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Rauschen
Zwei Jahre ist es nun her, seitdem dieser Patient auf meiner Station erschien; er hatte sich nach einer Entgiftung selbst dazu entschlossen, am psychosozialen Aufbauprogramm unserer Klinik teilzunehmen.
In den folgenden Wochen führten wir viele Einzel- und Gruppengespräche: über Suchtverlauf, frühkindliche Erfahrungen, familiäre Probleme – doch mich ließ das Gefühl nicht los, er verheimliche mir etwas: Da waren diese regelmäßigen, schockartigen Angstzustände, die ihn in den Abend- und Nachtstunden heimsuchten.
Nach einigen Anläufen meinerseits entschied der Patient, mir von einem Ereignis zu berichten, von dem er bisher niemand anderem berichtet hatte.
Und natürlich hatte ich von dem Vorfall gehört, der sich in der alten Mahr-Brauerei zugetragen hatte; und natürlich hatte ich von dem schweren Autounfall in der Lüneburger-Straße gehört, bei dem drei Brüder, die auf dem Nachhauseweg von einer Hochzeit gewesen waren, starben – aber dass diese Ereignisse in irgendeiner Weise mit meinem Patienten zu tun gehabt hätten, das wäre mir nie in den Sinn gekommen ...
Ich stehe mit Jurij und Ahmet im Keller der alten Mahr-Brauerei, mit der Rohrzange in der Hand. Wir hören über Ahmets iPhone Radio, und als die Nachrichten kommen, schüttle ich den Kopf.
»Diese Idioten«, sage ich, und dann schüttle ich gleich noch mal den Kopf. »Diese Idioten.«
Jurij steht auf der Leiter und klopft gegen das große Kupferrohr, für das wir uns entschieden haben.
»Was laberst du, Mann?«, ruft er von oben runter.
Ich ziehe an meiner Zigarette, dann schnippe ich sie weg.
»Hör’ doch hin, was die da in den Nachrichten für ’ne Scheiße labern. Labern irgendwas von Kriminalitätsbekämpfung. Und die ganzen fetten Wichser glauben den Scheiß, die wichsen sich jetzt einen da drauf, dass die Kriminalität bekämpft ist, oder was.«
»Und?«, ruft Jurij von oben runter und begutachtet die riesigen Muttern, mit denen das Rohr befestigt ist.
»Was und?«, rufe ich zurück.
Ich fahre mir durch die Haare, beiße mir auf die Zunge. Jurij versteht es einfach nicht. Nie versteht er irgendwas. Ich kenne ihn seit der Grundschule, seitdem er im Stockwerk unter mir eingezogen ist, und er so lange mit seinem alten Lederball durchs Viertel gelatscht ist, bis ihn einer von uns Jungs angesprochen hat – so lange kenne ich Jurij schon, und nie versteht er irgendwas.
Ich schaue hoch zu ihm. Die Stirnlampe auf seinem Kopf wirft ihr weißes Licht auf das Kupferrohr, tastet es ab, Wasser tropft in unregelmäßigen Abständen von der Decke.
Da steht Ahmet plötzlich aus seiner Hocke auf, so ganz zittrig und wackelig, noch mit dem Handy in der Hand.
»Ist doch glasklar«, sagt er, und blickt erst mich an, dann Jurij. »Die haben uns die Preise kaputtgemacht. Die Araber sind weg, na herzlichen Glückwunsch: Jetzt gibt’s nur noch ’n paar von den gottverdammten Schlitzaugen, und die Wichser wissen genau, die können verlangen, was sie wollen, wir fressen denen die Scheiße doch so oder so aus der Hand.«
Ich atme tief ein, meine Beine sind weich, mir ist schwindelig, schlecht. Der letzte Schuss war gestern Abend, und keine Ahnung, mit welchem Mist die Chinesen das Zeug strecken. Einer sagte mal zu mir, Rattengift, aber das glaube ich nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.
»Das Rohr is’ gut«, sagt Jurij plötzlich, klopft gegen das Kupfer und leuchtet mir ins Gesicht. »Is’ kein Druck mehr drauf, und wiegt bestimmt ’n paar Kilo.«
Ahmet zuckt mit den Schultern. »Dann machen wir’s?«, sagt er, und blickt mich an.
Ich meine, denken die, nur weil es kein Heroin mehr auf den Straßen gibt, sind auch wir weg? Denken die, nur weil man keinen Stoff mehr bekommen kann, hat sich auch dieses Verlangen, diese Gier in uns aufgelöst?
Die ganze Szene ist total aus dem Häuschen, jeder Fixer schiebt hier einen permanenten Affen; Einbrüche, Diebstähle, Überfälle: Jeder ist damit beschäftigt, genügend Kohle ranzuschaffen, damit er nicht vollkommen am Rad dreht. Ahmet, der Idiot, hat seiner Großmutter das goldene, osmanische Geschirr aus der Kommode geklaut, weil er dachte, er verreckt sonst – es gibt keine Moral, keine Grenzen mehr, nur noch jeder für sich. Und im Radio und Fernsehen jubeln sie weiter, schütteln sich die Hände und zeigen Victory – was für eine Scheiße.
Da hatte ich gestern diese Idee mit den Kupferrohren und den leerstehenden Fabriken im Osten. Klar, das ist keine langfristige Sache, aber ein paar schnelle Hunderter allemal.
Ahmet steht unten und hält die Leiter fest, trotz der Dunkelheit sehe ich den Schweiß auf seinem Gesicht glänzen.
Jurij schnauft und versucht, mit der Rohrzange die Muttern aufzuschrauben.
»Ja ja«, sagt er, »ihr Deutschen ... immer scheißt ihr euch in die Hosen, ihr Deutschen ... tschort wasmij!«
Ich zünde mir die nächste Zigarette an. Ich weiß nicht, ob es der Affe ist, oder die nüchterne, klare Realität, die mich plötzlich übermannt – aber irgendwie habe ich so ein Gefühl.
Ahmet klappert mit den Zähnen, wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht – er muss zwei, drei Tage nichts gedrückt haben, der arme Kerl. Aber was will man machen.
»Ganz langsam«, rufe ich Jurij hoch, »brech’ bloß die Mutter nicht ab!«
Da passiert es plötzlich – da knallt es plötzlich: ein metallenes, explosionsartiges Knallen, wie bei einer Kanone; dann schlägt irgendwas gegen die Wand am andere Ende des Raums, gleichzeitig wirbelt das grelle Licht der Stirnlampe durch den Keller. Erst als alles dunkel ist, und ich die Leiter umkippen höre, bemerke ich das laute, zischende Geräusch, spüre ich das Wasser auf meinen Händen, meinem Gesicht.
»Scheiße!«, schreie ich, »fuck! Jurij?«
»Was war das?«, schreit Ahmet gegen das Wasser an.
»Verdammte Scheiße!«, schreie ich zurück, »ich hab’ ihm gesagt, er soll gucken, ob da noch Druck drauf ist!«
Ahmet und ich treffen uns in der Dunkelheit, er hat sein Handy bei dem Knall verloren.
»Das scheiß Rohr hat’s weggesprengt«, sagt er, und keucht dabei.
»Ja«, sage ich, »Scheiße, ja.«
Wir rufen Jurij, laufen durch den Raum, das kalte Wasser schießt weiter von der Decke, was für ein Lärm. Ich bin klitschnass, die Brühe reicht mir schon bis zu den Knöcheln.
»Da!«, höre ich Ahmet rufen, »ich hab’ ihn!«
»Lass es«, sagt Ahmet, und ich spüre seine warme Hand auf meiner Schulter.
»Fuck«, sage ich, »fuck, fuck, fuck!«
Ich taste nach Jurijs Schlagader, das vierte Mal.
»Er ist tot«, sagt Ahmet, »lass es.«
Das Wasser, das gottverdammte Wasser: Es schießt von da oben herab, es zischt und plätschert. Es steht mir jetzt schon fast in den Kniekehlen.
»Los«, sage ich, »wir müssen ihn hier rausbringen!«
»Ja«, sagt Ahmet, »sollten wir echt.«
Keiner von uns beiden rührt sich. Das Wasser plätschert weiter, es ist kalt, eiskalt.
»Wo ist das scheiß Rohr eigentlich hin?«, frage ich plötzlich.
»Ich glaube, irgendwo da vorne«, sagt Ahmet, »da hat’s auf jeden Fall geknallt. Soll ich mal gucken?«
Ich atme tief ein, versuche noch mal, die Schlagader zu finden.
»Ja«, sage ich, »mach’ mal. Aber dann müssen wir ihn hier raus schaffen.«
»Klar«, sagt Ahmet, »das müssen wir.«
Nach ein paar Stufen halten wir an, schnaufen durch.
»Scheiße«, sage ich, »er is’ noch da unten, in dem ganzen Wasser.«
»Ja«, sagt Ahmet, »das ganze scheiß Wasser da unten, heilige Scheiße.«
Wir schleppen das Ding weiter nach oben, ich zerre vorne daran, Ahmet schiebt von unten.
»Warte«, sage ich.
»Was denn?«, sagt Ahmet genervt, er hustet und schnauft – Mondlicht bricht von der Tür oben auf uns herab: Ich sehe Ahmets verschwitztes, zerknittertes, abgemagertes Gesicht; die dunklen Schatten unter seinen Augen, die blauen Flecken an seinen dürren Armen.
»Ist egal«, sage ich.
Ahmet fängt das Kotzen an, ich halte ihn an der Schulter. Als er fertig ist, frage ich: »Biste jetzt wieder?«
Er sieht mich an, dann nickt er stumm.
»Stopp«, sagt Ahmet plötzlich, »halt mal an.«
Kurz habe ich Angst, Ahmet könnte mir zusammenklappen, aber als ich zu ihm rüberblicke, weiß ich, dass er die Zähne zusammenbeißt: Das helle Mondlicht fällt durch die langen, hohen Glasfassaden und legt sich auf sein Gesicht.
»Die Bullen«, sagt Ahmet, und blickt mich an. »Hörste das?«
Kurz halten wir inne. Ich höre das Wasser unten im Keller plätschern, das Geräusch hallt durch die Halle, überlagert sich, verändert sich, wird zu einem großen, undefinierbaren Rauschen.
»Nee«, sage ich, »du schiebst.«
»Der ganze Lärm hier«, sagt Ahmet – und als wir das Rohr weiter Richtung Ausgang schleifen, sagt Ahmet noch etwas, aber ich verstehe es nicht: Das Rauschen des Wassers, das Schleifgeräusch des Rohrs und der Klang seiner Stimme – das alles verschmilzt zu einem großen, hässlichen Ganzen; zu einem Geräusch, das an meinem tiefsten Inneren rüttelt, mir den Magen umdreht. Ich will kurz Luft holen, aber kotze mir stattdessen fast auf die Schuhe.
Als wir das Rohr in den Kofferraum gehievt haben, schleppt sich Ahmet auf den Beifahrersitz. Diese große körperliche Anstrengung, dazu noch die ganze Sache mit dem Wasser, das kann einen Mann auf cold turkey schnell an seine Grenzen bringen.
Ich steige in den Wagen, stecke den Schlüssel rein, fahre mir durch die Haare, positioniere den Rückspiegel richtig; kurz muss ich an die Sache mit dem Wasser denken, kurz muss ich an Jurij und den Keller denken – Ahmet liegt versunken auf dem Beifahrersitz, kreidebleich, verschwitzt, und nickt mir zu.
»Los?«, fragt er.
»Los«, sage ich.
Da sagt Ahmet plötzlich: »Halt mal da vorne bei der Tanke an.«
»Wieso?«, frage ich, und blicke sofort in den Rückspiegel.
»Weil ich gleich verrecke, Alter. Ich schwör’s dir, Mann, ich verrecke gleich.«
Ich schaue zu Ahmet rüber, sehe seine zitternden Hände, seine blutunterlaufenen Augen. Immer denkt er, dass er gleich verreckt. Bis ein Mann an dieser Sache verreckt, dauert es noch.
»Ich verrecke gleich«, sagt Ahmet, und dann setze ich den Blinker nach rechts.
Ich überlege noch, ob ich den Schlüssel mitnehme, habe meine Finger schon dran, aber dann wirft mir Ahmet diesen Blick zu, diesen Blick, der: Bist du jetzt bescheuert? Weißt du, was wir grade zusammen durchgemacht haben? heißt.
Ahmet ist ein zitterndes, schwitzendes Wrack, das kurz davor steht, unterzugehen, denke ich mir. Dann steige ich aus.
Ahmet habe ich nie wieder gesehen. Ich war nie an der Stelle, wo er in dieser Nacht die Kontrolle über meinen Wagen verloren hat, wo er mit dem anderen Auto frontal aufeinandergeprallt ist, wo die Hitze so hoch gewesen war, dass seine Leiche bis zur Unkenntlichkeit verkohlte.
Aber Jurij, Jurij sehe ich noch jeden Tag – immer, wenn ich die Augen schließe, immer, wenn das undefinierbare Rauschen in meine Ohren zurückkehrt und mich fast zum Durchdrehen bringt, dann sehe ich ihn – dann sehe ich Jurij.
Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.