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Rat mal, wer geklingelt hat
Wie in Zeitlupe sehe ich Rüdigers Tasse kippen. Der heiße Kaffee ergießt sich über den Tisch, seine Oberschenkel und tröpfelt dann aufs Parkett. Rüdiger springt auf. "Herrgott noch mal!"
"Der kann dir jetzt auch nicht helfen", sage ich ruhig. Nein, ich werde mich heute ganz bestimmt nicht aufregen. Es ist mein Geburtstag und ich habe mir vorgenommen, diesen Tag mit allen Sinnen zu genießen. Das Wetter verwöhnt uns mit frühlingshaften Temperaturen und Sonne pur. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so milden ersten November erlebt zu haben.
Wie aus dem Boden gewachsen steht Tante Elli im Raum. Kein Klingeln, kein Klopfen, nicht mal ein Räuspern als Vorwarnung. Sie bewohnt die obere Etage unseres Zweifamilienhauses. Leider hat sie auch noch mit ihren fünfundachtzig Jahren die Angewohnheit, immer im falschen Moment zu erscheinen. Eine Störung, die meinen Mann ganz und gar ärgerlich stimmt, immerhin liebt er es, sein Frühstück in Ruhe zu zelebrieren. Aber sicher kommt sie nur zum Gratulieren.
Mit einem grimmigen Brummen erwidert Rüdiger ihren Morgengruß, dann straft er sie mit Missachtung und verschwindet in der Küche unter dem Vorwand, einen Lappen holen zu wollen. Natürlich bin ich mir im Klaren: Für Ellis Erscheinen wird es nie diesen besagten günstigen Moment geben. Tante Elli, der persönliche Dorn im Auge von Rüdiger. Seit ich mich erinnern kann, gibt es zwischen den beiden Spannungen. Auf meine beharrlichen Fragen nach den Gründen hatte mir Rüdiger unlängst etwas widerwillig erklärt: "Schon immer wusste sie alles besser. Nur ihre Meinung zählt."
Nachdem mir Elli Ähnliches über Rüdiger anvertraut hatte, begriff ich endlich: Das Familiengeheimnis - eine Erbkrankheit. Keine Heilungschancen.
„Setz' dich doch, Elli!“, fordere ich sie auf. Die Rolle der freundlichen Moderatorin ist mir wie auf den Leib geschneidert.
Das kommt gar nicht in Frage, sie braucht Raum für ihren Auftritt. Gerne unterlegt sie ihre Bericht-
erstattung mit Arm- und Beinbewegungen. „Ich bin ja so aufgeregt. Ich hab' die ganze Nacht kein Auge zugemacht.“
Ich warte ab. Diese permanente Schlaflosigkeit ist mir bekannt.
Elli nun lauter: „Habt ihr denn gestern Abend das stürmische Klingeln nicht gehört?“
„Nö, ich hab' nichts mitgekriegt“, mümmele ich mit vollem Mund. Es bleibt mein Geheimnis, dass wir wieder mal vor dem Fernseher abgenockt waren.
„Erst hab' ich die Sprechanlage betätigt, dann bin ich halt die vielen Stufen runter bis zur Haustür und habe geöffnet.“
Mein Gatte erscheint im Türrahmen und ruft – für meinen Geschmack – eine Spur zu laut: „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, mitten in der Nacht die Tür zu öffnen?“
„Ich dachte doch, in der Nachbarschaft ist ein Notfall, weil es so schlimm Sturm geklingelt hat“, begründet sie ihr nächtliches Intermezzo.
„Der einzige Notfall bist du“, sagt er tonlos und schüttelt ungläubig den Kopf.
Ich werfe ihm einen strafenden Blick zu, der ihn ermahnen soll, das Alter und Tante Elli zu achten und seine Emotionen besser zu kontrollieren. Mich dürstet nach Aufklärung. „Wer hat denn nun draußen gestanden?“
„Na, drei Kerle, die waren sogar maskiert.“
Bei allem Respekt vor Tantchens Wahrnehmungssinn, aber seit Jahren ist sie ohne Lupe blind wie ein Maulwurf. „Maskiert?“, wiederhole ich ungläubig. „Und was wollten sie von dir?“
„Na, Geld und eine Schlafgelegenheit für einen von ihnen, verlangte der Rädelsführer.“
Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Sollten in unserem verschlafenen Dörfchen Kriminelle ihr Unwesen treiben? Unvorstellbar. Tante Elli musste unter Halluzinationen leiden. „Und was hast du dann getan?“
Sie wedelt aufgeregt mit den Armen. „Husch, husch, verschwindet! So hab' ich sie verscheucht und schnell die Tür hinter ihnen geschlossen.“ Sie ist stolz auf ihre Bauernschläue. Aber mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, was ich von dieser Räuberpistole halten soll.
Rüdiger geht es wohl nicht anders. „Du erlebst aber wilde Abenteuer“, spottet er über seine Kaffeetasse hinweg.
Ich werfe ein: „Stell dir vor, die hätten dir eine über den Schädel gezogen, die Bude leer geräumt und heute Morgen hätten wir die Bescherung gesehen!“
Tante erkennt den Vorwurf in meinen Worten, wendet sich gekränkt ab und brabbelt, schon in der Tür: „Naja, ich wollte es euch bloß mitteilen.“
Bravo! Und danke für die Geburtstagsglückwünsche! Es ist wie immer: Sie wirft uns einen Knochen hin, an dem wir uns die Zähne ausbeißen können. Wahrheit oder Erfindung, Bedrohung oder Hirngespinst? Rüdiger und ich malen uns in schillernden Farben aus, was alles hätte passieren können, weil das leichtsinnige Frauenzimmer mitten in der Nacht die Haustür geöffnet hatte. Wir reden uns die Köpfe heiß, wir kommen dennoch zu keinem Ergebnis. Ein Wort gibt das andere.
„Die alte Tappe wird entmündigt“, droht er und baut sich wie ein Feldherr vor mir auf.
Ich werfe ihm vor, zu wenig Verständnis für die Situation seiner Tante aufzubringen. „Du könntest dich ruhig ein bisschen um sie kümmern.“
Er unterstellt mir zu viel Solidarität mit seiner Feindin Elli. Dann giftet er mich an: „Zieh' du doch bei ihr ein, du …, du … Mutter Teresa der Alten und Einsamen!“ Der Hieb sitzt.
Ehe wir uns versehen, stecken wir in einem Ehestreit, der nur durch räumlichen Abstand geschlichtet werden kann. Ich fühle mich missverstanden und will nur noch meine Ruhe. Ein Herbstspaziergang ist die Rettung. Die Sonne soll mich wärmen und der Wind meinen Kopf frei pusten.
„Ich lass' mich scheiden, du Neandertaler“, brülle ich durchs Treppenhaus, bevor ich die Haustür zuknalle.
Rüdiger und ich sitzen beim Abendessen. Wir schweigen. Nicht nur, weil man mit vollem Mund nicht sprechen sollte. Wir vermeiden Blickkontakt. Verdis Gefangenenchor singt diskret im Hintergrund.
Da steht Tante Elli vor uns. Rüdiger springt vom Stuhl hoch. Geschwind ergreife ich seinen Arm und halte ihn fest, weil ich befürchte, er wolle Elli den faltigen Hals umdrehen. Ein Todesfall am Geburtstag hätte mir noch gefehlt.
Wie stets bringt sie wichtige Neuigkeiten zur Unzeit. „Ihr Kinder, ich weiß jetzt, wer gestern Nacht an unserer Haustür war. Sie haben es gerade im Fernsehen gebracht.“
Wild purzeln die Gedanken durch mein Hirn. Also doch keine erfundene Story von Tante, um Aufmerksamkeit zu erzwingen, sondern eine reale Bedrohung. Nicht auszudenken, an welcher Katastrophe wir vorbeigeschrammt sind. Hat die Polizei die Gangster nun endlich gefasst. Wie tröstlich. Und die Tagesschau hat darüber berichtet.
Elli reißt mich aus meinen Überlegungen. „Es waren Hallorbien.“ Dann verlässt sie würdevoll das Zimmer. Bei der Kreation des Slogans ´in Würde altern´ hat sie offenbar Pate gestanden.
Die Spannung fällt von uns ab, wir brechen in Gelächter aus.
„Hallorbien, Hallorbien“, japst Rüdiger und hält sich den Bauch.
Dieses Spektakulum hatten wir ganz und gar aus den Augen verloren.