Ravioli wie jeden Samstag
Ich hasste die Samstage nach langen Partys. Der Kopf dröhnte immer so und erst beim zweiten Versuch erwischte man den Henkel der Kaffeetasse, nach dem er sich zuvor energisch dagegen gewehrt hatte. Wie heilender Sirup durchfloss der doppelte Espresso meine Kehle. Ich musste unbedingt wach werden, denn in einer Stunde würde der Supermarkt schließen.
Der Espresso wirkte, langsam. Zusätzlich rieb ich noch mit den Händen heftig meine Wangen.
„Aufwachen, Paul, es ist Zeit zum Einkaufen.“
Kurze Zeit später saß ich dann auch endlich in meinem roten BMW und sämtliche Ampeln verliebten sich sofort in ihn. Es war wohl wieder einer dieser Tage, wo man besser zu Hause geblieben wäre, im gemütlichen Bett und mit einem schönen Videofilm.
Der Parkplatz des Einkaufszentrum war wie immer voll und auch die lästigen Zweite- Reihe, Ich-bin-gleich-zurück Parker hatten sich an einigen Stellen schon breit gemacht. Die erste Runde im Parkplatzrondell näherte sich langsam ihrem Ende und ich machte mir schon Gedanken über die zweite, als plötzlich ein unscheinbarer Toyota direkt vor meiner Nase ausparkte. Blinker setzen, antäuschen, einparken und siegessicher lächeln.
Kaum hatte ich die Schiebetür passiert, drückte mir auch schon ein freundlicher Mitarbeiter des Marktes einen kleinen Korb in die Hand.
„Der ist für Sie, mein Herr.“
„Ähm, danke.“ Kostenlose Einkaufskörbe, das war wirklich ein seltsamer Tag.
So, was stand auf meiner Liste? Ravioli, Basilikum, Putenfleisch und O-Saft. Das sollte sich alles schnell erledigen lassen. Umso besser, es gab nichts Schlimmeres für mich, als ein samstägliches Einkaufen.
Zielsicher steuerte ich das Nudelregal an und wollte schon nach den Ravioli greifen, doch zu meiner Überraschung standen da keine Dosen mehr. Da war gar nichts, noch nicht einmal das auszeichnende Preisschild. Verwirrt schaute ich auf meine Uhr. Es war Samstag, eine viertel Stunde bis Kassenschluss. Soweit ich wusste, hatte die Singleanzahl in dieser Stadt keine exponentielle Steigerung erfahren, also wo zum Teufel waren dann die ganzen Raviolidosen? Aus den Augenwinkel erspähte ich einen Mitarbeiter des Marktes, groß und schlank, mit dicker brauner Hornbrille.
„Entschuldigung?“
„Ja, bitte.“
„Sind die Ravioli heute aus?“ Entsetzt blickte er mich durch seine Brille an und starrte dann an mir vorbei, dann zeigte sich ein Lächeln um seinen Mund.
„Da sind sie doch und auch noch reichlich davon.“
Ruckartig drehte ich mich herum und schaute verwirrt auf die mir sofort ins Auge springenden Raviolidosen.
„Ähm, danke“, stotterte ich und nahm eine der Dosen aus dem Regal. Ein seltsamer Tag, am besten sollte ich schnellstens wieder zurück in meine Wohnung. Ohne weitere Verzögerung ging ich in Richtung Kasse. Jede Kasse war offen und an jeder standen Schlangen von bis über den Rand gefüllten Einkaufswagen. Jetzt fehlte nur noch ein nackter alter Mann mit langem grauem Bart, der nur von einem Plakat gekleidet wurde, mit der Aufschrift „Das Ende ist nah“.
Ordentlich stellte ich mich an die Kasse, wo die Kassiererin den Eindruck machte, ihren Job wesentlich schneller zu erledigen als ihre Kolleginnen. Sofort drehte sich ein Mann mittleren Alters zu mir um.
„Oh, junger Mann, Sie können gerne vorgehen, Sie haben ja nicht soviel.“
„Ähm ... danke schön.“ Ein wirklich seltsamer Tag.
Ich wurde sogar mehrere Plätze nach vorne gelotst, direkt hinter die erste Kundin, die gerade ihre letzten Sachen im Einkaufswagen verstaute und ein angeregtes Gespräch mit der Kassiererin hielt.
„... meine Güte, ich hätte nicht gedacht, dass das soviel Arbeit macht.“
„Frau Schulz, Sie haben heute auch wirklich viel eingekauft.“
„Ja, ja, wem sagen sie das! Es ist viel mehr als sonst, aber wir haben ja auch jetzt zwei Mäuler mehr zu füttern.“ Bei diesen Worten griff Frau Schulz sich an ihre Bluse und zog sie langsam nach oben. Mein Atem stockte und ich war etwas überrascht von den zwei zusätzlichen Mündern, die bei Frau Schulz aus dem Bauch herauskamen.
„Oh, Sie haben sogar zwei, wie beneidenswert, aber der eine reicht mir auch“, sagte der Mann hinter mir und zog ebenfalls sein Hemd nach oben. Auch er hatte einen zusätzlichen Mund auf seinem Bauch, der gerade genüsslich vor sich hin kaute. Das war zu viel für mich, hastig drückte ich mich an Frau Schulz vorbei und rannte so schnell ich konnte zur Ausgangstür. Kurz bevor ich sie erreicht hatte, schaute ich noch einmal nach hinten. Überall waren jetzt Leute, die ihre Bäuche entblößt hatten und alle hatten einen oder mehrere zusätzliche Münder darauf. Leider hatte ich mich mit dem Abstand zur Glastür verschätzt und zudem war ich wohl für den Öffnungsmechanismus zu schnell und so knallte ich ungebremst gegen das dicke Panzerglas ...
... irritiert öffnete ich meine Augen und blickte auf meinen stark in die Jahre gekommenen Parkettboden. Meine rechte Wange schmerzte und auch mein rechtes Knie machte sich bemerkbar. Was ein seltsamer und absurder Traum.
Eine halbe Stunde später war ich schon auf dem Weg zum samstäglichen Einkauf. Begleitet von einer konsequenten Rotphase erreichte ich meinen Zielort, den Supermarkt, deutlich später als geplant. Nachdem ich endlich einen Parkplatz gefunden hatte, schlenderte ich – den pochenden Du-hättest-lieber-nicht-feiern-sollen Kopfschmerz ignorierend – zur Eingangsstür. Kurz bevor ich durch sie hindurchtrat, fiel mein Blick auf eine Frau Mitte dreißig, die mich freundlich anlächelte. Es war Frau Schulz, die sich immer noch lächelnd den Bauch mit zwei unnatürlichen Erhebungen streichelte.