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Ratz sucht Freunde
Um den Lavasee Plox herum standen Bänke verteilt, auf denen verdammte Seelen saßen, die den ganzen Tag Enten fütterten. Diese bedauernswerten Gestalten, die Zeit ihres Lebens draufgängerische Gesellen gewesen waren, hatten ärgerlicherweise einen Patzer bei der Wahl ihrer Religion gemacht und mussten nun einige Ewigkeiten in der Unterwelt absitzen, bis sich ein zuständiger Gott bereit erklärte, ihre ewige Verdammnis durch ein zweites Leben zu unterbrechen. Da diese Unterwelt für Anhänger jedweder Glaubensrichtung offen stand, kam es gelegentlich zu Engpässen bei der Verfügbarkeit von Strafen, was von den Teufeln durch kreative Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geregelt wurde: Die Enten, die von den Draufgängern gefüttert wurden, waren im Leben nicht satt zu bekommen – also legte man fest, dass ihre Gier damit bestraft werden sollte, dass sie pro Tag alles Brot der Welt zu sich nehmen mussten. Offene Stellen bei den Brotspendern vergab man an Sportler, die sich schon allein durch das Herumsitzen gequält vorkamen. Keinem gefiel es so richtig, aber das war ja auch der Sinn einer Unterwelt. Überall wurde gejammert und gequakt.
»Ich halt's nicht mehr aus!«, schrie ein Verdammter. »Das ist so öde und langweilig und keiner dankt es einem!«
»Hilfe!«, rief ein anderer und warf eine Handvoll Brot in die Lava. Brennende Enten, die nur noch als Skelette durch das geschmolzene Gestein schwammen, stürzten sich darauf, nicht weil sie wollten, sondern weil sie es mussten. »Diese Beschäftigung ist so eintönig und stumpf! Wenn es so weiter geht, verliere ich den Verstand!«
Inmitten all des Elends und der übersättigten Enten wandelte Ratz, der Prinz der Unterwelt, und sah seinen Untergebenen bei ihrer Arbeit zu. Es war ein gewaltiger logistischer Aufwand von Nöten, damit jeden Tag alles Brot der Welt auf einen Haufen kam. Dämonen rackerten Tag und Nacht, um einen Zufluss an Backwaren zu gewährleisten, den handelsübliche verdammte Seelen als niemals endend bezeichnen würden. Dankte man es seiner Belegschaft? Zu keinem Moment. Ständig wurden seine Wesen des Schreckens von allen Seiten angepflaumt und mit Schimpfworten bedacht. Es war selten, dass Seelen von Sterblichen die harte Arbeit schätzten, die man sich tagtäglich machte.
»Ich weiß nicht mehr wie das auf Dauer weitergehen soll«, sagte ein Dämon und tupfte sich die Stirn ab. »Das wird ja auch immer mehr Brot da oben. Keine Ahnung, was die damit anstellen, aber wir schleppen täglich größere Mengen von dem Zeug hier runter.«
»Es werden schließlich auch ständig mehr Leute, du Idiot!«, sagte Ratz, der etwas über 1000 Jahre alt sein sollte, aber wie ein Jugendlicher aussah, wobei natürlich weithin bekannt war, dass man sich bei einer Lebenserwartung von einer Unendlichkeit etwas mehr Zeit beim Aufwachsen lassen konnte als ein Mensch. Er schätzte es nicht, wenn seine Monster so herablassend über die Oberwelt sprachen. Ohne die ständige Lieferung frischer Seelen von oben gäbe es keine Arbeit hier unten, dachte der junge Teufel. Was die Dämonenschar daran zu bemängeln haben würde, wollte er sich nicht ausmalen.
»Aber mein Prinz! Ich bin kaum noch zuhause, weil ich mich dauernd hier am See herumtreibe. Meine Frau fragt mich schon ständig, wo ich stecke!«, klagte der Dämon.
Ratz' Augen verfärbten sich schwarz. Er wusste nicht genau warum er das tat, aber wenn sein Vater es machte, wurden alle Dämonen ganz kleinlaut. So auch dieses Exemplar, das sich sofort zusammenkauerte und mehrere Schritte zurückwich. »Niemand hat behauptet, dass die Arbeit in der Unterwelt einfach werden würde«, sagte Ratz und ließ seine Stimme nachhallen. Das machte Eindruck! Er verschränkte die Arme und beugte sich nach vorne. »Als du in den sozialen Bereich gegangen bist, wurde dir mitgeteilt, dass du Opfer zu erbringen hast – wir tun das nicht aus Nächstenhass, sondern weil es gemacht werden muss!«
Ein Teufel muss stark sein, sagte sein Vater immer.
Ratz sollte eines Tages den ganzen Laden übernehmen und dafür musste er beweisen, dass er es war. Er durfte niemals Schwäche zeigen, denn Dämonen trugen einem so etwas für immer nach. Wer dich heute nicht ernst nimmt, nimmt dich niemals ernst.
»Geh zurück auf deinen Posten«, hauchte Ratz und gab sich redliche Mühe dabei, die Art der Verhängnis auszustrahlen, die notwendig war, um einen haushohen Dämon einzuschüchtern. Dann hob er die Stimme: »Wenn ich heute noch ein Widerwort von dir höre, sorge ich dafür, dass du morgen kein Brot mehr lieferst, sondern auf einer der Bänke sitzt! Vielleicht verwandele ich dich auch in eine Ente und lasse dich eine Weile mit den anderen im Teich herumschwimmen? Wie würde dir das gefallen?«
Der Dämon stammelte irgendwelches Zeug und verzog sich. Ratz sah ihm nach und lockerte seine Haltung erst, als sein Untergebener hinter einem Hügel verschwunden war.
Stärke bewiesen. Keine Schwäche gezeigt. Ergebnis zufriedenstellend. Der junge Teufel seufzte. Ihm gefiel das nicht. Die Unterwelt war ein auf Effizienz getrimmtes Unternehmen geworden. Im Unterricht hatte er gelernt, dass es einmal ganz anders gewesen war. Da kamen wirklich nur die Leute hier unten an, die es verdient hatten. Mörder, Räuber, Banditen, dunkle Fürsten … heute wurde man von allen Seiten mit Seelen beschmissen, sodass man den richtigen Abschaum auf den ersten Blick gar nicht von denen trennen konnte, die aus Glaubensgründen eintrudelten. Jeder Geistliche sprach von einer ewigen Pein, wenn man nicht an X oder Y glaubte, aber genauer spezifiziert wurde das nie. Die wurden einfach alle zu ihnen geschickt. Aus den Augen, aus dem Sinn, piff, paff, weg. Beim Paradies gaben sich die Leute größte Mühe, da hatten alle ganz genaue Vorstellungen von, aber bei der Bestrafung waren sie nie so penibel. Ja, Feuer halt und hier, einer mit einem Dreizack, Hörner, Ziegenbeine, der macht das schon. Sein Vater stand unter erheblichem Zugzwang, da er weder Ziegenbeine noch einen Dreizack besaß. So etwas konnte man sich anschaffen, ja, also saß sein alter Herr auf dem großen Thron, trug seine Ziegenbeinhose wie eine Uniform und las den Neuankömmlingen die Verlautbarungen der Unterwelt vor, die auf jede Glaubensrichtung zugeschnitten worden waren.
Ratz hasste das.
Sein Vater hatte nie Zeit für ihn und wenn sie mal fünf Minuten zusammensaßen, mussten beide stark sein. Also saßen sie sich gegenüber, mimten die Unangreifbaren und gingen dann wieder getrennte Wege. Dabei wollte der Prinz seinem alten Herr erzählen, wie es momentan bei ihm im Zuständigkeitsbereich lief, welche Dämonen er besonders verabscheute und was für Sachen er sich ausmalte, wenn die Arbeit ihn mal nicht bei der Stange hielt. Mal wieder einen Vater-und-Sohn-Ausflug in die Welt der Sterblichen, das wünschte er sich. Bei einer Séance auftauchen und den großmäuligen Teufelsanbetern einen Schrecken einjagen, das waren lustige Zeiten. Leider war das im Augenblick nicht möglich.
Momentan drehte sich alles nur noch um Stärke und die Wahrung des Images. Was sollten denn die Investoren denken?
Ratz wollte nicht immer stark sein. Das hasste er auch. Er hasste es, dass nie jemand für ihn Zeit hatte, er hasste es, die ganze Zeit den Harten spielen zu müssen und er hasste es, dass er sich so einsam fühlte.
Er wollte endlich mit jemandem sprechen, der nicht nur freundlich zu ihm war, weil er nicht vernichtet werden wollte. Bestenfalls sogar in seinem Alter! Das wäre ein Ding. Einige Verdammte plapperten den ganzen Tag davon, dass sie früher mit ihren Freunden im Dreck gespielt hatten und wenn man ihren Ausführungen Glauben schenken konnte, war dieses Spielen eine ganz schön heikle Angelegenheit voller Schürfwunden, Schimpfworten und Gemeinheiten. Sein Vater hätte bestimmt nichts dagegen, wenn er das mal ausprobieren würde. Außerdem hörte er sehr oft von Zweckbündnissen, die die Menschen miteinander eingingen, um sich bei anderen Leuten über ihre Probleme zu beschweren. Dann tat man so, als würde man dem anderen zuhören und meckerte im Anschluss weiter. Ratz fand das aufregend. Als angehender Herr der List war so etwas genau sein Ding. Er glaubte, dass die Leute diese Lügerei als Freundschaft bezeichnet hatten.
Freundschaft, Spielen und jemand in seinem Alter. Das war ein guter Plan. Es würde schon niemandem auffallen, wenn er für ein oder zwei Tage in die Oberwelt verschwindet und den Sterblichen einen Besuch abstattet …
In der zehnten Klasse der Gesamtschule von Upper Downhaven herrschte große Aufregung. Einer hatte erzählt, er hätte gehört, dass jemand habe gesagt hat, einer hätte davon gesprochen, dass er sich mit jemandem unterhalten hätte, der einen kannte, der neben einem gesessen habe, der dabei gewesen ist, als jemandem mitgeteilt wurde, dass unter Umständen ein neuer Schüler in die Klasse versetzt werden sollte. Das waren ganz große Neuigkeiten. Meist passierte es nur zu Beginn des neuen Jahres, dass die Gemeinschaft um ein weiteres Schaf ergänzt wurde. Die Gerüchteküche brodelte und der große Suppentopf, in dem alle Informationen herumschwammen, drohte überzulaufen. Die Heranwachsenden tauschten den neusten Klatsch aus und quasselten alle durcheinander, wodurch sich die verschiedensten Aussagen vermischten und zu kleineren Albernheiten wurden. So sollte der neue Schüler eine Mutter mit Flügeln und einem Adlerschnabel haben. Veronica Miller, die Klassenlehrerin, stand geduldig vor ihrer Tafel und faltete die Hände ineinander. Als sich die tosende See aus Gerüchten allmählich beruhigte, ergriff sie das Wort.
»Ja, es ist wahr«, sagte sie und machte eine beschwichtigende Bewegung mit ihren Händen, als Jubel aufbrausen wollte. »Wir bekommen einen neuen Schüler, der gleich von seinen Eltern in die Klasse gebracht wird. Ihr wisst wie das abläuft: Es wird eine Runde zum Kennenlernen geben, bei der ihr Fragen stellen dürft, solange sie im angemessenen Rahmen bleiben. Ich spreche mit dir, Swailey.«
»Es tut mir leid, aber ich wollte das wissen, Frau Miller.«
»So etwas spricht sich rum, Swailey. Wir können dort nie wieder hin.«
Der Junge senkte den Kopf. Gleich darauf klopfte es an der Tür.
»Kommen Sie ruhig herein!«, rief Frau Miller und warf ein Lächeln in die Runde, das zur Mäßigung aufrief.
In den Raum trat …
Ein schlanker, großer Mann mit goldenem Haar und Engelsflügeln. Über seinen Kopf schwebte ein Heiligenschein und er warf eine Handvoll Konfetti in die Klasse.
Einige Hände gingen nach oben. Frau Miller rief erneut zur Mäßigung auf.
»Ich kündige die Ankunft eures neuen Mitschülers an, dessen Vater ich bin«, ratterte der Mann runter, seufzte und blies in eine Trompete. »Verharrt angespannt, da seine Mutter und er noch etwas … wie sagt man das gleich? „Aus dem Wagen holen müssen, denn er ist normal und hat es vergessen.“«
Vor dem Klassenzimmer splitterte Glas und es klang, als würde eine Wand zerbrechen. Der Mann mit dem Heiligenschein schloss die Augen und atmete tief ein. Wieder gingen einige Hände nach oben. Mehr noch, als die Wand zum Unterrichtsraum tatsächlich zerbrach und ein riesiger Greif in einem Damenkleid durch das entstandene Loch trat.
»Frau Miller?«, rief eine junge Frau und sah zu dem Untier, das einen Jungen auf der Schulter sitzen hatte.
»Beruhige dich, Mandy. Die Fragerunde ist noch nicht eröffnet«, sagte die Lehrerin.
»Entschuldigung«, sagte der Greif, der für Mutterverhältnisse ziemlich männlich klang, worüber in modernen Schulen aber nicht mehr geurteilt werden durfte. »Ich habe vergessen, dass Stein so zerbrechlich ist. Ich bin die Mutter und … Text!«
»Das-ist-mein-Sohn-wir-waren-nochmal-unten-weil-wir-was-vergessen-hatten«, flüsterte der Engel.
»Was er gesagt hat«, sagte der Greif, setzte den Jungen ab, stapfte durch den Raum und brach durch die nächste Wand, um davonzufliegen.
»Frauen«, sagte der Engel, lächelte und löste sich in Luft auf, wobei es sich anhörte, als würde jemand Harfe spielen.
Ratz der Teufel stand vor der Klasse und musterte seine neuen Mitschüler, nein, seine baldigen Freunde. Sämtliche Aufmerksamkeit ruhte auf ihm. Der Einstand war ihm geglückt.
»Also«, sagte Frau Miller, klatschte in die Hände und trat an seine Seite, »Wer hat Fragen?«
Alle Hände gingen nach oben.
Ratz war erstaunt darüber, wie desinteressiert Schüler sein konnten. Viele von ihnen taten so, als hätten sie noch nie einen Greif oder einen Engel gesehen, weswegen sich die meisten Fragen mit seinen zwei Strohmännern befassten. Die Mitschüler, die etwas über ihn wissen wollten, reagierten auf seine Antworten gereizt oder verwundert, was Ratz überhaupt nicht verstand.
»Also nochmal«, sagte Burt, der ganz vorne saß und von der Lehrerin übersehen wurde, wenn er ihr die Hand nicht direkt vor die Nase hielt. »Du bist Ratzputin, kommst aus der Unterwelt und bist 1015 Jahre alt.«
»Ja«, antwortete Ratz und verschränkte die Arme. Was gab es daran nicht zu verstehen?
Der Junge blickte zu seinem Banknachbarn und ließ einen Finger um seine Stirn kreiseln, was Ratz als ein Zeichen dafür nahm, dass er sich Gedanken über die Antwort machte.
Ein Mädchen meldete sich: »Äh … und dein Vater war WAS von Beruf?«
»Er ist der Herr der Fliegen.«
»Also was mit Insekten?«
»Auch.«
In der hinteren Reihe stand ein Schüler auf, packte seine Tasche und eilte auf die Tür zu. Ratz sah ihm verwundert nach.
»Was denkst du, wo du hin gehst, Jonathan?«, fragte Frau Miller.
»Weg. Weit weg. Ich habe da so eine Vorahnung«, antwortete der Schüler und schlüpfte hinaus, bevor die Lehrerin etwas erwidern konnte. Das fand Ratz sehr unhöflich von ihm.
»Ich hoffe, dass Sie ihn im Anschluss an diese Stunde an das Rad der Pein ketten, damit er die kommenden dreizehn Jahre über die Schmach nachdenken kann, die er Ihnen zugefügt hat«, grollte der junge Teufel und umgab sich mit schwarzen Nebel. Seine Augen glühten wie heißes Eisen.
»Aber Ratzputin!«, sagte die Lehrerin und stemmte die Arme in die Hüften. »Solange geht die Schulpflicht doch überhaupt nicht! Außerdem dulde ich in meinem Klassenzimmer keine Kräfte der Finsternis! Aufhören jetzt! Schu! Schu!«
Lewis Parker aus der letzten Reihe fächerte mit den Händen in der Luft herum. Er trug einen Sonnenschutz auf der Nase und ein Hemd, das darauf hinwies, dass er Palmen wohlwollend gesinnt war. »Uuuuh«, näselte er. »Der Neue trägt die Macht der Finsternis in sich!« Einige Mädchen kicherten. »Jetzt müssen wir uns in Acht nehmen, sonst werden wir alle vernichtet!«
»Lewiiiiiiis«, sagte Frau Miller.
Jetzt lachte die ganze Klasse. Ratz zog die Brauen zusammen und dachte nach. Waren seine Klassenkameraden neidisch auf seine Kräfte? Fürchteten sie ihn und versuchten mit Gelächter, ihre Angst zu verbergen? Lachten sie mit oder über ihn? Vermutlich über ihn, da er sich nicht entsinnen konnte, einen Witz gemacht zu haben. Er biss sich auf die Unterlippe. Sie sollten seine Freunde werden, nicht seine Feinde. Vielleicht hatte er für den Anfang ein wenig zu hoch gestapelt? Wie konnte er die Situation wieder richten? Für's Erste beließ er es dabei und suchte sich einen Sitzplatz. Dieser Lewis schien einen guten Stand in der Klasse zu haben. Möglicherweise war es nicht falsch, sich an seine Fersen zu heften und von ihm zu lernen? Er war ein bedauerlich schwaches Menschlein, aber für ihr Verständnis von Stärke schien er recht mächtig zu sein. Ratz stutzte. Vielleicht, dachte er, wird dieser Lewis irgendwann ein Problem für mich?
Er sicherte sich den freien Fensterplatz, den der Junge von zuvor hinterlassen hatte und sah hinaus. Die Gedanken, die für einen Teufel üblich waren, schlichen sich in den Verkehr der neuen Eindrücke: Wenn es nicht anders geht, muss ich diesen Lewis vernichten – und jeden Parker, den ich finden kann. Ratz schüttelte mit dem Kopf und zeigte den finsteren Ideen die Zähne. Das war sein erster Tag. Die Leute würden es falsch verstehen, wenn er bereits heute anfangen würde, seine Mitschüler zu zerstören. Man wusste nie wie andere solche Sachen auffassten.
Vielleicht grübele ich zu sehr, dachte Ratz – da hat man ein paar hundert Jahre keinen Kontakt zu Sterblichen und schon verlernt man alles.
Plopp machte es, als ein Papierflieger in seinen Haaren stecken blieb. Das Gelächter wurde lauter.
»Lewiiiiiiis«, sagte Frau Miller.
„Große Pause“ schimpfte sich eine Unart in der Schule, die mit einer Unterbrechung des Unterrichts einherging. Sie war nur wenige Minuten lang und nicht größer als andere Pausen, die Ratz kannte, aber es schien so Sitte zu sein, also fügte er sich.
Die Schüler wandelten ohne Ziel auf dem Schulhof umher oder versammelten sich, einem Ritual gleich, an festgelegten Orten, an denen sie, so einige Mitschüler „schon immer gesessen haben“. Sie erinnerten Ratz an die Verdammten. Der größte Unterschied war, dass weniger Leute um Hilfe schrien und die Anzahl der Personen, die verprügelt wurden, deutlich geringer war. Hinter dem Baum trafen sich einige Jugendliche zum Rauchen, was für Ratz von besonderem Interesse war, denn Lewis war bei ihnen. Es musste also einen gesellschaftlichen Wert haben. Viele Verdammte waren Starkraucher gewesen und klagten in der Unterwelt darüber, dass sie eher mit diesen „Sargnägeln“ hätten aufhören sollen, wobei das ihr Schicksal nicht einschneidend verändert hätte – sie wären nur einige Augenblicke später aufgetaucht. Na ja, hier standen sie nun und zimmerten sich die Dinger rein. Dabei machten sie einen getriebenen Eindruck, als wären sie Schafe, die wissen, dass sich ein Wolf in der Nähe befindet. Ständig fragte jemand, ob „schon einer kommt“ und der Typ, der Ausschau halten sollte, kam selbst gar nicht zum rauchen.
»Soll ich für dich Wache stehen?«, fragte Ratz. Vielleicht würden diese Leute seine Freunde werden, wenn sie merkten, dass auf ihn Verlass ist?
Der Junge nickte nur, hockte sich hinter den Baum und schob sich eine Zigarette in den Mund.
Jetzt hätten sie mir nur noch sagen müssen, wer schon kommt, dachte Ratz und hielt Ausschau nach Das-weiß-nur-der-liebe-Teufel. An den Papierflieger, der in seinen Haaren steckte, hatte er sich bereits gewöhnt.
»Kommt schon einer?«, fragte ein Mädchen, das einen gewaltigen Schal trug. Vor ihr hatte der Prinz umgehend Respekt, denn dieses Kleidungsstück musste einem Riesen gehört haben. Jeder, der einen Riesen erschlagen konnte, war mächtig und wenn er eins respektierte, dann Stärke. So hatte er es immer gelernt. Ratz sah sich um, ob „einer kommt“. Er wusste nicht genau, wonach er Ausschau halten sollte, aber so schwierig konnte das nicht sein. Das Fleckchen Erde lag Abseits vom eigentlichen Schulhof, direkt hinter einer Platte, an der sich eine ganze Stange von Kindern herumtrieb, die ein rundliches Objekt – allem Anschein nach ein rundes Hühnerei – mit einem Stück Holz verprügelten.
»Dort vorne kommt eine Bildungskraft«, sagte Ratz und entzündete seine Hände mit Feuer. »Muss ich sie vernichten?«
Die Jugendlichen raunten erschrocken auf und löschten ihre Zigaretten.
»Nee, lass mal«, sagte die Riesentöterin. »Sonst heißt es Nachsitzen.«
Interessant, dachte Ratz. Ungehorsam wird mit einem Oxymoron bestraft. Er kicherte. Jemanden sitzen zu lassen, obwohl er bereits aufgestanden ist, das war abgrundtief böse.
»Nun gut«, sagte Ratz und ließ seine Hände erlöschen.
»Sagt mal, habt ihr hier geraucht?«, fragte die Lehrkraft.
»Nein«, antworteten alle Jugendlichen im Chor.
Das war Freundschaft! Sie logen wie gedruckt!
»Ist das wahr? Ich habe doch gerade gesehen, dass die Hände des neuen Schülers in Flammen standen. Hat sich da einer eine Zigarette dran angezündet?«
»Dabei handelte es sich um das Feuer der ewigen Verdammnis, das Sie in den Wahnsinn getrieben und Ihnen selbst nach dem Tod Schmerzen bereitet hätte!«, grollte Ratz. Seine Augen färbten sich schwarz.
Der Lehrer schien davon unbeeindruckt zu sein. »Endloser Schmerz hin oder her – hat sich einer daran eine Zigarette angezündet?«
»Nein, Herr Lehrer«, sagten alle Schüler.
Alle bis auf Cindy. Cindy warf sich auf dem Boden herum und schrie.
»Aha! Da haben wir ja eine, die sich am Feuer der ewigen Verdammnis verbrannt hat!«, sagte der Lehrer und zeigte auf das Mädchen. »Eindeutig überführt, würde ich sagen!«
»Mein Gesicht!«, schrie Cindy. »Es schmilzt!«
»Gut gemacht, Ratzputin!«, sagte Lewis und schubste den Jungteufel.
»Ja, echt gut gemacht. Nicht nur, dass Cindy jetzt für immer leiden muss, wir dürfen auch noch nachsitzen.«
Ratz verstand die Welt nicht mehr. Gerade eben genoss er noch das Wohlwollen seiner Mitschüler und plötzlich hatte sich der Wind gedreht. All diejenigen, denen er zuvor den Rücken gedeckt hatte, hackten nun auf ihm herum. Sie rempelten ihn mit der Schulter an oder traten auf seine Füße, wobei sie dämlich lachten. Nur Cindy nicht, denn die rollte an ihm vorbei und blickte in die Ferne, ihrer Verdammnis entgegen.
»Ich sehe dich nach dem Unterricht beim Nachsitzen«, sagte der Lehrer, wovon Ratz sich herausgefordert fühlte.
»Und wenn ich nicht komme?«, fragte er und grinste zahnig.
»Dann ...«, sagte der Lehrer und beugte sich nach vorne. Diesmal wich Ratz ein wenig zurück. »... musst du morgen nochmal nachsitzen.«
Nachsitzen war kein Oxymoron. Es bedeutete ganz einfach, dass man ein bisschen länger in der Schule warten musste. Ratz verstand den Unmut seiner Mitschüler nicht. Es spielte doch keine Rolle, ob sie eine Stunde früher oder später aus der Schule kamen. Die Jungs, die vor ihm saßen, drehten sich ständig zu ihm um und versuchten, düster zu blicken, was Ratz ein wenig erheiterte. Dieser Tag war nicht besonders gut gelaufen, resümierte er. Er hatte keine Freunde gefunden und mit diesem Spielen war das auch so eine Sache. Anscheinend machte man das ab einem gewissen Alter nicht mehr, denn dann galt es als modern, wenn man nach der Schule einen Rucksack aufsetzte und ziellos in der Gegend herumlief, wobei man so laut sprach wie man nur konnte. Allerdings keimte in ihm Hoffnung auf, als Lewis das Wort an ihn richtete:
»Nach der Schule bist du dran, Ratzputin!«, sagte er. »Wir mischen dich auf und du wirst Staub fressen!«
Das klang doch ganz genau nach dem, was er in der Unterwelt gehört und was er heute zur Mittagspause beobachtet hatte. Eine Gruppe von Kindern rannte nämlich vor einem anderen weg, bis der Einzelgänger eins von den anderen erwischte. Dann gab es eins auf die Fresse und plötzlich rannte das Kind, das eben noch von allen gemieden worden war, vor dem Balg weg, das eins auf die Rübe bekommen hatte. Ratz verstand die Regeln nicht gänzlich, aber da es dabei zu körperlicher Gewalt kam, war er sich sicher, dass dies etwas mit Spielen zu tun hatte. Er lehnte sich auf den Tisch und zog die Brauen rauf.
»Einverstanden«, sagte er, »aber nur, wenn … „Du es bist“.«
»Alter, drohst du mir?«, rief Lewis und stand auf. Er breitete die Arme aus und war lauter als zuvor. »Ich mach dich alle! Ich hatte deine Mutter! Ey, Alter, was willst du, so ein Kunde, du Opfer, so ein Kunde!«
Es schien sich um einen Ritualgesang zu handeln, den die jungen Menschen anstimmten, wenn sie sich auf ein Spiel vorbereiteten. Ratz hatte diese Ansammlung von Wörtern heute bereits mehrfach gehört und sie warfen einige Fragen auf. Was genau meinte Lewis, wenn er sagte, dass er seine Mutter gehabt hätte? Ratz kannte sie nicht einmal. Deutete er damit an, dass sie in einem Verwandtschaftsverhältnis standen? Schließlich hatte auch Ratz seine Mutter – und wenn Lewis behauptete, er hätte sie auch gehabt, machte sie das zu Brüdern – das hielt er für äußerst unwahrscheinlich. Die Frage, was Ratz von ihm wollen würde, verwirrte den Teufel zutiefst. Lewis besaß nichts, was Ratz nicht auch hatte und wenn doch, dann wusste er es nicht. Schließlich war er nie bei ihm zuhause gewesen.
»Ich hoffe nur, dass wir danach Freunde sein können!«, sagte Ratz, der in einer verträglichen Stimmungslage war.
»Ey, Alter, so ein Kunde, nicht zu glauben, so ein Opfer, Mann, was willst du? So ein Kunde, Alter, Alter, echt, so ein Kunde«, sagte Lewis. Er schien tief in sein Mantra versunken zu sein, also wollte Ratz ihn nicht bei seinem Gebet stören.
Er freute sich auf das Spiel, das nach der Schule stattfinden sollte.
Die Jungen aus seiner Klasse schienen das Spiel nicht ganz begriffen zu haben. Sie tänzelten zwar um Ratz herum und schlugen nach ihm, aber weglaufen tat danach keiner. Sie lachten nur, stießen wieder nach vorne und schubsten ihn. Der Teufel ertrug die ganze Sache mit Fassung. Einmal schlug Lewis zu hart nach ihm, woraufhin Ratz ihn zurückstieß. Leider setzte er dabei ein wenig zu viel Kraft ein, denn sein Mitschüler wurde gegen eine Hauswand geschleudert, als hätte man ihn aus einer Kanone abgeschossen. Die anderen Jungs hielten sofort inne und gingen auf Abstand.
»Ihr habt das Spiel nicht verstanden!«, blaffte Ratz. Die ganze Angelegenheit stimmte ihn so wütend, dass die Hornansätze auf seiner Stirn nach vorne traten. »Einer schlägt, dann rennt er weg und ich jage ihn. Was ist daran so schwer?«
»Hnah«, machte Lewis und rutschte an der Wand hinab wie frischer Vogelkot.
»Spiel?«, fragte ein anderer Schüler. »Du hältst das für ein Spiel? Alter, wir hassen dich! Wir wollen dir auf die Fresse hauen!«
Ratz' Magen zog sich zusammen. Vom Hass verstand er was und er wusste wie intensiv dieses Gefühl brannte. Es war unerträglich, als ob man eine Hand in Feuer gelegt hätte – man musste etwas dagegen unternehmen, um schwerwiegende Schäden zu vermeiden.
»Verstehe«, sagte Ratz. Sein guter Plan erwies sich als ein totaler Reinfall. Das war kein Spiel und niemand wollte sein Freund sein.
Wenn sie dich heute nicht ernst nehmen, nehmen sie dich niemals ernst, dachte er. Seine Augen färbten sich schwarz. Wieder zeigte sich niemand beeindruckt davon.
»Uuuuuh, da färben sich seine Augen schwarz!«, sagte ein Freund von Lewis.
»Mmmmmmhf«, machte Lewis, der mit dem Gesicht voran am Boden lag und ein wenig mit den Fingern in der Luft herum wackelte.
Ratz erkannte, dass es schon zu spät war.
Sie nahmen ihn nicht ernst.
Das würden sie auch nicht.
Vielleicht war es ganz gut, dass er in seiner Unterwelt bisher alleine gewesen war. Diese Erfahrung schmerzte nämlich und Schmerz härtete nicht ab, er machte angreifbar. Das konnte er sich nicht erlauben, wenn er irgendwann die Position seines Vaters übernehmen wollte. Dazu war Stärke von Nöten und davon hatte er genug. Wenn er von Lewis eine Sache gelernt hatte, dann, dass die Leute dem Stärksten folgen. In seinen Augen war der richtige Zeitpunkt gekommen, um den Menschen zu zeigen, wem dieser Titel gehörte.
»Gut, dann werden wir keine Freunde«, sagte der Prinz. »Zumindest nicht auf die herkömmliche Art und Weise. Schnallt euch an.«
Ratz murmelte eine Formel vor sich hin. Zuerst fing der Papierflieger in seinen Haaren Feuer und im Anschluss …
Im gesamten Herrschaftsgebiet der Regulation sprach sich herum, dass Upper Downhaven bei einem Angriff aus der Unterwelt dem Erdboden gleich gemacht worden war. Aktivisten, die sich für die Mensch-Dämon-Beziehungen aussprachen, pochten auf einen Einzelfall und bestanden darauf, dass die meisten Monster aus den Tiefen nicht aggressiv waren. Auf jeden angriffslustigen Dämon kamen tausende, wenn nicht hunderttausende, die keiner Fliege etwas zu Leide tun konnten. Das reichte dem kleinen Mann jedoch nicht. Viele gingen auf die Straße, um gegen die Portalpolitik der Regulation zu demonstrieren. Es könne nicht sein, so der allgemeine Tenor, dass diese Wesen Portale aufmachen konnten, wo und wann sie wollten.
So unterschiedlich die Meinungen bei der Lösung des Dämonenproblems auch waren, so schnell war man sich bei der Suche nach einer Ursache einig: Zwei Überlebende, eine gewisse Frau M. und das Mädchen C., die man in den Trümmern des Schulgebäudes gefunden hatte, sprachen davon, dass der mutmaßliche Täterdämon das Spiel „Fanger“ mochte und dass er aufgrund seiner Herkunft Probleme damit hatte, sich mit seinen Mitschülern zu verständigen, wodurch es zu Missverständnissen gekommen war.
Damit war die Frage nach der Ursache geklärt. Alles, was Rang und Name hatte, stürzte sich auf diese Unart und man predigte, dass man alle Kinder vor den schrecklichen Folgen einer Runde Hasch-mich schützen müsse.
Schnell machte es im ganzen Reich die Runde: Wer Fanger spielt, der vernichtet kurz darauf ganze Landstriche.
»Oh mein Gott, das ist so schrecklich!«, rief ein Verdammter.
»Macht, dass es aufhört! Oh, bei allem, was heilig ist, macht das es auf-hö-hö-hört!«, klagte ein weiterer.
»Du bist!«, rief Ratz, zimmerte dem ersten Verdammten eins auf die Rübe und rannte einen Hügel hinauf, als wäre er von der Tarantel gestochen.
»Nein!«, gellte der Verdammte, der ein Hemd trug, auf dem Palmen abgebildet waren. »Nicht schon wieder!«
Vielleicht hassen sie es jetzt, dachte Ratz, aber wir haben hier unten eine Menge Zeit. Irgendwann mögt ihr es, dann mögt ihr mich und bald sind wir Freunde.
Freunde …
Auch Teufel dürfen so etwas haben.
Sie akquirieren sie nur anders.