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Ranis erster Ausflug
Ein wolkenloser Himmel spannte sich über den Wald. Jetzt, am frühen Nachmittag, schien die Sonne noch ziemlich warm, aber der Herbst kündigte sich bereits mit immer kühleren Nächten an.
Ganz ruhig war es. Nur der Wind strich über die Baumwipfel, ließ Zweige und Blätter leise rascheln. Es schien, als würden alle Tiere des Waldes schlafen.
Aber etwas bewegte sich doch.
Zwischen zwei Tannenzapfen kam plötzlich ein kleines Geschöpf mit neugierigen, runden Augen hervor. Das Ding trug ein Federkleid und hatte einen braunen Schnabel. Es war ein Eulenkind und hieß Rani.
Seine Eltern waren von der nächtlichen Futtersuche müde und schliefen gerade. Zwar hatten sie ihrem Kind verboten, das Nest alleine zu verlassen, aber die neugierige Rani konnte einfach nicht gehorsam sein. So war sie ganz leise fortgehüpft und flatterte von einem Ast zum nächsten. Was gab es da nicht alles zu sehen. Rani staunte.
Am Boden standen große Pilze und überall roch es nach reifen Brombeeren. Waldbienen summten und dann und wann segelte ein bunter Schmetterling vorbei.
„Wenn ich doch auch schon richtig fliegen könnte“, dachte Rani. Aber dazu war sie noch zu schwach. Wenn sie alle Kraft zusammen nahm, schaffte sie es gerade von einem Baum zum nächsten. Rani übte jeden Tag, denn bis zum Winter musste sie es gut gelernt haben.
Soeben kam Ferdinand, der große Salamander, aus seinem Erdhaus hervorgekrochen. Er hatte einen glänzenden, schwarzen Körper mit gelben Flecken drauf.
„Guten Tag, Ferdinand!“, rief Rani. „Wohin des Weges?“
„Hallo Eulenmädchen“, erwiderte er. „Flatterst du wieder einmal in der Gegend herum? Schön dich zu sehen, aber ich hab‘ leider keine Zeit. Ich muss Würmer fangen. Sonst kriegen meine Kinder am Abend nichts zu essen.“ Er wackelte mit seinem langen Schwanz und schon war er unter den Blättern eines Farns verschwunden.
Rani sah sich um und entdeckte wieder etwas Neues. Hanni, das braune Eichhörnchen, war gerade dabei, eine Nuss zu vergraben. Es hatte einen buschigen Schweif.
„Hanni, warum machst du das?“, rief Rani.
„Ich lege Vorräte an. Wer jetzt fleißig ist, muss später, im Winter, keinen Hunger leiden“, sagte Hanni. Und schon buddelte sie weiter an ihrem Erdloch.
„Hoffentlich findest du deine Nüsse auch alle wieder!“, rief Rani. Lachte und flatterte zum nächsten Zweig.
Ein Stück weiter plauderte die Amselmutter mit einer ihrer Vogelfreundinnen. „Da kommt ja Rani“, zwitscherte sie aufgeregt. „Weiß deine Mama, dass du alleine im Wald herumflatterst?“
„Mach dir keine Sorgen“, rief Rani. „Ich bin schon groß und kann fast fliegen.“ Bevor die Waldamsel etwas erwidern konnte, war Rani bereits zwischen den Tannenzweigen verschwunden.
Auf einer alten Eiche saß der kluge Waldkauz. Er blickte Rani aufmerksam an. „Du bist wohl aus dem Nest gefallen. Sieh zu, dass du rasch wieder nach Hause kommst“, brummte er. Öffnete seine riesigen Augen, spreizte die Halsfedern und drehte den Kopf einmal rundherum. „Der große Wald ist kein Spielplatz, mein Kind.“
Aber Rani hatte nicht mehr zugehört. Sie war schon zum nächsten Ast gehüpft und flatterte immer weiter fort.
Bald wurde sie müde und durstig. Ihre kleinen Flügel taten weh und sie hatte kaum noch Kraft.
Auf einem mit Moos bewachsenen Ast machte sie Rast. Erst jetzt fiel Rani auf, wie weit sie sich vom Nest entfernt hatte und sie bekam große Angst. In dieser Gegend war sie noch nie gewesen. Alles roch anders und sah so fremd aus. Am liebsten wäre sie gleich wieder nach Hause geflattert, aber sie hatte sich verirrt und wusste die Richtung nicht mehr.
„Vielleicht wäre ich doch besser im Nest geblieben“, dachte Rani. Aber dafür war es nun zu spät. „Was werde ich nur tun, wenn es dunkel wird. Bestimmt sind meine Eltern schon aufgewacht und suchen mich überall.“
Müde und durstig kauerte sie auf ihrem Ast und fühlte sich ganz unglücklich. Plötzlich hörten Ranis empfindliche Eulenohren ein leises Geräusch.
„Zisch, zisch“, machte es. „Zisch, zisch!“ Erschrocken blickte sie nach unten. Am Fuße ihres Baumes sah sie eine große, schwarze Schlange. An jeder Seite des Kopfes hatte sie einen gelben Tupfen. Rani erstarrte vor Schreck. Das war bestimmt Kai, der Ringelnattermann. Sie hatte schon schlimme Geschichten über ihn gehört und kleine Waldkinder schmeckten ihm besonders gut.
„Was haben wir denn da?“, zischte es laut. „Ein Eulenkind, mmmh, das wäre aber eine fette Mahlzeit für mich. - Zisch, zisch.“
Auch das noch. Rani war wie gelähmt vor Angst. Sie begann laut zu piepsen. Vielleicht konnte ihre Mama sie ja doch hören.
„Zisch, zisch. Das wird dir gar nichts nützen.“ Kai streckte seine gespaltene Zunge heraus und begann auf ihren Baum zu klettern. Rani zitterte am ganzen Leib. Was sollte sie nur tun? Die Schlange rückte näher und näher. Fast hatte Kai sie erreicht. Verzweifelt nahm Rani ihre letzte Kraft zusammen und versuchte auf den nächsten Baum zu flattern. Aber sie war erschöpft und sank langsam zwischen den Bäumen zu Boden.
„Zisch, zisch, - dann fresse ich dich eben hier unten“, züngelte Kai. Er war verärgert, denn nun musste er wieder den Baum hinunterkriechen.
Verzweifelt piepsend blickte sich Rani um. Weit und breit war keine Hilfe zu sehen. Schon war Kai am Boden angelangt und kroch auf sie zu. Sein riesiges Maul kam immer näher. „Gleich hab ich dich, - zisch, zisch ...“
Rani duckte sich, schloss die Augen und gab jede Hoffnung auf. Da geschah etwas Unerwartetes.
„Nicht so eilig, Ringelnattermann. Sonst kriegst du vielleicht wieder Zahnschmerzen!“, hörte sie plötzlich eine entschlossene Stimme rufen. Überrascht öffnete Rani die Augen.
Ein kräftiger Igel hatte sich zwischen sie und die Schlange gestellt. Kai zischte den Störenfried wütend an. „Geh mir aus dem Weg, Mucki. - Zisch, zisch. Dieses Mal wirst du mich nicht aufhalten!“
Der Igel zeigte keine Angst vor ihm. Mutig hob er sein schwarzes Kugelnäschen und spannte alle Muskeln. „Wenn du das Eulenkind willst, dann musst du zuerst mich fressen, aber ich glaube, das würde dir nicht so gut bekommen.“ Drohend richtete er seine Stacheln auf. Aus dem geöffneten Maul blitzten scharfe Zähne hervor. „Vielleicht erinnerst du dich noch an unsere letzte Begegnung, Kai?“
Natürlich erinnerte sich Kai daran. Es war ein harter Kampf gewesen, aber am Ende musste er sich geschlagen geben.
Er spürte noch heute die vielen Bisse, die ihm Mucki beigebracht hatte. Und erst die Stacheln. Jedes Mal, wenn er nach ihm schnappte, stachen sie in sein Zahnfleisch. Das wollte Kai so rasch nicht mehr erleben.
„Heute habe ich keine Lust, mit dir zu kämpfen“, sagte er patzig und züngelte wild um sich. „Zahlt sich gar nicht aus, wegen diesem mageren Eulenkind. Da ist mir zu wenig Fleisch dran. - Zisch, zisch.“
Verärgert schlängelte er davon und schimpfte vor sich hin. „Immer dann, wenn ich einen leckeren Happen sehe, läuft mir dieser Igel über den Weg. - Zisch, zisch. Warte nur, Mucki, einmal kriege ich dich schon ...“ Nicht lange und Kai war unter den dichten Pflanzen verschwunden.
Die Gefahr war vorüber, aber immer noch klopfte Ranis Herz ganz wild vor Aufregung. Sie brachte keinen Ton heraus, voll Bewunderung blickte sie Mucki an.
„Gestatten, wenn ich mich vorstelle?“, sagte ihr Retter freundlich. „Ich heiße Mucki, Freiherr von Igel. Kai und ich sind alte Bekannte. Wir haben schon so manchen harten Kampf ausgetragen.“
„Mein Name ist Rani, ich bin ein Eulenkind und habe mich im Wald verirrt.“ Jetzt fiel ihr alles wieder ein und sie begann zu weinen.
Mucki tröstete sie. „Nicht traurig sein, wir werden bestimmt eine Lösung finden. Für heute ist es schon zu spät, es wird bald dunkel. Aber gleich morgen werden wir versuchen, deine Eltern zu finden. Mach dir keine Sorgen. Bestimmt wird alles wieder gut.“
Mucki schlug vor, ein gemütliches Plätzchen für die kühle Nacht zu suchen. Rani hatte noch nie außerhalb ihres Nests geschlafen und war deshalb froh, einen so mutigen Beschützer zu haben. Sie zogen los und kamen bald an eine Waldquelle. Endlich konnte Rani ihren Durst stillen. Mucki begann, über zwei dicken Wurzeln eines Baumes, ein Dach aus Laub und Zweigen zu bauen. Rani half ihm, so gut es ging. In ihrem Schnabel konnte sie Moos und Blätter herbeitragen. Mucki war ein guter Baumeister und als die Nacht hereinbrach, hatten sie eine warme und gemütliche Behausung. Am Himmel leuchteten die Sterne um die Wette und der volle Mond warf sein fahles Licht über den Wald. Es dauerte gar nicht lange und Rani und Mucki waren eingeschlafen.
Gleich am nächsten Morgen machten sich die beiden auf die Suche nach dem Eulennest. Alle Tiere, die ihnen begegneten, fragten sie nach dem Weg. Aber niemand konnte ihnen helfen.
„Ein Eulennest?“, sagte die Drossel, „keine Ahnung, das kenne ich nicht.“ Auch der Dachs wusste nichts davon.
Wieder wurde Rani traurig. Es tat ihr furchtbar leid, dass sie davongelaufen war. „Ich werde meine Eltern nie wieder sehen“, schluchzte sie. „Nie wieder.“
Auch Mucki konnte sie nicht mehr trösten. So wanderten die beiden lange Zeit dahin. Sie überquerten gerade eine kleine Lichtung, als Rani eine vertraute Stimme hörte.
„Ja, wer kommt denn da des Weges?“ Es war die geschwätzige Waldamsel vom Vortag. Erfreut hob Rani ihr Köpfchen. „Was für ein Glück, Amselmutter, dass ich dich treffe!“, rief sie aufgeregt. „Ich habe mich verlaufen und ...“
„Ich weiß, ich weiß!", zwitscherte es zurück. „Deine Mama hat mir schon längst alles erzählt. Sie ist ganz außer sich vor Sorge. Der halbe Wald ist auf den Beinen und sucht nach dir. Komm, ich bring dich rasch nach Hause. Ist gar nicht mehr weit.“
Mucki blickte traurig zu Boden. „Jetzt brauchst du mich wohl nicht mehr. - Dann kann ich ja wieder gehen.“ Er wandte sich mit hängendem Kopf um.
„Aber nein, Mucki, du kommst natürlich mit!“, rief Rani. „Wir sind doch jetzt Freunde. Papa und Mama wollen dir bestimmt für alles danken!“
Da freute sich Mucki. Er hatte Rani nämlich sehr lieb gewonnen. Und so flogen, flatterten und liefen das Eulenkind, die Amsel und der Igel über den Waldboden dahin.
War das eine Freude, als Rani zu Hause ankam!
Ihre Eulenmama drückte sie ganz fest an sich, aber, als sie sich beruhigt hatte, schimpfte sie auch mit ihr. „Sowas darfst du nie wieder machen, Rani! Hast du gehört?“, sie drohte mit dem Flügel, „Nie wieder!“
Auch ihr Papa, der große Waldohr-Eulenmann, brummte vorwurfsvoll. Aber die Freude über das Wiedersehen war doch größer als sein Ärger. „Komm her, mein Kind“, sagte er. „Endlich bist du wieder zu Hause.“ Glücklich umarmte er sie. Rani drückte ihr Köpfchen in seine weichen Federn und versprach, nie wieder von zu Hause fortzulaufen. „In Zukunft bleibe ich nur noch in der Nähe des Nestes. Ich gehe erst wieder auf Entdeckungsreise, wenn ich so gut fliegen kann wie du“, sagte sie zu ihrem Papa. Es tat ihr leid, ihren Eltern solche Sorgen bereitet zu haben und sie schämte sich dafür.
Dann erzählten die beiden ihr Abenteuer mit Kai, der Ringelnatter. Ranis Mama blieb fast das Herz stehen, als sie hörte was ihrem Kind widerfahren war. Überschwänglich bedankten sich Ranis Eltern bei Mucki für seine mutige Tat. Er war der Held des Tages und musste noch viele, viele Fragen beantworten. Am Abend fand zu seinen Ehren ein großes Fest statt. Alle befreundeten Waldbewohner nahmen daran teil. Die feinsten Leckerbissen waren angerichtet, es wurde getanzt und gelacht und als die Nacht kam, beleuchteten tausend Glühwürmchen das Festgelände.