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Raubtier
Es ging bergab. Er beschleunigte und lauschte dem schneller werdenden Klacken der Gangschaltung im Freilauf. Mona kam ihm in den Sinn, aber er verscheuchte den Gedanken gleich wieder. ‚Nicht hier und nicht jetzt‘, sagte er sich. Sein Entschluss stand ohnehin fest.
Schließlich steuerte er auf das verbeulte Schild auf der linken Seite zu und bremste. Er stieg ab und lehnte das Fahrrad gegen den rostigen Schildpfosten. Dann schulterte er den Rucksack, schob die dichten Blätter zur Seite und stieg die Böschung hinab. Über den schmalen Grasstreifen neben der Straße war vor ein paar Tagen die Straßenmeisterei mit dem Mähwerk gefahren. Der daran anschließende Abhang zum Fluss hinunter blieb jedoch sich selbst überlassen. Oft war das Gelände so steil, dass er sich mit beiden Händen an den Sträuchern festhalten musste, um nicht abzurutschen. Am Boden schlängelten sich Äste und ließen ihn stolpern. Über einen querliegenden, modernden Baumstamm konnte er nur seitlich, mit aufgestützten Armen, klettern.
Am Ufer angekommen, blickte er sich um: Links und rechts stand das Schilf übermannshoch und spendete Schatten. Es raschelte in der leichten Brise. Am gegenüberliegenden Ufer war niemand zu sehen. ‚Noch zu früh‘, dachte er.
Er legte den Rucksack neben sich auf die Grasfläche, die gerade so lang und breit war, dass ein einzelner Mensch darauf sitzen, und wenn er es richtig anstellte, sogar liegen konnte.
Er zog das T-Shirt aus und streckte sich. Dann atmete er langsam aus und lauschte der Stille: Es war dieser Platz hier. Aber nicht nur: Auch der verwinkelte Pfad herunter - der kleine Nervenkitzel, wenn er in die steile Böschung, in das Wilde, Ungeordnete, einstieg - gehörte dazu!
Er kratzte sich in der Leistengegend. ‚Die Hitze‘, dachte er. Da kam ihm ein Gedanke. Er blickte sich um – noch immer war niemand auf der Liegewiese gegenüber zu sehen - und ließ die Badehose nach unten gleiten. Sie lag zwischen seinen Füßen. „Unnütz!“, sagte er und beförderte sie mit dem Fuß in Richtung Rucksack.
Dann sprang er hinein und das Wasser, anfangs wie Blei auf seiner Brust, umgab ihn bald wie ein angenehm kühlender Kokon. Er ließ sich nach hinten fallen und am Rücken liegend auf der Oberfläche treiben. Nach einiger Zeit hob er den Kopf und blickte an sich hinunter. Sein Bauch wölbte sich heraus. Ein paar Körperhärchen klebten auf der nassen Haut. Er drückte das Becken durch und betrachtete sein Glied: „Wegen dir habe ich das mit Mona angefangen“, sagte er in Richtung seines Geschlechts. Der Gedanke gefiel ihm. Er machte alles so viel einfacher. „Aber wie du es begonnen hast, werde ich es jetzt beenden!“
Dann schwamm er zum Ufer zurück. Er trocknete sich ab und schlüpfte in die Badehose. Einen Apfel kauend dachte er noch einmal über Mona nach, kam aber bald zu dem Schluss, dass es darüber für ihn nichts mehr nachzudenken gab.
Später schwamm er weit hinaus. Bald konnte er seinen Rucksack nur mehr ganz klein im Schilf erkennen. Auch das gegenüberliegende Ufer schien in weiter Ferne zu sein. ‚Seltsam‘, dachte er. ‚Bisher war mir nicht klar, dass der Fluss so breit ist.‘
Da fiel ihm von der Seite her eine Bewegung auf. Anfangs glaubte er, einen Baumstamm erkennen zu können, doch dann traute er seinen Augen nicht: ‚Konnte das sein? Hier in diesem Wasser? Ein Krokodil?‘
Es schwamm mit schlängelnden Bewegungen langsam auf ihn zu, der Körper, abgesehen von der Nase und den kalten Reptilienaugen, unter der Oberfläche. Dann tauchte es plötzlich ab und glitt im geringen Abstand an ihm vorbei. Er spürte den Sog des Wassers auf seinem Oberschenkel. Nach einigen Metern kam es wieder zum Vorschein, schwamm eine Schleife und steuerte auf ihn zu. Panisch ruderte er mit den Armen zurück, doch es hatte keinen Sinn, hier im Wasser konnte er ihm nicht entkommen! Im Nu war es bei ihm, er schlug wild mit den Armen um sich und traf es auf die Nase. Das schien zu reichen. Das Krokodil machte kehrt und tauchte ab. ‚Habe ich es vertrieben?‘, fragte er sich und machte einen langen Hals, doch da sah er es im trüben Wasser schon wieder auf sich zu tauchen. ‚Es will mich unten packen‘, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Wie ihm jetzt erst auffiel, hatte er die Badehose beim Rucksack zurückgelassen.
Dieses Mal bekam er es – er wusste nicht wie - am Maul zu fassen. Er streckte die Arme durch und wurde nach hinten gedrückt. Das Tier setzte zu einer Drehung an, um sich aus seinem Griff zu befreien, doch erstaunlicherweise schien es nicht genügend Kraft dafür zu haben. Ohne große Mühe konnte er es aus der halb durchgeführten Schraube wieder in die Ausgangsposition drücken. „Da staunst du! Du wirst mir nichts abbeißen!“, schrie er und spürte mit einem Mal enorme Kräfte in sich wachsen. Einer plötzlichen Idee folgend, ließ er sich unter den Körper des Tieres spülen und klammerte sich mit den Beinen an ihm fest. Dabei geriet er jedoch mit seinen Händen in das Maul des Krokodils und schon spürte er, wie sich die Zähne in seine Finger bohrten. Er wollte die Hände zurückziehen, doch das Tier hatte bereits zu fest zugepackt. Ein stechender Schmerz, er wollte aufschreien …
… und öffnete die Augen. Benommen sah er sich um. Sein Blick fiel auf die Liegewiese auf der gegenüberliegenden Uferseite. Mittlerweile hatten es sich dort ein paar Badegäste auf großen Handtüchern gemütlich gemacht. Leise Musik tönte herüber. Ein nacktes Kind warf Steine ins Wasser und ein großer Hund bellte vom Ufer her ein Schwanenpärchen an, das mit zwei unansehnlichen grauen Jungtieren in der Mitte des Flusses bewegungslos über das Wasser glitt.
‚Was für ein schräger Traum‘, sagte er zu sich und rieb sich die Augen. Er richtete sich auf, streckte sich und blickte auf die Uhr. Dann packte er rasch zusammen und stieg die Böschung wieder hoch. Susanne, sein Frau, wartete sicher schon zu Hause auf ihn.