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Raus -
Raus wollte, musste ich, aber wie? Das Warum war klar. Wer kann schon leben, eingemauert, gerade genug Luft, um nicht zu ersticken, daran kann man sich nicht gewöhnen. Gewöhnt hatte sich der Schlund an das Einerlei, die Ohren an die Kakophonie, die Nase an das Furzen der Analen. Einzig die Augen trotzten - es war doch nicht alles grau! Gelber Hammer-Zirkel-Ährenkranz, zielscheibengleich, auf schwarz-rot-gelbem Grund. Rote Banner, Mainelken, Pioniertücher - auch blaue. Nicht Braun-, sondern Blauhemden.
Ich wollte raus. Aber wie? Schließlich war man sicher verwahrt eingemauert. Deshalb die Selbstschussanlagen innen und Stacheldraht drum herum. Der Antifaschistische Schutzwall schützte vor Sabotage, Drogen und Aids, so predigten es unsere Lehrer. Die armen Menschen da drüben, sagten unsere Lehrer.
Wirkten Onkel und Tante aus Hessen deshalb fröhlich, wenn sie uns besuchten, weil sie dem verfaulenden Kapitalismus, wie es unsere Lehrer ausdrückten, für kurze Zeit entronnen waren?
Wir jedenfalls berauschten uns während der Westbesuche an den kapitalen Früchten des Staatsfeindes. Beschwipst vor Glück federten wir in Onkels silbern funkelnden Straßenkreuzer über schlaglochsatte Wege, von exotischen, so gar nicht fauligen, Duftwolken umwogen, die unseren westdeutschen Verwandten stetig entströmten.
Sie haben uns bunte Magazine hereingeschmuggelt: Schöner Wohnen, Bild der Frau, sogar die Bravo. Sie schenkten uns ihre abgelegten Kleider, Saft im Tetrapack, Schokolade, Kaffee, Kaugummis und Coca Cola. Sie zeigten uns farbenprächtige Bilder von Fantasia, wir ihnen unsere Schwarz-Weiß-Fotos.
Das waren die Glanzpunkte unseres Lebens, für die nicht nur ich, ohne mit einer Wimper zu zucken, sämtliche Weihnachten eingetauscht hätte. An einen dieser Besuche kann ich mich noch genau erinnern.
Meine ersten Sommerferien: Onkel und Tante waren ganze zwei Wochen bei uns zu Gast. Die Tage, einer toller als der andere, sind nur so geflogen. Schon mussten die beiden wieder fort.
Fort aus unserem schönen Land, deshalb weinten sie, antwortete ich später dem Staatsbürgerkundelehrer meiner großen Schwester.
Wir alle weinten und umarmten uns, doch das erzählte ich ihm besser nicht, auch nicht, dass ich gehofft hatte, sie würden mich mitnehmen, nur mal so kurz zum Gegenbesuchen, anstelle des Ferienlagers.
Wimmernd schiebe ich mir das letzte Milky Way in den Mund, schaue bettelnd mit nassen Augen zu meiner Tante auf, umarme sie schluchzend, dabei passiert es – Westschokoladenspucke und Rotz auf den reinweißen Rüschen der Seidenbluse meiner Tante. Angeekelt schaut sie auf ihre ehemals makellose Bluse, dann auf mich und lächelt schief. Ich starre sie an, wünsche, sie wäre schon im Westen, um ihre Bluse geschwind mit dem starken Freund gegen Flecken, den seine Waschkraft so ergiebig macht, tausendmal sauber zu waschen, damit sie mir nicht mehr böse sein muss und mit dem Onkel nächstes Jahr wiederkommen kann.
Natürlich besuchten sie uns weiterhin jedes Jahr, bis die Mauer fiel. Endlich konnte ich mir mein eigenes Bild vom Westen machen. Zwar entzauberte sich das Fantasia meiner Sehnsüchte, doch um nichts in der Welt würde ich die Freiheit, die sich noch nach knapp 30 Jahren prickelnd neu anfühlt, gegen das Gefängnis tauschen, das sich DDR nannte.