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Ratz der Teufel
Wenn das Dörfchen Topf einen Ruf genossen hätte, dann wäre es als der uninteressanteste Nebenschauplatz der Welt bezeichnet worden. Es lag, wie es sich für einen langweiligen Ort gehörte, irgendwo fernab der Hauptstraße, versteckt hinter Tannen und eingeklemmt zwischen Gebirgen, die allesamt viel fesselndere Geschichten zu erzählen hatten. Topf bewirtschaftete Weizenfelder, da sich die faszinierenden Pflanzen lieber dort aufhielten, wo man etwas vom Leben mitbekam. Auf dem Bauernhof lebten all die Standarttiere, die man an jeder Ecke hinterher geworfen bekam: Kühe, Schweine, Schafe, die Katze und der Hund des Bauernpärchens, ein paar Hühner und ein Hahn, dem es zuwider war, am Morgen zu krähen. Es gab auch einen Markt in Topf, auf dem es die folgenden Waren zu erstehen gab: Weizen, Brot und Milch.
Diph Fold, der Gründer von Topf und ehemaliger Held, stand auf einem nahen Hügel und fragte sich, wie es so weit gekommen war. Als er den ersten Spatenstich gesetzt hatte, hatte er Großes im Sinn. Er wollte ein florierendes Örtchen errichten, das sich mit seinen landwirtschaftlichen Erzeugnissen einen Namen machte. „Dieser Weizen, diese Milch und dieses Brot kommen aus Topf“, sollten die Menschen sagen. Auf den Verpackungen wäre sein Gesicht gewesen, das dem Betrachter verwegen zuzwinkert, als würde es ihm nur durch Mimik vermitteln wollen, dass die Zutaten seiner Produkte ein Betriebsgeheimnis waren. Zu dumm nur, dass Weizen, Brot und Milch nicht wirklich zu den Produkten gehörten, die unheimlich schwer zu erzeugen waren. Jeder Hänsel machte das und meistens machten es diese Hänsel sogar noch besser als Diph, der sich nur auf die Zugkraft seines Namens verlassen hatte. Die Regulation verstand bei wenig lukrativen Dörfern überhaupt keinen Spaß: In einem knappen Schreiben entzog man Topf den ursprünglichen Namen und erklärte, dass jedes weitere Wort eine Verschwendung von wertvollem Papier wäre. Als Ersatznamen wies man dem Dorf das Objekt zu, das sich gerade in Griffreichweite befand, als der Brief verfasst wurde und beließ es dabei. Diph sah dem offiziellem Schreiben an, dass der Verfasser wesentlich wichtigere Dinge im Kopf hatte, denn mitten im Satz war Schluss. Ein Strich zog sich quer über das Papier, als wäre der Autor während des Schreibens aufgestanden und gegangen. Der Sekretär des Sekretärssekretären hatte nicht mal richtige Tinte benutzt, das sah und roch Diph sofort.
Eine Woche nach der Zwangsumtaufe war Topf vom Schauplatz zum Nebenschauplatz degradiert worden. Das bedeutete Folgendes: Alle Freunde von Diph verloren ihre Namen und ihre Persönlichkeit. Von diesem Tag an waren seine Freunde Mary, Peter, Isabelle, Hugo, Nick und Trudi nur noch als durchnummerierte Bauer und Bäuerin, Wirt und Schmied bekannt. Als Bürgermeister hatte Diph das Recht, seinen Namen zu behalten, doch er durfte durchziehenden Helden keine Arbeit mehr geben und musste sie auf interessantere Orte aufmerksam machen.
Diph seufzte schwer und machte sich auf den Weg ins Dorfinnere, um mit Händler für allgemeine Waren zu sprechen. Wenigstens die Gehwege sind in Ordnung, dachte er bei sich. Sie waren nicht kaputt, aber auch nicht auffällig, ganz einfacher Standard, der beim Durchqueren des Dorfes nicht in Erinnerung bleiben sollte. Es wäre der Sache nicht zuträglich, wenn das Pferd eines Helden bei der Durchreise hängen blieb, denn dann bestand die Chance, dass sich der Name Topf im Hirn des Geschädigten einnistete.
»Guten Abend, Herr Fold«, sagte Betrunkener #1, der mit seinen Freunden #2 und #3 den ganzen Tag auf einer Bank vorm Wirtshaus saß.
»Guten Abend«, sagte Diph, der die drei alten Männer noch als Barry, Henry und Louis kannte. »Wie geht es euch?«
»So lala«, antwortete #1 und gab damit die allgemein gültige Antwort. In Topf durfte es niemandem gut oder schlecht gehen, denn gutgelaunte Menschen hatten die Angewohnheit, witzig und umgänglich zu sein, während schlechtgelaunte Personen zu Ausfällen neigten, an die man sich hätte erinnern können.
»Mhm-mhm«, machte Diph.
»Ich glaube, ich habe im hohen Gras etwas glitzern sehen«, sagte #2.
»Vergesst nicht, überall nachzusehen. Meistens verbergen sich Schätze da, wo sie niemand vermutet«, fügte #3 hinzu.
Diph lächelte stolz. Die Männer hatten ihre Texte gelernt und sie behalten. Er wollte seinen Weg gerade fortsetzen, als sich der Himmel rot färbte.
»Jedes Dorf hat einen Händler, bei dem Ihr überflüssige Beute verkaufen könnt!«, rief #1 und zeigte zum Himmel hinauf.
Ein tiefschwarzer Steinbrocken fiel vom Himmel und zerschmetterte den Stand von Händler für allgemeine Waren, der sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte.
»Ich kaufe und handle!«, rief er und ruderte mit seinen Armen in der Luft herum.
Der Stein lag in einem Krater und pochte wie ein unangenehmer Kopfschmerz. Er raunte wie eine Orgel, auf der der Organist ständig dieselben tiefen Töne spielte. Als Held im Ruhestand wusste Diph sofort Bescheid, mit was er es zu tun hatte.
»Hurra!«, rief er. »Wir werden angegriffen! Macht für unsere Gäste ein Glas Milch fertig. Oh, legt auch etwas Brot raus. Wenn ihr schon dabei seid, holt auch gleich ein Weizenbündel.«
Der Stein begann zu schweben und klopfte dabei wie ein Herz. Jeder Schlag erzeugte ein sichtbares Energiefeld, das von Puls zu Puls größer wurde.
»Auf Eurer Karte könnt Ihr Markierungen setzen, um Orte von Interesse hervorzuheben?«, fragte Betrunkener #1.
»Das ist völlig richtig«, bestätigte Diph. »All deine Vermutungen, die du gerade geäußert hast, sind zutreffend und werden sich gleich bestätigen.«
Als sich das Portal öffnete, klang es, als würde jemand Aluminium zerreißen. Dunkle Energie trat ins Dorf, die sich wie eine Welle ausbreitete und ein Geräusch erzeugte, das nach panisch schreienden Passanten klang. Ein unheilvoller Nebel waberte aus dem brennenden Tor und legte sich wie ein Film über den Boden. Er war so dick, dass Diph ihn an den Knöcheln spüren konnte.
Jemand lachte unheilvoll.
»Teufel!«, rief Diph mit seiner pompösen Heldenstimme, die er seit Jahren nicht mehr verwendet hatte. »Zeige dich, damit ich in dein übles Antlitz blicken kann!«
Durch das Tor trat ein freundlich lächelnder Mann, der seine schneeweißen Flügel wie einen Mantel um seinen Körper gelegt hatte. Seine goldenen Haare fielen wie Seidenfäden auf seine Schulter.
»Seid gegrüßt, Bewohner dieses Dorfes«, sagte er. Seine Stimme klang wie eine sanfte Harmonie. »Ich bin der Engel Amarell und nicht die Person, auf die Sie gerade warten. Die Ankunft unseres Prinzen verzögert sich ein wenig, denn er ist mit seinem Schal an einem Nagel hängen geblieben, als er durch das Portal treten wollte.«
Die Dorfbevölkerung schwieg. Jemand räusperte sich.
»Wie, „er ist hängen geblieben“?«, rief jemand im Hintergrund, der aus seiner Rolle fiel.
»Beim Portalbau wurde gepfuscht«, sagte Amarell. »Da hat so eine Latte hoch gestanden, ein Nagel war nicht richtig drin und der Prinz ist daran hängen geblieben. Dabei hat er sich natürlich ordentlich erschreckt.«
Schweigen legte sich über die Anwesenden wie eine Federdecke.
»Das ist jetzt aber wirklich eine Invasion der Unterwelt und kein Scherz der Regulation?«, fragte Diph.
»Oh, das ist kein Scherz, mein Herr. Sie werden gleich gehörig angegriffen.« Amarell nickte weise.
»Na, so ein Glück. Ich dachte schon, die wollen uns wieder auf den Arm nehmen.«
»Da müssen Sie sich keine Sorgen. Ah, hier kommt unser Prinz.«
Der Engel machte einen höflichen Schritt beiseite und wartete.
»Die Trompete, Amarell«, flüsterte jemand.
»Oh. Ja. Natürlich.« Der Engel griff in das Portal wie in einen Schrank. Als er seine Hand zurückzog, hielt er die erwähnte Trompete in der Hand und spielte eine Melodie, die einer Fanfare glich. Jemand warf eine Handvoll Konfetti durch das Tor.
Darauf folgte wieder das unheilvolle Lachen.
Durch das Tor trat …
Ein kleiner Junge, den Diph auf zehn, vielleicht elf Jahre schätzte. Er trug natürlich feuerrote Kleidung, auf die gelbe Flammen genäht waren und weil es ihm an roter Haut mangelte, hatte er sich die Augenränder schwarz geschminkt. Die Farbe war etwas verlaufen. An seiner Stirn zeichneten sich kleine Rundungen ab, die irgendwann einmal Hörner werden würden. Als Ersatz für das fehlende Markenzeichen jedes Teufels hielten seine feuerroten Haare her, die er mit Gel zu etwas hergerichtet hatte, das man als Horn durchgehen lassen konnte. Der Junge trug einen riesigen Schal, um über seine geringe Körpergröße hinweg zu täuschen.
»Ich bin Ratz!«, rief der Teufel. Seine Stimme war hell, aber schon ein bisschen kratzig. »Ich bin gekommen, um diese Stadt im Namen der Unterwelt zu unterwerfen! Fürchtet euch, Bürger von Snowbrooks!«
»Haben Sie dafür einen Antrag gestellt?«, fragte Betrunkener #2.
»Ein Teufel stellt keinen Antrag! Ein Teufel nimmt sich, was er möchte!«, schrie Ratz und verschränkte die Arme. Er zeigte dem Mann seine Schneidezähnchen, die … schon ein wenig spitz waren. Aber nicht sehr. Vielleicht so sehr, dass man damit bei einer Faschingsveranstaltung als Vampir durchgehen konnte, wenn man die anderen darauf hinwies, was man darstellen wollte.
»Was für eine unverschämte Göre!«, schimpfte Frau des Wirts.
»Außerdem ist das nicht Snowbrooks. Du bist in Topf, Kleiner«, fügte Wirt hinzu.
»Topf?« Ratz neigte den Kopf. Es ratterte im Getriebe des Teufels. »Oh, natürlich, Topf. Ich werde dieses …« Er schnippte und zeigte auf Diph.
»Dorf.«
»Dorf erobern, um es als Außenposten für meine bösen Machenschaften zu benutzen! Das gehört alles zu meinem Plan! Fürchtet mich!«
Eine Wüstenhexe, die ein Talent für dramatische Auftritte hatte, sprang aus dem Portal und rollte zwischen Ratz und der Dorfbevölkerung hindurch. Amarell setzte die Trompete an und spielte eine Siegesfanfare, die vielleicht ein paar Takte zu schnell daherkam. Im Anschluss explodierten zwei kleine Böller.
Das half der Stimmung nicht unbedingt auf die Sprünge. Ein alter Mann schob sich durch die Menge nach vorne.
»Der hat doch da hinten –«, murmelte er und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf Ratz. »Du hast doch da hinten geheult! Was bist du denn für ein Teufel, sag mal?«
Ratz rollte mit den Augen und streckte dem vorlauten Alten die Zunge raus. »Ich bin an einem Nagel hängengeblieben und habe gedacht, dass mich jemand festhält! Da hab ich mich erschreckt!«
»Invasion der Unterwelt am Arsch!«, schimpfte der Alte. »Ich habe gehofft, dass hier endlich mal etwas passiert und jetzt haben wir es mit dem da zu tun! Der gehört nicht an die Spitze einer Invasion, sondern ins Bett!«
»Ich bin aber noch nicht müde!«, gellte Ratz.
»Bleib ruhig, Dorfältester«, sagte Diph. »Er ist ein Prinz der Unterwelt, egal wie er aussieht. Das kann uns helfen, uns endlich wieder einen Namen zu machen.«
Diph musterte den jungen Teufel, der versuchte, irgendwie bedrohlich zu wirken. Er wusste genau, was er zu tun hatte.
Der oberste Regulator Vincent blickte bedeutungsschwanger aus seinem Fenster. In den letzten Tagen hatten sich die besorgniserregenden Berichte aus dem Osten stark gemehrt. Inzwischen verging keine Stunde, ohne dass neue Informationen zu ihm drangen. Bisher hatte Vincent versucht, die Sache klein zu reden, doch allmählich wurde die Bevölkerung aufmerksam und er sah sich zum Handeln gezwungen. In seinem Büro saß der erfahrenste Jäger, den die Gilde entbehren konnte: Geoff. Ein Mann weniger Worte, der malerische Landschaften verabscheute.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Geoff. »Sie haben mich in Ihr Büro bestellt und gesagt, dass es wichtig ist. Jetzt stehen Sie seit einer Stunde am Fenster und sagen nicht ein einziges Wort.«
»Die Sache ist so dringend«, sagte Vincent, drehte sich um und nahm seinen Zylinder ab, »dass ich sie mit dieser bedeutsamen Geste bildlich darstellen musste.«
»Eine volle Stunde lang?«
»Sie ist wirklich wichtig. Da kann man gar nicht lange genug in die Ferne starren.«
»Jetzt rücken Sie schon mit der Sprache raus. Zeit ist Geld.«
»Uns erreichen Berichte aus dem Osten. Angeblich ist ein Teufel aus der Unterwelt in unsere Welt eingedrungen, um uns alle zu unterwerfen.«
Geoff zog eine Braue hoch. Ein Teufel war eine Angelegenheit für eine ganze Armee, nicht für einen einzelnen Jäger.
»Ich sehe die Besorgnis in Ihrem Blick, Jäger. Die Situation ist ernster, als Sie glauben.« Vincent nahm an seinem Schreibtisch platz und faltete die Hände. »Der Teufel ist in einem Nebenschauplatz gelandet, dem überhaupt niemand Bedeutung zugesprochen hat. Die Leute dort sind jetzt natürlich beflügelt von ihrer rasant wachsenden Bekanntheit und lassen den Teufel nicht mehr gehen.«
Geoff nahm sich einige Erdnüsse, die der oberste Regulator in seinem Sprechzimmer anbot. Er lauschte.
»Wenn wir uns nicht beeilen, gewinnt dieses Dorf an Bedeutung und was das für uns alle bedeutet, muss ich Ihnen nicht sagen.«
»Doch.«
»Ihr Auftrag ist ganz einfach: Gehen Sie nach Wie-auch-immer-das-Nest-hieß und holen sie den armen Teufel da raus.«
»Warum?«
»Einen Teil Ihres Soldes erhalten Sie im Voraus, weil wir wissen, was für eine schwierige Aufgabe Sie erwartet.«
»Ich habe keine Ahnung, was …«
»CLANCY! Wie hieß dieses Nest nochmal?«
»Welches Nest?«, rief einer im Vorraum.
»Na, die mit dem Teufel da.«
»Oh, äh. Frank! Wie hieß dieses Nest nochmal?«
»Welches Nest?«
»Genug!« Geoff schlug so kräftig mit den Händen auf den Tisch, dass die Erdnussschale einen Satz machte. »Wenn ich mich auf diesen Schwachsinn einlassen soll, müssen Sie mir sagen, worum es geht!«
»Diph Fold nervt einfach nur«, sagte Vincent wie aus der Kanone geschossen. »Wir haben ihn da oben geparkt, damit er uns in Ruhe lässt. Sie wissen ja nicht, wie uninteressant dieser Mann ist. Seine Geschichten laufen auf nichts hinaus und sind einfach nur lang. Er hat als Held überhaupt nichts erreicht! Jetzt fällt ihm dieser Glücksfall in den Schoß, was er natürlich ausnutzt, um sich wieder ins Gespräch zu bringen. Das können wir nicht zulassen, Jäger. Bevor wir uns versehen, veröffentlicht der Kerl ein Buch, das ganze Generationen zu Tode langweilen wird.«
»Ich kenne Diph nicht. Warum sollte mich das interessieren?«
»Er liebt ausschweifende Landschaftsbeschreibungen.«
»Den Kerl mach ich alle.«
»Topf!«, rief einer. Geschirr klimperte.
Diph Fold stand auf Ratz‘ Käfig, wedelte mit einem Stab in der Luft herum und stemmte eine Hand in die Hüfte. Beschwingte Reden schwingen war ein Talent, welches ihm von seiner Mutter in die Wiege gelegt worden war und von dem er in den letzten Tagen ausgiebig Gebrauch gemacht hatte. Seit sich herumgesprochen hatte, dass dem Helden ein Teufel in die Hände gefallen war, drängten sich die Touristen nach Topf, um die schreckliche Kreatur zu sehen.
Am Einschlagskrater waren Absperrungen aufgestellt worden, die neugierige Besucher vor sich selbst schützen sollten. Der immer noch pulsierende Stein wurde regelmäßig mit Wasser abgespritzt, da er eine ungewöhnliche Hitze absonderte, wenn man ihn zu lange aus den Augen ließ. Um den Ankunftsort des Prinzen hatten Buden aufgemacht, die schwarz angemalte Steine zu Spottpreisen verjubelten. Die Besucher rissen Händler für allgemeine Waren den Kram förmlich aus den Händen.
»Seht her, seht her!«, rief Diph und schlug mit seinem Stab gegen den Käfig. Ratz, der nicht wusste, wohin er fliehen sollte, kroch immer in die Ecke, die am weitesten von der Geräuschquelle entfernt war. »Ihr habt wandelnde Tote gesehen, Geister, Nordwölfe, Hexenmeister und gewaltige Fleischgolems, doch all diese Kreaturen verblassen im Angesicht eines wahren Teufels!«
Einige Besucher blieben vor dem Käfig stehen und zogen erschrocken Luft ein.
»Mehrere Tage haben wir mit dem Untier gekämpft. Viele brave Leute sind dabei gestorben!«
Diphs Stock deutete auf einen rasch angelegten Friedhof, auf dem die Bewohner von Topf auf die Schnelle einige Gräber ausgehoben hatten. Die Steine waren aus Pappmaschee. Einer fiel um und wurde vom Wind davon getragen.
»Letzten Endes hat das Gute triumphiert und wir konnten den Teufel mit seinen eigenen Waffen schlagen. Der Meister der List ist seinen eigenen Methoden zum Opfer gefallen und in unserer Gewalt, um euch, meinen lieben Besuchern, als Touristenattraktion zu zu dienen. DieseGeschichtekannmussabernichtwahrsein. AbweichungenzudentatsächlichenEreignissenunterliegenderMeinungsfreiheitunddemRechtaufUnterhaltung. SiedienenausschließlichzurErheiterungundUnterhaltungeinernichtnäherbezeichnetenKlientel.«
Die Zuschauer applaudierten und beobachteten den Teufel.
»Sieh sich nur einer diese Kreatur an.«
»Er ist der Prinz der List!«, sagte Diph. »Lassen Sie sich nicht von dem Eindruck täuschen, dass er verängstigt und traurig ist. Das gehört alles zu seinem Plan. Wenn Sie sich zu nah an den Käfig wagen, packt er Sie und zerreißt Sie in Stücke.«
»Das tue ich nicht! Holt mich hier raus!«, rief Ratz und rüttelte an den Käfigstangen. Diph hatte mitgedacht und sich ein magisches Gefängnis besorgt, um die Macht des Teufels im Keim zu ersticken. Ratz fühlte sich so machtlos wie ein Meerschweinchen. Er war schlapp und sein Magen knurrte. Gelegentlich warfen einige Passanten Brot nach ihm und buhten ihn aus, doch es war immerhin eine kleine Mahlzeit.
»Ja, kleiner Teufel. Du wirst mir dabei helfen, meine alte Bekanntheit wiederzuerlangen. Wenn mein Buch fertig ist, wird die ganze Welt davon erfahren, was für ein Haudegen ich wirklich bin!«
Oh nein, dachte Ratz. Die Geschichten, die er mir jeden Abend erzählt. Die sind so unglaublich langweilig, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich selbst in der Hölle gelandet bin.
»Seht nur!«, rief eine Zuschauerin. »Der Teufel weint.«
»Vermutlich erinnert er sich an die Dinge, die ich mit ihm machen musste, um ihn in diesen Käfig einzusperren.«
Die Menge jubelte Diph zu. Ein vermummter Mann mit Hut schob sich durch die johlende Meute.
»Oh, seht nur!«, rief Diph. »Ein Mitglied der sagenumwobenen Jägergilde. Sind Sie gekommen, um von mir zu lernen, wie man Teufel besiegt?«
Geoff musterte Diph und dann den Jungen im Käfig. Der oberste Regulator hat Recht. Der Kerl ist nervig, dachte er.
»Einen Teufel besiegt man nicht. Man flieht vor ihm.«
»Ganz im Gegenteil!«, sagte Diph und klopfte mit seinem Stock auf das Dach des Käfigs. Die Menschen jubelten.
»Das ist kein Teufel«, sagte Geoff. »Das ist ein Kind.«
»Ein kleiner Teufel. Nichts desto trotz …«
»Von mir aus. Allem Voran ist das ein Kind.«
»Ich bin 1000 Jahre alt!«, rief Ratz. Egal wie alt der Nachwuchs war, es gab immer den Standpunkt zu verteidigen, dass man doch „schon“ so-und-so alt und damit kein Kind mehr war.
Geoff wusste, dass Teufel langsamer wuchsen als Menschen. Sie hatten schließlich bedeutend mehr Zeit. »Spiel ihm nicht in die Hände, Kleiner.«
»Aber ich bin kein Kind. Ich bin ein Teufel!« Ratz wischte sich die Augen trocken und verschränkte die Arme.
»Ja, ein ganz großer und mächtiger Teufel«, sagte Geoff sanft, bevor er sich wieder Diph zuwandte. »Dir ist bewusst, dass irgendwann sein Vater nach ihm suchen kommt?«
»Den mache ich auch fertig.«
»Du weißt, dass der Kleine dein ganzes Dorf in Schutt und Asche legen wird, wenn dir irgendwann ein kleiner Fehler unterläuft?«
»Wie du sehen kannst, ist mein Dorf noch intakt. Deine Argumentation ist schlecht, Jäger.«
Geoff zog die Brauen zusammen und musterte Ratz. Welcher Teufel würde sich von einem Idioten wie Diph gefangen nehmen lassen? Was hatte sich der kleine Kerl nur dabei gedacht? Der Held war fest davon überzeugt, es mit einem Teufel aufnehmen zu können und das war viel erschreckender, als die Aussicht auf ein Buch voller aufgeblasener Heldengeschichten. Geoff musste handeln wie ein Jäger und nicht wie ein Söldner. Er zog seine Pistole und feuerte auf Diph, ohne den Helden anzusehen. Das glockenhelle Aufjaulen des Mannes verriet, dass er ihn empfindlich getroffen hatte.
Während Diph vom Käfig rollte und wimmerte, öffnete Geoff den Käfig und streckte seine Hand nach Ratz aus.
»Na, komm schon her, Kleiner. Ich hol dich hier raus.«
Ratz musterte den Jäger und stieß seine Hand beiseite. »Ich kann alleine gehen.«
Der Teufel schob sich an Geoff vorbei und sah sich im Dorf um. Die anwesenden Menschen verloren ihr Interesse an der Schaulust, die auf diesem Kontinent eine Grundsäule der Sozialpolitik geworden war, und widmeten sich der zweiten, ebenso tief in der Gesellschaft verankerten Reaktion: Sie rannten panisch herum und schrien wie am Spieß.
»Du solltest nach Hause gehen, Kleiner«, sagte Geoff ruhig. »So wie es aussieht, ist die Kavallerie gerade eingetroffen.«
Diese Aussage bezog sich auf den Engel, der mit bedächtigen Tempo vom Himmel herabsank und geräuschlos auf dem Boden aufsetzte.
»Amarell!«, rief Ratz und fiel dem Engel in die Arme. Geoff runzelte die Stirn. »Die waren so gemein zu mir.«
»Das habe ich gesehen, mein Prinz«, sagte Amarell.
Geoff wollte fragen, warum der Engel ihm nicht zur Hilfe geeilt war, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Es gab zu viele Dinge, die dagegen sprachen. Der Jäger wusste, dass Engel nicht befugt waren, in die Geschicke der Sterblichen einzugreifen, allerdings hatte dieses Exemplar keinen Heiligenschein, es schien sich also um ein gefallenes zu handeln. Ihm war auch gerade nicht nach einer langen Diskussion mit heiligen und unheiligen Kreaturen, also trat er nach vorne, holte einmal kräftig aus und schmetterte dem Engel seine Faust auf die perfekte Backe. Ratz schreckte zurück und sah alarmiert zu Geoff auf, doch der Engel machte eine beschwichtigende Handbewegung.
»Die habe ich verdient«, sagte er und lächelte warm.
»Überheblicher Sitzpisser«, sagte Geoff und schob sich eine Zigarette in den Mundwinkel.
Amarell neigte höflich den Kopf. »Wir gehen jetzt nach Hause, Ratz. Das war ja wohl nichts.«
»Ist gut«, sagte der kleine Teufel, nahm die Hand des Engels und öffnete mit einer wischenden Bewegung das Portal in die Unterwelt.
Geoff sah den beiden nach und gluckste kurz. Er wartete, bis das Tor wieder verschlossen war, um sich dem pechschwarzen Stein zu nähern. Die Hitze, die er bis eben noch abgesondert hatte, verzog sich allmählich.
Diph kam in den Krater gerollt und jammerte ihm die Ohren voll.
»Das waren Gummigeschosse, du Lusche«, sagte Geoff, hob den Stein auf und ließ ihn seiner Manteltasche verschwinden. »Aber lass mich dir eins sagen: Wenn in deinem Buch auch nur eine Landschaftsbeschreibung vorkommt, die länger als eine Seite ist, komme ich wieder und dann kracht es richtig.«
Der ehemalige Held sah zum Jäger auf. Seine Augen waren feuerrot und verheult. »Ist gut, Chef!«, quietschte er.
Geoff schwang sich auf sein Pferd und tauschte ein freundliches Nicken mit dem Helden aus, bevor er das Tier auf die Straße nach Hause ausrichtete.
»Komm, Kimba. Wir haben eine unendlich lange Reise voller generischer Landschaften vor uns. Vielleicht sollte ich einige Weizenfelder anzünden, wenn ich schon mal hier bin. Das gibt der Umgebung einen gewissen Touch.«
Diph quietschte noch ein »Bitte nicht« und sah dem Jäger hinterher, der dem Sonnenuntergang entgegen ritt und diesen mit Worten bedachte, die an dieser Stelle nicht erwähnt werden sollen.