Rauchringe
Sie war rausgegangen, nur zum Rauchen. Die Kälte stach ihr ins Gesicht, umklammerte ihre Finger, ertränkte ihre Lungen. Sie musste weg vom Haus, weg von hier, um nicht gesehen zu werden von den Eltern, die ihr das Rauchen verbieten wollten. Also lief sie, durch die Kälte, bis raus aufs Feld. Mit klammen Fingern zündete sie die Zigarette an. Sie nahm den ersten Zug, zog tief den Rauch in die Lunge, inzwischen ohne husten zu müssen. Sie blies den Rauch aus. Der Himmel war grau und wurde schnell dunkel und schwarz. Die Spitze der Zigarette leuchtete rotorange in der dämmrigen, kalten Luft. Sie nahm noch einen Zug, hoffte dass er sie entweder weit weg bringen würde, oder töten. Sie spürte die eisige Kälte, blies den grauen Rauch aus. Gedanken und Fragen und versteckte schwarzblaue Sehnsüchte ließen sie zittern, oder war es die Kälte – sie wusste es nicht. Es fing an zu regnen. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Eine fast verblasste, fast verlorene Erinnerung an heiße, volle, ehrliche Tränen, die ihren Durst nach Erkenntnis und Leben immer so zuverlässig gestillt hatten, brach irgendwo hinter dicken grauen Betonwänden in ihrem Herzen hervor. Sie wusste nicht, wann sich diese Erinnerung in ihr Herz eingebrannt hatte. Es tat nicht weh. Nichts tat weh, kein Weinen, kein Bluten, nicht mal das Leben. Sie hatte kein Leben, das war schon längst irgendwo verloren, eingetauscht gegen Glück. Glück wozu? Wofür? Woher? Sie zog an der Zigarette und blies den Rauch aus, in Ringen. Sie zitterte und machte sich keine Gedanken mehr um das ewige Warum. Niemand sah sie hier, niemand kam je hier her. Sie war allein. Die Rauchringe waren im Dämmerlicht kaum zu erkennen, nur zu erahnen, aber sie wusste, dass es schöne, runde Ringe waren. Sie hatte es inzwischen gelernt. Vielleicht, wenn sie lange genug suchen würde, lange genug darauf bestehen würde, vielleicht würde sie ihr Leben wieder finden und es wieder zurücktauschen können im großen Pfandhaus dieser, ihrer Welt? Aber was würde der Pfandleiher verlangen? Was könnte sie ihm geben, was hätte sie zu geben? Sie wusste doch nicht mal, wo sie anfangen sollte und wie. Die Zigarette war fast aufgeraucht. Die leuchtende Spitze näherte sich ihren klammen bleichen Fingern. Sie zog noch einmal und warf dann den Zigarettenstummel auf den eisigen Boden. Wie lange könnte er der Kälte standhalten? Langsam atmete sie den Rauch aus, so langsam sie konnte, aber ihr Atem war kurz, ihre Lunge zu klein und selbst als sie allen Rauch ausgeatmet hatte und keine Luft mehr in sich hatte, leuchtete ihr der rotorange Punkt noch vom Boden entgegen. Sie verschloss wieder ihr Herz und trat den Stummel auf dem frostigen Boden aus. Was machte es für einen Unterschied, ob sie atmete oder nicht, wenn sie sowieso nicht mehr lebte?