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Rattengott

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21.01.2004
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Rattengott

Im Laufe einer Sekunde, eines Sekundenbruchteils sah er vor seinen geschlossenen Augen Planeten, Galaxien, Universen aus dem Nichts entstehen und vergehen, in einer gigantischen Explosion entstehen und einen Augenblick darauf ins Nichts zurückfallen. Eine Entwicklung von Äonen, vor seinem geistigen Auge auf einen für seinen unvollkommenen menschlichen Geist, der nur fähig war, in Sekunden zu denken, verschwindend geringen Anteil der Zeit. Er streckte die Hand aus, um den ewigen Lauf der Welten aufzuhalten, um die Welten, deren Anblick er bestaunen wollte, im Sein zu halten, für ewig, wenn es sein mußte. Doch all seine Mühe war vergebens. Fast fühlte er sich versucht, aus vollem Hals die letzten Jesusworte herauszuschreien: "Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?!!" Im letzten Moment besann er sich eines besseren. Er selbst war, als er vor langer Zeit - länger, als er sich erinnern konnte - die Erde verlassen hatte, zu einem Gott geworden, zu einem göttlichen Wesen. Er selbst hatte, durch die Konzentration solch einer Macht in einem einzigen Wesen, alle anderen Götter vertrieben. Wohin, das wußte er nicht. Bei wem hätte er also um sein Leben bitten sollen? Bei sich selbst, vielleicht. Denn er hatte sich so geschaffen, wie er selbst war. Doch es war keinesfalls so, daß er glücklich war. Er hätte, um alles in der Welt, um alles in den drei Universen, alles getan, um diese Entwicklung rückgängig zu machen, nur um einmal wieder die alte Erde besuchen zu können.
Vor langer, langer Zeit - länger, als er sich erinnern konnte - hatte er sogar noch einen Namen gehabt. Er hieß Adam... an seinen Nachnamen konnte er sich, obwohl er als göttliches Wesen sich doch an alles hätte erinnern müssen, bei der größten Willensanstrengung nicht erinnern, aber sein Vorname war klar und unauslöschlich in seinem Gedächtnis festgebrannt. Adam... Er war der letzte Mensch auf der Welt. Und nichts, was darauf hin deutete, wo und wie er seine Eva hätte finden können. Es gab keine Evas mehr auf diesem Planeten. Das war umso tragischer, als er noch niemals in seinem Leben eine Eva besessen hatte. Nicht einmal eine. Oh, sicher - es gab Ratten auf der Welt, davon der größte Teil weiblich. Die Frage war, wie sie sich fortpflanzen konnten, wenn es dafür viel zu wenig Männchen gab. Die Antwort war: Inzucht. Das war mehr, als er erwartet hatte. Das war ekelhaft. Ein Grund mehr, die Ratten als Spezies zu verfluchen. Es gab, wie gesagt, zu wenig Männchen; er kam da gerade recht. Und so kam es, daß er im Bett von ungefähr fünftausend Rättinnen landete, wobei es gar kein Bett gab. Sie machten es im Stehen. Wie er sich dazu hatte hinreißen lassen können, das war ihm ein Rätsel, da er keiner Rättin begegnet war, die sexuelle Lust in ihm wachgerufen hätte. Dazu waren sie alle zu häßlich. Sie überragten ihn alle um zwei Haupteslängen. Sie gingen aufrecht - weiß Gott, wo sie das gelernt hatten. Der atomare Holocaust hatte sie derart mutieren lassen, daß sie sich in fast allem von den normalen Ratten voratomarer Zeit unterschieden. Sie konnten sprechen, freilich eine sehr primitive Sprache, die mehr mit Entengeschnatter gemeinsam hatte als mit der Menschensprache. Trotzdem war sie verständlich, und er lernte schnell.
Je länger er unter ihnen wohnte, um so mehr wurde er selbst zu einer Ratte. Dennoch war ihm klar, daß er in seinen Grundzügen immer Mensch sein würde, und das machte ihn zu einem Fremdling in der eigenen Familie. Und zu einem Gott.
Rattengott nannten sie ihn.
Ja, das war er - ein Rattengott.
Auf den Tag genau zehn Jahre, nachdem sie ihn in ihren Stamm aufgenommen hatten, ging er fort. Es schmerzte ihn, denn er hatte sich im Grunde an sein Dasein als Ratte gewöhnt. Doch er spürte auch, daß die Tatsache, daß er als einziges Exemplar der Spezies Mensch den atomaren Holocaust überlebt hatte, eine größere Bedeutung hatte, als er sich zu Anfang eingestehen wollte. Er war zu etwas Höherem bestimmt.
Sie wollten ihm eine junge Rättin, die gerade das heiratsfähige Alter erreicht hatte, anvertrauen, doch er lehnte dankend ab.
Sie wußten nicht, daß er für immer gehen würde.
Aber so war es.

Vor einigen Tagen habe ich beim Durchqueren der Wüste ein Raumschiff entdeckt, halb vom heißen Sand begraben, und nur ein neugieriges Auge, wie ich es habe, konnte es entdecken. Die Zeit war nicht spurlos an ihm vorübergegangen, auch wenn es durch den Sand weitestgehend vor äußeren Einflüssen geschützt war. Es ließ sich, als hätte es nur auf mich gewartet, bereitwillig öffnen. Hatte das Äußere schon keinen größeren Schaden gehabt, so war das Innere, so weit ich meinen ungläubigen Augen trauen konnte, einwandfrei. Und von einer Besatzung keine Spur. Zugegeben, ich wußte nicht, wie lange das Raumschiff schon hier lag, geschweige denn wie es hierher gekommen war, aber das interessierte mich auch nicht weiter. Ich ging umher und durchschnüffelte das Raumschiff mit einer Unverfrorenheit und Frechheit, die für außenstehende, womöglich außerirdische Betrachter einen guten Vorwand geboten hätten, schnell einmal einen Krieg anzufangen. Ich hatte mir nicht einmal Argumente zurechtgelegt, falls ich entdeckt werden würde. Aber das wäre sowieso sinnlos gewesen. Es war keiner hier - dessen war ich mir hundertprozentig sicher. Nun, da ich vor der großen Apokalypse der Menschheit einmal, wie ich mich dunkel erinnern konnte, für wenig Geld in einem großen Raumhafen gearbeitet hatte und ich mich praktisch mit allen unter der Sonne existierenden Raumschiff- und Raumgleitertypen auskannte, beschloß ich, meine Kenntnisse hier und jetzt anzuwenden. Es war, gelinde gesagt, eine verrückte Idee... Idiotisch... Aber was blieb mir anderes übrig? Weitere Tage durch die Wüste marschieren? Wochenlang, vielleicht? Nein, ich wußte, ich hatte nichts zu verlieren. Außerdem hatte ich das merkwürdige Gefühl, daß das Raumschiff nur auf mich gewartet hatte.
Ich versuchte mein Glück.
Ich weiß bis heute nicht genau, wie ich es geschafft habe, aber Stunden später befand ich mich mit dem Raumschiff knapp einen Kilometer über der Wüste und konnte sogar, ganz klein am Horizont, da die Wüste meinen Augen sonst nichts bot, die Rattenkolonie erkennen, die ich vor einigen Tagen verlassen hatte. Ich hatte auf der Wanderung viele Male an meine alten, neuen Freunde zurückdenken müssen, häufig mit Wehmut verbunden, doch alle Wehmut war in dem Augenblick verschwunden, als ich mit dem Raumschiff über die Wüste hinwegsegelte. Auf zu neuen Ufern.
Hätten wir Gott nicht auch mit Atomwaffen in die Luft gejagt, hätte ich gesagt, der Himmel hätte es geschickt.
Also, noch einmal: auf zu neuen Ufern. Ich wußte sogar, zu welchen.

Wenige Jahre, bevor die globale Wirtschaft aus dem Ruder lief und die Welt vor die Hunde ging, hatte man in unmittelbarer Nähe des Jupitermondes Europa ein Wurmloch ausgemacht, das erste, das man nicht nur theoretisch bewiesen sondern sozusagen mit eigenen Augen entdeckt hatte. Wieder einmal hatte das gute alte Hubble-Teleskop der Astronomie gute Dienste erwiesen. Das Wurmloch erwies sich nicht als allzu groß, etwa vom Durchmesser eines halben Einfamilienhauses, schätzte man, und man wußte: je größer das Wurmloch, um so weniger stabil war es (theoretisch). Nun, was die Größe anbelangt, müßte sie für mein Raumschiff ausreichend sein. Was die Stabilität anging... da konnte ich mich natürlich irren. Es gab Wissenschaftler, die vermuteten, daß nur ein mikroskopisch kleines Wurmloch in der Lage wäre, längere Zeit zu überleben. Aber es war eben nur eine Vermutung, eine Theorie, und Zeit, diese zu bestätigen, hatten die Wissenschaftler der Erde aus bekannten Gründen nicht. Diese Aufgabe fiel jetzt mir zu - widerlegen oder bestätigen. Wobei ich nicht wußte, welche die angenehmere Alternative für mich war. Erwies sich das Wurmloch als nicht stabil, so war es ohnehin mein Tod. War es andererseits stabil, mochte es im schlimmsten Fall auch mein Tod sein, da ich nicht wußte, wohin es mich führte. Womöglich in ein Paralleluniversum? Das hörte sich zwar zugegebenermaßen wie reine Science Fiction an, aber in diesem Moment schien alles für mich möglich zu sein. Meiner Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Aber egal, auf welchen verschlungenen Pfaden mich die Zukunft führen sollte, jede dieser Möglichkeiten schien mir eine bessere Wahl zu sein als auf die entvölkerte Erde zurückzukehren. Wo mich ohnehin nur ein paar Ratten erwarteten.
Bevor ich wirklich über die logischen Konsequenzen meiner Entscheidung, nach Europa zu fliegen, nachgedacht hatte, hatte mein Schiff - ganz von alleine, wie es schien - den Kurs gewechselt und auf halbe Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, sobald wir aus der Atmosphäre herauswaren.

Es ist soweit. Wir sind gerade eine halbe Stunde unterwegs, die in meinem Bewußtsein zu einem Nichts zusammengeschrumpft ist und schon spüre ich, wie mich das Wurmloch angrinst. Wie ich so naiv sein kann, das zu machen, was noch kein Mensch vor mir gemacht hat. Wie ich so verrückt sein kann, einen Sprung zu machen, von dem ich nicht weiß, wie und wo er enden wird.
Ich kann das Wurmloch nicht sehen, wie auch, es ist ja, theoretisch, nichts anderes als ein umfunktioniertes Schwarzes Loch. Aber ich spüre seine Gegenwart.
Ich fliege an Europa vorbei. Ein in vielen Farben glänzender, etwas unförmiger Mond. Beileibe nicht mit unserem Erdenmond zu vergleichen. Ich wende mich zu ihm hin, um ihn zu grüßen. Eine kindische Geste, aber hier gehört sie einfach hin.
Und dann bin ich drin ---


Es ist nicht so, wie ich dachte. Es ist anders. Unbeschreiblich. Und ich spüre keine Gefahr, die von ihm ausgehen könnte. Im Gegenteil. Ich fühle mich sicherer als irgendwo anders im Universum.

Im Laufe einer Sekunde, eines Sekundenbruchteils sehe ich vor meinen geschlossenen Augen Planeten, Galaxien, Universen aus dem Nichts entstehen, in einer gewaltigen Explosion, und einen Augenblick darauf ins Nichts zurückfallen. Einen Augenblick hier, im nächsten vergangen. Kreisläufe des Lebens, unermeßliche Zeiträume - ein ewiger Kreis, der sich immer wieder an dieselbe Stelle zurückdreht.

Ich weiß nicht, wo das Wurmloch mich ausspeien wird.

Ich weiß nur eines: ich bin zu Hause.

 

Hallo benedam,

ich muß leider sagen, daß ich mit Deiner Geschichte gar nichts anfangen kann. Sie ist sprachlich zwar sehr stimmig, pathetisch und künstlerisch sicher auch enorm wertvoll (nehme ich an), inhaltlich, soweit man von Inhalt reden kann, aber völlig unverständlich.
Ein jungfräulicher Mensch hat sich selbst zu einem Gott erhoben (wie denn das???) und alle anderen Götter durch seine grenzenlose Macht verdrängt, kann aber die rasende Zeit nicht manipulieren. Trotzdem lebt er dann (nach dem Wechsel der Erzählerperspektive, hat das einen tieferen Grund?) für zehn normale Jahre unter Ratten und benötigt schließlich ein Raumschiff, um als allmächties Wesen durchs All zu fliegen. Kommt mir das nur so vor oder ist die Handlung wirklich so krude? Und was willst Du mir damit sagen? Was hat die inhaltliche Klammerung zu bedeuten?

Fazit: sprachlich OK aber bitte eine Gebrauchsanweisung anhängen.

Gruß

SilentSoul

 

Hallo benedem,
nach "Die nächste Odyssee" ist dies die zweite Geschichte, die ich von dir lese. Dein "philosophischer" Stil gefällt mir sehr gut, auch wenn ich es verwirrend fand, also du plötzlich die Erzählperspektive wechselstes, aber inhaltlich hat mich diese Geschichte leider nicht überzeugt. Der Anfang und das Ende gefallen mir sher gut, aber der Hauptteil der Geschichte hat mich enttäuscht. Da war "Die nächste Odyssee" um Längen besser. Was hat das mit den Göttern auf sich? Da muss ich SilentSoul Recht geben...
Und irgendwie passt das mit dem Hubble-Teleskop nicht in die Geschichte. Das sticht unangenehm heraus.
Also, wie gesagt, stilistisch finde ich - bis auf den Perspektivenwechsel - die Geschichte wieder toll, aber der Inhalt der Geschichte hat mich nicht angesprochen.
Werde mir jetzt "Metamorphose" zum Gemüte führen. Bin schon gespannt...
Gruß,
Heiko

 

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