namen zu erwähnen, was eigentlich nicht seine Art war. Sie hatte bei ihrer Einlieferung lediglich eine Verletzung am Hinterkopf, was es relativ wahrscheinlich machte, dass sie ohne äußere Einwirkungen einfach gefallen war. Michael konnte dies nur bestätigen. An diesem Abend war es aber Heinrichs, der wie ununterbrochen redete, über mögliche Hergänge ihres Unfalls spekulierte, gleichzeitig Detektiv und auch Psychologe war, obwohl seine Partizipation, sein Mitwirken an jenem Fall als Arzt schon beendet war. Er vergaß bei all seinem Gerede sogar das Trinken.
Der Abend wurde beendet, als Michael sich mit der Entschuldigung, er wäre sowieso schon länger geblieben als eigentlich geplant und könne aufgrund eines wichtigen Termins am nächsten Morgen nun nicht noch länger bleiben, verabschiedete.

6:30 Uhr, Freitag Morgen. Heinrichs stand auf, ging den gewohnten Bogen zum hellen Holztisch, wollte den Wecker ausschalten, aber das Handy rutschte ihm aus der Hand. Im zweiten Versuch gelang ihm sein Vorhaben, woraufhin er die Jalousien nach oben zog und auf den Garten schaute. Die aufgehende Sonne schien ungewöhnlich hell und erleuchtete den Bereich wieder zu einer warmen, geborgenen Landschaft. Es war an jenem Morgen sehr stürmisch und der Wind trug viele Verästelungen von den Bäumen ab und aus dem Garten hinaus.
Heinrichs vergaß zu frühstücken und fuhr zum Krankenhaus. Er führte die Visiten durch und schaute danach gemeinsam mit Böhme nach einem besonderen Patienten. Er wies Symptome wie geschwollene Augen, Schüttelfrost, Juckreize an diversen verschiedenen Körperstellen und starke Rückenschmerzen vor. Niemand war in der Lage gewesen, die Krankheit des besonderen Patienten zu diagnostizieren, jeder (auch Heinrichs) hatte ihn schon aufgegeben und so wusste sich Böhme nur damit zu helfen, ihm bezüglich seines Gemütszustands Löcher in den Bauch zu fragen. Heinrichs wusste, dass Böhmes Konzept nicht sehr vielversprechend war, beteiligte sich deshalb nicht am Gespräch, dachte noch einmal kurz über die Symptome nach, versuchte vergeblich, sie so mit einander zu kombinieren, dass sie auf mehrere Krankheiten, die sich gegenseitig beeinflussten, hindeuteten und starrte dabei aus dem Fenster.
Es war immer noch stürmisch draußen, Äste wurden herumgeschleudert, Bäume krümmten sich im Wind, wirkten wie Bergsteiger, die an mit nur einer Hand an einer Klippe hingen und mit allen Mitteln versuchten, nicht zu fallen. Graue Wolken hatten sich gebildet und gestalteten den motivierenden blauen Himmel mit erhellendem Sonnenlicht zu einem ungerührten, glanzlosen Beleuchtungskörper. Der Rest des Arbeitstages war wie ereignislos. Heinrichs beendete seine Schicht an diesem Tag pünktlich und fuhr zurück zu seinem leeren Haus.

Im Eingangsflur angekommen zog er seinen Mantel aus, hing ihn in die sich links befindende große Garderobe, ging in das Wohnzimmer, zog das Handy aus seiner Hosentasche, legte es auf das Klavier und begann zu spielen. Je länger er spielte, desto facettenreicher wurden seine Improvisationen und desto energiegeladener schlug Heinrichs auf die Tasten ein. Es klang aufgebracht, stürmisch, machmal expressionistisch, verrückt, aber durchgängig gut und auf eine gewisse Art kontrastierte und entlarvte es das, was die restliche Einrichtung des Hauses zu suggerieren schien.
Heinrichs unterbrach sein Spiel als das Handy vibrierte. Er nahm es auf, fast rutschte es ihm ein weiteres mal aus der Hand, und betrachtete den Sperrbildschirm mit der aufgeschriebenen Nachricht:„Hi! Meine Mutter ist gerade zur Tür raus und ich weiß zwar wieder, wer vor meinem Unfall meine Freunde gewesen sein sollen und was ich gemacht haben soll. Aber. Naja... Die Wahrheit ist, ich kenne die nicht mehr und ich kenne mich nicht mehr. Die Person, über die ich wohl im Moment am meisten weiß, sind Sie... Bist Du. Ich bräuchte jemanden zum Reden und wüsste sonst keinen. Und ich sollte mich ja in einer solchen Situation melden. LG Anna Wagner“. Heinrichs fragte nach ihrer Adresse und fuhr mit seinem Auto dort hin. Als er klingelte und sie die Tür aufmachte, war zu erkennen, dass sie sich sehr freute. Nachdem sie sich zögerlich mit einem Händedruck begrüßt hatten, begleitete sie ihn in ihr Wohnzimmer und bereitete alkoholfreie Getränke und etwas kleines zu essen vor.
Die Wohnung war sehr klein. Ein paar der Wände waren weiß, die anderen hellgrün gestrichen, aus der Decke hingen silberne Energiesparlampen von Ikea, welche ein relativ dunkles, gelbes Licht auf den Raum warfen. Obwohl sich in jeder Ecke viel Krimskrams lag, mit dem sie wahrscheinlich überhaupt nichts anfangen konnte, wirkte es einiger Maßen aufgeräumt. Die Gläser, die sie servierte, hatten oben einen bunten Rand.

„Es ist, als hätte ich alles, was ich über mich weiß, aus einem schlechten Buch erfahren.“, begann sie plötzlich zu reden. Heinrichs war sich nicht sicher, ob er verstand, weshalb er nachfragte, wie sie dies meinte. „Erstmal ist alles, was ich über mich weiß, sehr wenig. Ich weiß so viel nicht, das ich wissen müsste, um mich selbst, um meine Situation zu verstehen. Denn weiterhin macht so vieles von dem wenigen, was ich über mich weiß, so wenig Sinn. Zum Beispiel kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass der Beruf Journalistin zu mir passt. Oder... Ach, es ist eben wie in einem schlechten Buch: Man erfährt nicht das, was man eigentlich wissen will und... Die ganze Geschichte ergibt keinen Sinn. Verstehst du?“. Etwas an ihr beeindruckte Heinrichs, auch wenn er nicht genau wusste, was. War es die Art, wie sie sich mit ihrer Situation auseinandersetzte, waren es ihre Stimme und ihr Gesicht, welche so einen einzigartigen Ausdruck an sich hatten, oder war es die Tatsache, dass er nicht verstand, warum er so beeindruckt war? Er antwortete auffällig spät mit den Worten „Nun, ich glaube, dass es jeder ab und zu gut gebrauchen könnte, sein Leben von außen wie ein Buch zu betrachten. Und, dass es nur ganz wenige gibt, deren Geschichten dann am Ende kein schlechtes Buch darstellen würden.“ Obwohl Heinrichs mit den von ihm gewählten Worten nicht zufrieden war, sie hatten nicht das ausdrücken können, was er hatte sagen wollen, lächelte sie wie hoffnungsvoll.
Sie unterhielten sich noch eine lange Zeit weiter, bis Anna ihren Kopf auf Heinrichs Schulter lehnte. Es schwiegen beide und warteten darauf, dass der andere etwas tat oder sagte. Doch der andere tat oder sagte nichts, aus einem bestimmten Grund heraus. Diesen Grund kannten sie nicht, doch er musste schließlich existieren, da er die Wirkung erzielte, dass sie weiter nichts taten als da zu sitzen und zu versuchen, sich eben jenen Grund herzuleiten, der existieren musste. Sie blieben so für eine Zeit, deren Länge niemand abschätzen konnte. Dann drückte Heinrichs den Power-Schalter seines Handys, betrachtete die Zahlen 22:38, es dauerte eine Weile, bis er sich aus dieser Information die Uhrzeit herleiten konnte, und verabschiedete sich.
Er fuhr nach Hause, hing seinen edlen Mantel in die Kommode, legte sich in sein Bett und blieb noch lange wach, bevor er einschlief.

9:30 Uhr, Samstag Morgen. An diesem Tag hatte Heinrichs frei. Er wachte auf, ohne dass der Wecker klingelte, ging den gewohnten Bogen zum hellen Holztisch, drückte den Power-Schalter auf seinem Handy, schaltete den Flugmodus aus und starrte ein paar Sekunden auf den Bildschirm. Dann zog er die Jalousien hoch. Das Wetter war schön, jedoch sah der Garten sehr unordentlich aus aufgrund des Sturms, der über den gesamten vorherigen Tag über die Stadt gewütet hatte.
Am Nachmittag fuhr Heinrichs zu Michael nach Hause. Das Haus hatte nicht viele Fenster und war von innen kaum beleuchtet, sodass es relativ dunkel war, obwohl die Sonne draußen sehr hell schien. Michael wollte nun, da schon eine gewisse Zeitspanne vergangen war, noch einmal über den Tod von Müller reden. Er sagte in etwa: „Ich glaube, du hast deine eigenen Ideale verraten. Du wolltest Arzt werden, um den Menschen zu helfen. Und du bist, das steht außer Frage, ein sehr guter Arzt, der vielen Menschen geholfen hat. Aber die Art und Weise, wie du mit Müllers Krankheit umgegangen bist, du hast ihn nämlich schon früh aufgegeben und dich distanziert, weil seine Genesungschance sehr gering war, nichtsdestotrotz war sie existent, zeigt mir, dass du diesen ursprünglichen inspirierenden Bewegungsgrund, der dich zu dem gemacht hat, was du bist, aus den Augen verloren hast. Ich weiß, dass dich ein enormer psychischer Druck so abgestumpft hat werden lassen, wie du jetzt bist. Aber du hattest immer den Anspruch, anders, besser zu sein als die anderen. Und nun bist du genauso. Nichts weiter als ein Bauteil der Maschine, die du neu erfinden wolltest.“.
Heinrichs schickte mit seinem Handy eine Nachricht an Anna, in der er sie zu sich nach Hause einlud und eine an Böhme, in der er einen neue Methode zur Diagnose der Krankheit des besonderen Patienten vorschlug und verabschiedete sich.

Kapitel 4

Später am Abend klingelte es an der Tür. Heinrichs machte auf und begrüßte Anna mit einer Umarmung. Er führte sie durch das Haus, vorher hatte er noch einmal alles aufgeräumt und ein Foto, welches zwei Kinder, von denen eins er war, zeigte, versteckt, und setzte sich mit ihr in das Wohnzimmer. Sie bemerkte sofort das Klavier, setzte sich ohne zu fragen davor und begann zu spielen. Bevor sie dies tat, wusste sie gar nicht, dass sie überhaupt Klavier spielen konnte. Sie spielte also mehrere außergewöhnlich schön klingende klassische Stücke, wobei sie sich an jede Note erst wieder bewusst erinnern konnte, nachdem sie sie bereits gespielt hatte. Heinrichs, der sie dabei beobachtete, sah, dass es sie glücklich machte. Dann nahm er sich den edlen Stuhl aus schwarzem Metall, welcher vor dem hellen, leeren Holztisch in der Nähe des Instruments vor dem großen Fenster mit Blick auf die Stadt stand, und spielte einfach mit. Was herauskam, klang simpel und schön, was in einer gewissen Weise erstaunlich war, da sie vorher nie zusammen gespielt hatten. Lange redeten sie nicht, bis Anna etwas sagte wie: „Es tut mir Leid.“. „Was denn?“, fragte Heinrichs überrascht. Sie entgegnete: „Es tut mir Leid, dass ich dich mit meinen Problemen genervt habe.“. Nachdem er erwiderte, dass sie ihn nicht in geringster Weise genervt habe und sich folglich für nichts zu entschuldigen müsse, sprach sie mit lächelndem Mund leise und gebrochen die Worte „Tu ich aber.“ Heinrichs küsste sie. Anna blieb über Nacht in Heinrichs Haus.

Sonntag Morgen, 10:00 Uhr. Sonnenstrahlen, die sich durch den Spalt zwischen Jalousie und Fenster stahlen, erleuchteten das Schlafzimmer auf eine fröhliche, geborgene Art und weckten beide. Sie verbrachten den ganzen Tag in Heinrichs Haus. Zum ersten Mal, seit sie vor fünf Tagen in ihrem Bett in dem übergroßen Einzelzimmer im Krankenhaus ohne jegliche Spur ihrer Personalien aufgewacht war, verspürte sie eine echte Zuversicht, wieder erfolgreich in ihr altes Leben zurückfinden zu können. Es schien ebenfalls so, als könnte sie sich mit jeder weiteren Minute, die an diesem Ort verstrich, an weitere Ereignisse ihres Lebens erinnern.
Für den Abend des selben Tages hatte Heinrichs seinen Stammtisch im besten Restaurant der Stadt reservieren lassen. Sie fuhren gegen 19:00 Uhr in seinem Sportwagen los. Da es nun Herbst war, war es schon dunkel und die Lichter der Stadt, welche von Autos, Hochhäusern, Laternen erzeugt wurden, ließen den Sternenhimmel erblassen. Sie waren ohnehin so viel heller und so viel näher, dass sie die viel realeren Sterne waren, obwohl sie es nicht waren.
Als sie an dem kleinen, unscheinbaren Haus, welches so gar nicht nach einem derart guten Restaurant aussah, angekommen waren, stellte Heinrichs Anna den Kellner und den Koch vor, welche an diesem Abend die einzigen beiden anwesenden Mitarbeiter waren. Sie setzten sich an den runden Tisch aus edlem, dunklem Holz, welcher genau neben dem großen alten Schwenkgrill stand, von dem Anna in ähnlicher Weise fasziniert war, wie Heinrichs selbst. Sie teilte ihm mit, dass sie glaubte, schon einmal in jenem Restaurant gegessen zu haben. Der Kellner nahm die Bestellungen auf, beide entschieden sich für das irische Flankensteak, und ließ sie wieder allein. Es befanden sich noch einige wenige andere Gäste im Raum, deren Anwesenheit allerdings von Anna und Heinrichs nicht bemerkt wurde, so schien es jedenfalls. Heinrichs sah sie in dem charmanten, idyllischen Licht, welches durch die Zusammenkunft der Kerzen mit dem schwarzen Kronleuchter, der alles war, nur nicht kitschig, zustande kam, an und fühlte sich gut und schlecht im selben Moment. Zugleich fühlte er sich selbstbewusst und unsicher, angekommen und nicht einmal gestartet, gewürdigt und unwürdig und all das in vollendetster Form. Es war ein Zustand, der mit Zufriedenheit nichts zu tun hatte, viel eher war es ein Rausch, eine Energieladung, Glück.

Dann fragte sie ihn das Folgende: „Wie kommt es, dass du keine Freundin hast? Oder gibt es da jemanden?“. „Nun, es ist schon eine gewisse Zeit her, dass es da jemanden gab.“, entgegnete Heinrichs kurz. Er stellte die Gegenfrage, woraufhin sie in etwa antwortete, dass sie sich dunkel an jemanden erinnern könne, jedoch reichte ihre Erinnerung nur aus, um feststellen zu können, dass es einmal jemanden gab, nicht aber, um welche Person es sich konkret handelte. Ob sie dies konnte, hatte sowieso keine Bedeutung, denn alles, was Anna mit ihrer Frage ursprünglich hatte feststellen wollen, war, ob sie für Heinrichs die einzige war, was sie war, was sie jetzt wusste, und was ihre Mundwinkel zu einem zarten, unterdrückten Lächeln anhob.
Sie redeten den ganzen Abend und blieben so lange in dem Restaurant, bis sie freundlich vom Kellner gebeten wurden zu gehen, da es schon fast Mitternacht war. Alle anderen Gäste waren zu diesem Zeitpunkt schon lange unbemerkt gegangen. Heinrichs fuhr in seinem schwarzen Auto zu Annas Wohnung und brachte sie noch rein, woraufhin er wieder verschwand.

Kapitel 5

Montag Morgen, 6:30 Uhr. Heinrichs stand auf, stellte den Wecker auf seinem Handy aus, zog die Jalousien hoch und betrachtete kurz den schönen Garten. Am Himmel war kein Wolkengebilde zu erkennen und die Sonne ging gerade auf. Nach dem Frühstück schickte er eine Nachricht an Anna, in welcher er ein Treffen am Abend vorschlug, und fuhr ins Krankenhaus.

Dort angekommen führte er zielstrebig und in schnellem Tempo die Visiten durch und suchte anschließend nach Böhme. Dieser hatte jedoch, wie sich herausstellte, gekündigt. Aichinger berichtete Heinrichs, er habe unmittelbar vor seinem Schichtbeginn einen Anruf erhalten, in welchem Böhme ihm mitgeteilt habe, dass er den Dienst nicht mehr antreten werde. „Dieser feige Hund! Ruft mich zwei Minuten vor Schichtbeginn an, um mir am Telefon (!!!), am Telefon mitzuteilen, dass er raus ist. Und als Begründung erzählt er mir so einen sentimentalen Schwachsinn, wie, dass das System, in dem wir arbeiten, so unfair sei, weil wir Chirurgen nur nach erfolgreichen Operationen bewertet würden und es uns gar nicht leisten könnten, Risiko einzugehen, da es unser Renommee gefährde. Wir wären alle kalte Roboter, die den Sinn für Menschlichkeit verloren hätten. Bla bla bla... Das selbe, was er immer sagt, wenn er mal wieder seine Tage hat, wissen Sie, Heinrichs? Dieser blöde Penner.“ Heinrichs antwortete nicht. Stattdessen fragte er nach dem besonderen Patienten mit den unerklärlichen Symptomen. „Ach, der Schrader, oder Schröder, oder wie auch immer...“, entgegnete Aichinger, „Jede Wette, dass der in den nächsten zwei Wochen ins Gras beißt. Der sieht aus wie Christus am Kreuz mit Tollwut.“
In diesem Moment durchzog etwas Heinrichs ganzen Körper, das einem starken elektrischen Schlag gleichkam. Was wäre, wenn es wirklich Tollwut wäre? Ohne Zeit zu verlieren ließ er Tests anordnen und überlegte sich in der Zeit, in welcher er auf die Ergebnisse warten musste, eine Vorgehensweise für einen chirurgischen Eingriff, mit dem er das Leben des Patienten retten könnte.
Aichinger verbrachte die Wartezeit mit Heinrichs und riet ihm etwa mit folgenden Worten von einem Eingriff ab: „Also nehmen wir mal an, Ihre Vermutung ist richtig. Und Sie beginnen zu operieren. Und Sie haben den besten Tag Ihres Lebens und machen nicht einen einzigen Fehler. Dann liegen seine Überlebenschancen bei unter 10%. Das wiederum heißt, die Chance, dass der Patient Ihnen wegstirbt und Sie Ihre Karriere ruinieren, liegt bei über 90%.“ Es kam eine Schwester in das Zimmer, in welchem sich die beiden Ärzte aufgehalten hatten, und teilte ihnen mit, dass die Testergebnisse positiv waren. Aichinger redete noch einmal auf Heinrichs ein, welcher seinen Worten nun nicht mehr die geringste Aufmerksamkeit schenkte und operierte. Die Operation glückte. Heinrichs schien wohl den besten Tag seines Lebens gehabt zu haben.
Viele der anderen Ärzte feierten Heinrichs für diesen äußerst riskanten Eingriff, Aichinger und Heinrichs selbst betrachteten ihn jedoch mehr als das, was er aller Wahrscheinlichkeit nach viel eher war: Glück. Allerdings unterschieden sich ihre Betrachtungsweisen auch in einem Punkt. Aichinger hielt Heinrichs Operation für impulsiv und fahrlässig, Heinrichs hielt sie für genau angebracht. Wahrscheinlich sahen die anderen Ärzte diese Operation als ein Zeichen dafür an, dass die Existenz jenes Systems, dem sie sich alle angepasst hatten und wegen welchem Böhme gekündigt hatte, nicht unumgänglich war.

Der weitere Tag im Krankenhaus verlief normal, bis auf dass ein weiterer Patient mit Lympfdrüsenkrebs im Endstadium eingeliefert wurde. Zwei junge Ärzte berieten darüber, ob sich ein operativer Eingriff lohnen würde, oder nicht. Sie kamen zu dem Entschluss, aufgrund der geringen Erfolgschance von nur etwa 5% nicht zu operieren.

Am Abend des selben Tages, als Heinrichs sich bereits in seinem Wohnzimmer aufhielt, bekam er eine Nachricht auf seinem Handy, die in etwa lautete „Ich habe vorhin ein Foto in meinem Schrank gefunden, darauf bin ich als kleines Kind mit einem kleinen Jungen abgebildet. Richard, dieser Junge bist du. Wir sind uns gar nicht vor 5 Tagen zum erste Mal begegnet, sondern vor 15 Jahren. Wir waren sogar Nachbarn, bis du dein Medizinstudium angefangen hast, Jahre lang. Und Jahre lang waren wir Freunde und Jahre lang liefst du hinter mir her. Jahre lang hast du mich um einen Neuanfang gebeten. Ich habe nie an einen Neuanfang geglaubt, konnte mir nie vorstellen, dass wir je mehr als Freunde sein könnten. An all das kann ich mich jetzt erinnern und es widerspricht allem, was ich nach meinem Unfall zu wissen glaubte. Wie konntest du nur nicht erwähnen, dass wir uns schon lange kennen? Wusstest du nicht, dass meine Erinnerung an alles, auch an dich irgendwann wiederkommen würde? Hast du es verdrängt? Oder war es für dich nichts weiter als eine Beweisführung? Wolltest du nur beweisen, du Recht hattest, mit dem Neuanfang? Ich habe keinen Schimmer, was du wolltest, aber ich weiß, dass die letzten Tage gar nichts beweisen. Ich habe mein Gedächtnis zurück und du hast gar nichts erreicht. Und das stand von Anfang an fest und du musstest es gewusst haben und trotzdem hast du getan, was du getan hast. Und das ist verrückt, es ist wahnsinnig. Du bist wahnsinnig. Ich will dich nie mehr wiedersehen.“

Kapitel 6

6:30 Uhr, Montag Morgen. Es war eine Woche vergangen, in welcher Heinrichs einen Umschlag mit der Aufschrift „Rechtfertigung des Wahnsinns“ vorbereitet hatte. In jenem Umschlag befand sich ein Stück Papier, auf welchem geschrieben stand:
„Vielleicht ist Wahnsinn nichts weiter als ein Produkt der Groteske.“

Heinrichs stieg in seinen Wagen, brachte den Umschlag zur Poststelle, fuhr zum Krankenhaus, gab seine Stelle als Arzt auf, verabschiedete sich, verließ die Stadt und kehrte nie wieder zurück.

 

Interessante Kurzgeschichte! Danke für die kurzweilige Unterhaltung und das Teilhaben an einer, wie ich mutmaße, in Teilen autobiografischen Perspektive... Die Beschreibung des jungen ambitionierten Arztes in seiner 'gefangenen' Welt ist gut gelungen. Wenn das Dein erster Step war, möchte ich Dich ermutigen weitere Steps nachzulegen. Ich bin gespannt.
Valleyman

 

Liebe Maria,
Vielen Dank für das Feedback! Du hast Dir ja allem Anschein nach wirklich viel Zeit genommen
und viele Dinge angesprochen, das finde ich wirklich toll an diesem Forum.
Nur leider muss ich Dir sagen, dass mir dein Beitrag nicht weitergeholfen hat.

Du hast nur das erste Kapitel gelesen und konntest deshalb viele Aspekte noch nicht verstehen. Die protokollierende Erzählweise soll zum Beispiel im Verlauf der Geschichte einen Kontrast erzeugen und den charakterlichen Wandel widerspiegeln, den der Protagonist durchlebt.

Des Weiteren verstehe ich natürlich auch Deinen Kritikpunkt, dass sinnlose Beschreibungen, wie "Die Jalousien waren schmaler als die Fenster, sodass der ein oder andere Lichtstrahl das Zimmer schon etwas erhellte." in einer Kurzgeschichte nichts verloren haben, allerdings muss ich auch hier einwenden, dass jeder Satz genau durchdacht wurde und so auch dieser im weiteren Verlauf der Geschichte noch einen Sinn erhält.

Die Operationen sind im ersten Kapitel deswegen so kurz und unspannend beschrieben wurden, weil sie erstens nicht das Thema der Kurzgeschichte sein sollen und zweitens die brutal roboterhafte und berechnende Vorgehensweise der Ärzte in der Geschichte darstellen sollen. Sie haben alle diesen Beruf ergriffen, weil sie Menschen helfen wollten, aber sind dafür blind geworden. Sie haben aufgrund von falschen Bewertungssystemen vergessen, was das Richtige ist. Das ist vielleicht der Satz, der das Thema meiner Geschichte am besten beschreibt. Und dieses Thema wird auf unterschiedlichen Ebenen ausgeführt, sodass die Geschichte nur als Parabel betrachtet werden kann und deshalb unbedingt zu Ende gelesen werden muss, bevor man ein Urteil darüber fällen kann.

Ich finde es schade, dass du die Zeit, die Du in das Verfassen deines Feedbacks gesteckt hast, nicht darin investiert hast, die Geschichte ganz zu lesen.
Vielleicht hast Du ja nochmal Lust, eine halbe Stunde zu opfern und alles zu lesen, dann würde ich mich sehr über Dein Feedback freuen! :)

Außerdem finde ich Feedback über die Botschaft, die Interpretation und den Sinn des Textes viel wichtiger und interessanter als solches über Formulierungsweisen.

Viele Grüße
xxxj

 

Sorry... Speisenkarte ist genau so richtig wie Speisekarte...
Eher grammatikalisch korrekter - analog zur Getränkekarte die nur in den seltensten Fällen eine Getränkkarte ist...

best
Valleyman

 

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