- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Rastlos
„Hast du die Schwimmflügel eingepackt?“, ruft Lara durchs Fenster.
„Was?“
„Die Schwimmflügel. Ob du die Schwimmflügel hast!“
Genau in diesem Moment stürmt unser Jüngster die Einfahrt hinunter und zieht, die Arme zu Tragflächen ausgestreckt, seine Kreise um das Auto und mich. Mit gespieltem Ärger fange ich ihn ab.
„Na warte, du kleiner Pilot.“
Ich greife vorbei an den leuchtenden Flügelchen, die Maltes Arme zieren, um die dünne Brust und wirble ihn herum. Er lacht und streckt mir sofort nach seiner Landung wieder die Arme entgegen.
„Ich hab sie“, rufe ich in Richtung Fenster.
„Wir spielen später. Wo ist dein Bruder?“
Mit einem Achselzucken verschwindet Malte um die nächste Ecke.
Chaos. Wie immer, wenn wir uns zur Ostsee aufmachen. Ganz anders, als es früher einmal war, als ich noch allein gereist bin. Stunde um Stunde verzögert sich unsere Abfahrt, bis endlich Koffer, Plüschtiere, Fahrräder und Zelte verstaut sind. Der alte Kombi quillt über, die Klappe lässt sich kaum schließen. Ständig rollt ein Ball, kippt die Windeltasche, als wollten sie mich an meine Gelassenheit erinnern.
„Sie haben Stau angesagt. Hast du genug zu trinken vorne?“
Lara zwinkert mir zu: „Haben wir schon jemals an alles gedacht? Wir können doch jederzeit ranfahren. Es wird niemand verdursten.“
All diese Sorgen. Damals hat nichts gezählt, außer der Straße vor mir. Ich bin einfach gefahren, habe nicht an gestern oder morgen gedacht, das monotone Brummen des Motors und den Fahrtwind genossen. Heute denke ich an Ladekabel, Kissen und den Wetterbericht. Schaffen wir es rechtzeitig, das Zelt aufzubauen, bekommen wir noch einen guten Platz in der Nähe vom Strand? Habe ich den Anrufbeantworter eingeschaltet, die Tür abgeschlossen?
„Mir ist langweilig“, nörgelt Lars und knufft Malte in die Seite.
„Wir sind bald da. Seht mal dort, ein Storch“, versucht Lara die Jungs abzulenken.
„Wo? Wo ist er denn, ich seh nichts.“
Beide strecken sich und suchen den Himmel ab.
„Na da, genau vor uns.“
„Aber da ist doch gar nichts. Da sind nur Autos.“
„Dann sieh mal genau hin. Da ist er doch.“
„Ach, Mama, das ist ja bloß ein Aufkleber. Ich dachte, da wär ein echter.“
Enttäuscht lassen sich beide wieder in die Sitze zurückfallen.
In diesen Momenten liebe ich sie, alle miteinander, meine Familie. Dann weiß ich, dass ich angekommen bin. Hier mitten unter ihnen lausche ich ihren Zankereien, ihren hohen Stimmchen. Damals hätte ich mir lieber die Kugel gegeben, als dieses armselige Spießerleben zu führen. Ich wollte frei sein, tun und lassen, was ich wollte, jeden Morgen von Neuem entscheiden, wo oder wer ich sein wollte. Meistens war ich allein, genoss die Stille. Manchmal teilte jemand ein Stück seines Weges mit mir. Wir waren alle gleich, suchten und konnten nicht finden und waren doch verschiedener als nur irgend möglich.
In einem Café in Barcelona begegnete ich Lara. Sie war atemberaubend schön in ihren kurzen Shorts. Unsere Beweggründe hätten nicht unterschiedlicher sein können, sie machte Strandurlaub mit Freunden, ich war noch immer auf der Suche nach meiner Heimat. Trotzdem teilten wir die kurze Zeit, verbrachten Tage und Nächte miteinander. Es dauerte nicht lange, bis wir uns eine kleine Wohnung suchten. Ich fand einen Job als Redakteur, die Kinder purzelten einer nach dem anderen in unser Leben. So leben wir nun unser Leben zwischen Müllabfuhr, Kindergarten und Besuchen bei Oma.
„Ich gehe mal nach den Kindern sehen“, sagt Lara und klopft sich den Sand von der Hose.
„Bring noch eine Flasche Wein mit.“ Ich halte die leere Flasche neben mir in die Höhe.
„Daran musst du mich nicht erst erinnern.“
Ich sehe ihr nach, sie ist schön, etwas mehr ist sie geworden, aber noch immer anmutig. Wieder einmal denke ich, ich müsste ihr öfter zeigen, wie dankbar ich bin. Und dann lasse ich meinen Blick über das Meer schweifen, folge den Wellen und halte die Luft an, bis das leise Grollen im Magen verschwindet.
„Eines Tages wirst auch du ankommen.“
Ich kann noch immer die Worte des Anhalters hören. Damals war der Gedanke weit entfernt, wir haben gelacht über so viel kitschige Hoffnung. Dennoch hat er recht behalten, wenn ich es mir auch lange nicht eingestehen konnte. Mit einem Ruck hat Lara mich aus meinem Leben auf der Straße gerissen. Ganz schön lächerlich, dass ein Mensch so etwas zustande bringt, wollte ich mich doch nie binden. Menschen waren mir egal, geduldet, so lange sie mir nicht zu nahe kamen. Und nun kann ich den Gedanken, von meiner Familie getrennt zu sein, nicht eine Sekunde ertragen, gehen sie mir auch manchmal noch so sehr auf die Nerven. Ich frage mich oft, was sie mit mir gemacht hat. Vielleicht war ich schon vorher bereit. Sie hat mich nie eingeengt, hat mich ziehen lassen, wenn mich das Fernweh packte. Aber es war anders seit Lara. Die Freiheit fand ich immer seltener auf der Straße, viel öfter abends auf dem Balkon, wenn sie sich an mich lehnte.
Manchmal denke ich noch an Hanna. Dann sehe ich sie vor mir, auf dem Beifahrersitz, die Haare vom Fahrtwind zerzaust, begeistert auf Schafherden, Vögel und das Meer zeigend. Aus heutiger Sicht war unsere Liebe intensiv, kindisch, impulsiv. Damals war sie alles für mich. Wie Erich Fromm schon so treffend formulierte, treffen Menschen manchmal aufeinander, meinen, heftig verliebt und „verrückt“ nacheinander zu sein, der Beweis für die Intensität ihrer Liebe, dabei beweist sie doch nur, wie einsam sie vorher waren. Wir waren getrieben vom Fernweh, der Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben. Heute bin ich froh, dass sich unsere Wege wieder trennten, auch wenn es sich damals anders anfühlte. Letztlich hat mich die Erfahrung stärker gemacht. Das Fernweh und die Sehnsucht verblassten allmählich und machten einer neuen Liebe Platz, einer alltäglichen und doch immer wieder neuen Form der Nähe, die Freiräume schafft und es ermöglicht, den anderen wirklich zu sehen.
„Träumst du schon wieder?“
„Ein wenig. Was machen die Jungs?“
„Schlafen friedlich. Es war eine anstrengende Reise.“
„Wohl wahr.“