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Realität ist eine Erfindung der Teufels
Er war schon immer ein Fan von Helden-Filmen gewesen. Marvel oder DC, völlig egal. Keine Ahnung, warum sich manche darüber streiten mussten. Vielleicht hatten sie ja nichts Wichtigeres in ihrem Leben. Schon bedauernswert, manche Menschen. Er war nicht so. Er hatte ein Leben. Ein ziemlich gutes sogar. Reiche Eltern, reicher Freundeskreis, privilegiert. Immer in den richtigen Kreisen. Die richtigen Schuhe, das richtige Auto, die richtige Freundin. Der Filmgeschmack war auch annehmbar. Er redete nicht gerne darüber, aber nicht, weil er sich für seinen Filmgeschmack hätte schämen müssen. Es war ihm einfach unangenehm, andere in sich hineinschauen zu lassen. Wenn er anfangen würde, darüber zu reden, könnte ihn seine Leidenschaft einholen und vielleicht würden andere merken, dass es für ihn nicht bloß Filme waren. Es würde ja doch niemand verstehen.
Was heißt schon Leidenschaft, er mochte Filme. Nicht alle Filme natürlich. Hauptsächlich solche, in denen es um etwas wichtiges ging. Etwas großartiges. Mut. Stärke. Ehre. All die Dinge, die gute Filme eben ausmachen. Als er älter geworden war, kamen noch weitere Attribute hinzu. Freundschaft. Liebe. Sex. Ein Film, der auch nur eines der sechs misste, war kein guter Film. Konnte kein guter Film sein.
Es war schon immer so gewesen.
Vor den Filmen waren die Geschichten. Er verschlang alles, was man ihm bot. Jeder Gute-Nacht-Geschichte wurde eifrig gelauscht. Nie war er dabei eingeschlafen. Im Gegenteil, danach hatte er sie weitergesponnen. Den Akteuren neue Möglichkeiten verschafft. Ihre Leben ein wenig verlängert. Er fand es zu grausam, sie mit dem Ende der Geschichte sterben zu lassen. Also erfand er Wege, sie in seinen Gedanken weiter leben zu lassen. Manche begleiteten ihn bis heute.
Irgendwann war er zu alt für Geschichten geworden. Doch da konnte er bereits lesen. Jedes Buch, dass man ihm gab, verschlang er. Manchmal verließ er tagelang nicht sein Zimmer und blieb mit einem Buch im Bett. Für ihn waren es nicht einfach nur Bücher und Geschichten. Es waren Personen. Menschen, die Dinge durchlebten und er durchlebte sie mit ihnen. Seite an Seite kämpften sie, lachten sie, weinten sie. Es gab eine Zeit, da lebte er in den Büchern. Sein eigenes Leben war nicht so interessant. Nicht so wichtig. Er vernachlässigte alles für die Bücher. Freunde, Familie, Schule und sich selbst. Wenn er ein Buch beendet hatte, dann konnte er nie gleich zum nächsten greifen. Er brauchte Zeit. Zeit, die Dinge, die geschehen waren zu verarbeiten. Darüber hinweg zu kommen. Vor allem um darüber hinweg zu kommen, dass sie vorbei waren. Dass es sich von Kameraden zu verabschieden galt. Dass er sich von Freunden trennen musste. Ihnen Tribut zollen und einige Schweigeminuten einlegen.
Mit jedem Mal wurde es schwieriger. Anfangs liebte er Bücher mit vielen Fortsetzungen, da es länger dauerte, bis der Abschied fällig war. Später hasste er sie dafür, dass er sie nach so viel Zeit doch verlassen musste. Und der Abschied war so schwer.
Mit jedem Mal wurde es schwieriger. Bis er es irgendwann nicht mehr konnte. Mit jeder Trennung von einem neuen Buch, mit jeder Trennung von anderen Welten, Familien, Freunden wurde es schlimmer. Jedes Mal brach er innerlich ein Stückchen mehr. Sobald er die letzte Seiter erreicht hatte, fühlte er sein Herz schwerer werden und beim letzten Satz der letzten Seite war es, als bekäme es mit jedem Wort einen kleinen Knacks. Irgendwann beschloss er sein Herz zu schützen und kein Buch mehr anzufassen. Keine innerer Scherbenhaufen mehr.
Es war fast erleichternd, dass irgendjemand Bücher für uncool erklärt hatte. Wer las denn schon? Picklige Mädchen mit selbstgestrickten Pullovern vielleicht. Er jeden falls nicht. Da begann er nicht mehr in anderen Welten zu leben. Nur noch in seiner Welt, nahm er sich vor. Und es funktionierte. Er fand die richtigen Freunde, fing an die richtigen Schuhe zu tragen und das richtige Auto zu fahren. Später gab es auch noch die richtige Freundin dazu.
Er mochte sein Leben wirklich. Er wusste, dass er es mochte. Wie viel Glück er gehabt hatte. Die richtigen Freunde. Eine richtige Freundin. Nicht nur so wie die in seinen Büchern. Eine Freundin, mit samtig glatter Haut, die er mit seinen Fingerspitzen entlang fahren konnte, wann immer er wollte. Eine Freundin, die nachts das Bett wärmte und die man tatsächlich anfassen konnte.
Keine Freundin die nur in seinen Träumen existierte.
Eine Freundin die ihm antworte „Und ich dich erst.“, wenn er ihr sagte, dass er sie liebte. Eine Freundin, die ihm antwortete. Die er wirklich liebte.
Dann kamen die Filme. Nicht die Art von Filmen. Eben einfach solche, die im Kino liefen und die man sich mit Freunden anschauen würde. Filme, wie sie im Fernseher kamen. Wie sie in Werbungen angepriesen wurden. Filme, die alles wichtige enthielten. Mut, Stärke, Ehre, Freundschaft, Liebe, Sex. Filme, in denen es um wichtige Dinge ging. Filme, in denen die Welt gerettet wurde. In denen geheiratet wurde, in denen sich die ganze Nacht geliebt wurde. In denen man sich für den besten Freund vor eine Pistolenkugel warf. In denen Banden geschlossen wurden, die stärker waren, als alle menschlichen Beziehungen, die auf der Welt existierten, zusammen.
Filme waren nicht so schlimm wie Bücher, immerhin konnte man in zwei Stunden keine so enge Beziehung aufbauen, wie nach tagelangem verschlingen von Seiten über Seiten. Ja, Filme konnten gar nicht so schlimm sein, wie Bücher. Nicht so zerstörerisch. Dachte er.
In Wahrheit waren sie noch viel schlimmer.
Bücher können einem nur das vor Augen führen, was im eigenen Vorstellungsbereich liegt.
Filme zeigen uns, was wir uns selbst nicht erträumen können.
Süßeste Phantasien werden überboten. Träume erschaffen. Realitäten entfremdet. Er wusste, wie privilegiert er war. Wie viel Glück er hatte mit Freunden und Familie und sich selbst. Aber verflucht, sein Leben war nicht so wie in den Filmen. Alles was er sah, sah er nur. Es bestand nie auch nur die geringste Chance, dass sich eines der Dinge, die er sah, erfüllte. Dass sich auch nur ein Moment in seinem Leben so gut anfühlen würde, wie auf der Leinwand dargestellt.
Seine Familie war reich. Er wusste, dass es andere gab, die es schwieriger hatten. Menschen mit echten Problem. Aber er wusste auch, dass er nie ein Milliardär sein würde, so wie Toni Stark.
Er war athletisch, sportlich und attraktiv. Dennoch würde er nie sein, wie Captain America.
Er war schlau, hatte gute Noten, aber er würde niemals ein Genie sein, wie Mr. Fantastic.
Er liebte seine Freundin wirklich und sie ihn auch. Aber liebten sie sich wirklich so, wie zwei Superhelden mit Superkräften sich liebten?
Jede Szene war so perfekt. Alles im richtigen Licht. Immer genau der richtige Song. Einfach der Song, der alles aussagte. Alles was nicht gesagt werden musste. Jede Emotion. In den Kampfszenen genauso wie in den Sexszenen.
Wenn er mit ihr schlief, hatten sie meistens irgendeine Playlist laufen. Teilweise war die Musik nicht unpassend. Aber dieser eine perfekte Moment mit der richtigen Musik, war bis jetzt noch nicht geschehen. War er überhaupt möglich?
Er liebte es mit ihr zu schlafen. Es fühlte sich immer gut an. Aber fühlte es sich auch so gut an, wie in den Filmen? War da nicht noch mehr? Könnten sie sich nicht noch wilder, noch romantischer, noch magischer lieben?
Musste es im Leben nicht ein bisschen mehr geben, als das Leben?
Ihm war nüchtern klar, dass Filme nur Filme waren, Bücher nur Bücher, Geschichten nur Geschichten. Aber musste nicht irgendwas an ihnen real sein?
Gab es im echten Leben keine echten magischen Momente? Keine Momente, in denen die Hintergrundmusik alles sagte, was gesagt werden musste, keine Momente, in denen man wahrhaftige Stärke und Mut beweisen konnte? Keine Momente, in denen er sich sicher war, dass er sein ganzes Leben mit ihr verbringen würde? Momente, in denen einfach alles perfekt war? War Perfektion wirklich nur eine Erfindung?
Er wusste, dass alle perfekten Szenen nur gestellt waren, dass es in echt keine perfekten Momente gab. Aber wenn man sie darstellen konnte, musste es sie doch auch geben. Irgendwo mussten sie doch existieren. Wenn man sie erfinden konnte, dann konnte man sie denken und wenn man etwas denken kann, muss es dann nicht auch irgendwo Realität sein?
Nach jedem Film kam er in sein Leben zurück und sah alles das, was nicht war. Der fehlende Glanz. Der fehlende Funke. Natürlich sah er auch alles was war und das brachte ihn dazu, sich zu schämen, für seine Gedanken. Sich zu hassen, für seine Überlegungen, obwohl er ein so gutes Leben hatte. Er wusste, dass er kein Recht hatte, mehr zu wollen. Das zu wollen, was er sah. Zu wollen, dass es sich genauso anfühlte.
Aber er konnte nicht anders. Jedes Mal, wenn er von einem Ausflug aus dem magische Filmland zurück kam, sah er die Farblosigkeit des Lebens. Nicht nur seines Lebens, sondern des gesamten Lebens. Des Lebens auf der Erde.
Jedes Mal knackste sein Herz ein bisschen.
Jedes Mal verlor alles andere um ihn herum an Bedeutung, an Leuchtkraft.
Die Gewissheit, dass er die Realität nie verlassen konnte, brachte ihn langsam um.
Wie krank war die Menschheit, sich selbst unerreichbare, perfekte Illusionen zu erschaffen, nur um danach wieder in ihre unperfekten, kleinen, bedeutungslosen Leben zurück zu kehren. Wie krank konnte man nur sein.
Geschichten und Bücher. Filme sind eine Erfindung der Teufels.
Er würde sich nie wieder auch nur einen einzigen Film anschauen, hatte er sich vorgenommen.