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Ralf

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21.02.2011
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Ralf

Meine Oberschule und den „Record Store“ trennten sieben bis acht Minuten – mit dem Fahrrad, Marke Herkules, grün und Dreigangschaltung. Nach Schulschluss und wann immer ich eine Freistunde hatte, führte mich mein Weg zum „Record Store“ und somit zu Ralf. Oft hängte ich an die offizielle eine zweite inoffizielle Freistunde an. Das hat sich weder in meinem Zeugnis noch in meiner Geldbörse positiv bemerkbar gemacht.

Ralf, ungefähr zehn Jahre älter als ich, war der Inhaber des „Record Store“, dem Plattenladen meines Vertrauens. Keine noch so obskure Band war ihm fremd und er war in der Lage, jeden Titel, den man ihm vorbrummte, zu erkennen. Wer sich an seine eigene Stimmbruchphase erinnern kann, wird nachvollziehen können, welch schwierige Aufgabe er häufig zu lösen hatte und vor welche musikalischen Rätsel er gestellt wurde. Er konnte zu fast jeder Band eine Biographie und sämtliche Veröffentlichungen einschließlich illegaler Bootlegs herunterbeten. Wissenslücken schloss er mit Büchern, die nahezu alle Platten der Welt auflisteten. Ralf kannte sich aus und ich war stolz, Ralf zu kennen.

Hatte man oft genug seinen Laden betreten, was bei mir immerhin fast jeden zweiten Tag der Fall war, wurde einem eine ganz besondere Ehre zu Teil: Ralf gab einen ganz heißen Tipp, woran man Gefallen finden könnte und oft traf er mit seinen Vorschlägen genau ins Schwarze – ins Ohr seiner Kunden.
Durch ihn lernte ich Musik kennen, auf die ich selbst nie gestoßen wäre, obwohl ich damals regelmäßig „John Peel´s Music“ auf BFBS hörte. Die British Forces Broadcasting Services schickten die für die BBC produzierte Sendung, in der Peel die neuen Songs vieler zunächst unbekannter Bands spielte, im damals geteilten Berlin über den Äther. Ende der 70er Jahre machten großartige Bands wie The Clash, Ramones und die Untertones eine neue und schnelle Musik. John Peel stellte sie alle zum ersten Mal vor und Ralf besorgte diese Platten. Wenn er den gewünschten Titel nicht schon längst im Angebot hatte, brauchte man ihm nur einen Zettel über den Tresen reichen und er bestellte ihn, wenn es keine Plattenfirma in Deutschland gab, die diesen Titel jemals veröffentlichen würde, direkt in England bei den unzähligen Independent-Labels, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen.

Im „Record Store“ gab es drei ungefähr fünf Meter lange mit dunkelrotem Stoff bezogene Doppelbänke, an deren beiden Enden je ein Kopfhörer hing, mit dem man sich die Platte anhören konnte, die Ralf empfohlen hatte. Die Kopfhörer trugen Nummern von 1 bis 12. Er beschwerte sich nicht, wenn man sich nicht nur die erste LP-Seite, sondern das gesamte Album anhörte, weil Ralf sich noch sehr gut erinnern konnte, dass ein Schüler selten über größere Geldbeträge verfügte. Die Entscheidung für diese und gegen jene Platte wollte also gut überlegt sein. Eine Langspielplatte kostete um die siebzehn DM. Ich wundere mich heute noch, wie viele Platten ich angesichts anderer nicht minder interessanter Dinge wie Mädchen, Kino und Fußball damals kaufte.
In der Mitte des Ladens standen diese Bänke, deren hässlicher Bezug übersät war von Brandflecken – das Rauchen war gestattet und Ralfs nikotingelbe Fingerkuppen zeugten von regem Konsum. Die meisten seiner Kunden standen ihm dabei in nichts nach und so lag nicht nur Musik, sondern auch ständig dichter Qualm in der Luft. Die Platten waren an der langgezogenen Fensterfront, die die Form eines Hufeisens bildete, einsortiert. Die Sortierung beschränkte sich auf eine rein alphabetische, ohne die Musik einem Genre unterzuordnen. Es begann bei ABBA und endete bei ZZ Top. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, im „Record Store“ jemals eine Platte von ABBA gesehen zu haben. Bei Ralf bekam man eher das, was nicht ohnehin schon alle führten und deshalb ging ich immer wieder hin. Die einzige Ausnahme bildeten die Neuerscheinungen, denen Ralf einen eigenen alphabetischen Block zuwies.
In die Regale einsortiert waren nur die leeren Plattenhüllen in einer transparenten Schutzhülle. Sobald die Wahl getroffen war, schob man Ralf die Hülle über den Tresen und er ging in den Nebenraum, um die passende Vinylscheibe aus dem Archiv zu holen. Wollte man sich die Platte anhören, bevor man die Katze im Sack kaufte und dies galt es zu verhindern, bestückte er einen seiner zahlreichen Plattenspieler und nannte die Nummer des Kopfhörers.

Ralf sah selbst aus wie ein verkappter Rockstar: schulterlange Haare, dünn – nicht nur die Haare, sondern die ganze Statur; Hemd über den ausgewaschenen Jeans oder T-Shirt mit dem Aufdruck einer von ihm geschätzten Band. Ich fragte mich, ob Ralf jemals schlief, denn abgesehen davon, dass er sich ständig in seinem Laden aufzuhalten schien, schwärmte er von so vielen Rockkonzerten in den unzähligen Hallen und Clubs Berlins, dass Schlaf in seinem Leben keine wichtige Rolle spielen konnte. Eintrittskarten für Konzerte konnte man bei ihm ebenso kaufen wie seine „Kunstwerke“. Ralf hielt große Stücke auf seine Kunst. Wahrscheinlich hatte er ein abgebrochenes Kunststudium vorzuweisen. Er malte Bilder, die denen von Roger Dean zu sehr ähnelten, um es für einen Zufall zu halten. Diese Motive ließ er zusätzlich auf schwarze T-Shirts drucken. Niemals habe ich auf Berlins Straßen jemanden mit einem dieser T-Shirts gesehen. Ich jedenfalls beschränkte mich auf sein Kerngeschäft und trug nicht unwesentlich zu seinem Umsatz in den Jahren 1977 bis 1981bei. Als ich die Schule verließ, verlor Ralf mich als Kunden. Nicht dass ich mir keine Platten mehr gekauft hätte, aber der Weg zum „Record Store“ lag abseits der Berufschul- und Freizeit-Routine.

Anlässlich eines Klassentreffens meiner alten Oberschule verschlug es mich vor kurzem nach langer Zeit mal wieder in diesen Stadtteil. Ich hatte mich viel zu zeitig auf den Weg gemacht. Um nicht zu früh zum Treffen zu erscheinen, beschloss ich, die Zeit halbwegs sinnvoll zu nutzen, in dem ich einen Spaziergang machte und steuerte meinen Schritt – unbewusst oder vielleicht auch nicht – in Richtung des „Record Store“ in der festen Überzeugung, heute dort statt eines Plattenladens eine Imbissbude oder eine Spielhalle zu finden.
Als ich um die letzte Straßenecke bog, lag es da wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit: die Schatztruhe meiner ebenso lange vergangenen Jugend.
Der „Record Store“ hatte einen neuen Anstrich erfahren, war aber unschwer wiederzuerkennen, weil es an der Außenfassade eine Zeichnung zu bewundern gab, die große Ähnlichkeit mit den Plattencovern von Yes aus den 70er Jahren hatte.

Ich betrat den Laden, die Pogues liefen im Hintergrund. Mir schallte ein mürrisches „Wir schließen gleich!“ von jemandem entgegen, der nicht aufschauen musste, um diese Mitteilung los zu werden. Unverkennbar stand da inmitten eines Durcheinanders hunderter CDs, die einsortiert werden wollten, Ralf wie ein Faktotum einer schönen, aber untergegangenen Welt.
„Hi Ralf“, sagte ich, „noch immer im Showbusiness unterwegs?“
Er musterte mich von oben bis unten. Sein Go Betweens-T-Shirt hatten auch tausende von Wäschen nicht zu klein werden lassen.
„Dick biste jeworden“, stellte er fest.
„Ich freu mich auch, Dich zu sehen“, entgegnete ich schmunzelnd.

Wir schwatzten über alte Zeiten, über Platten, die ich bei ihm gekauft hatte, über Konzerte, die wir damals gemeinsam gesehen hatten, feierten und beweinten die gute alte Zeit. Joey Ramone, Joe Strummer und John Peel sind längst gestorben, Society-Herzchen wie Paris Hilton tragen Ramones-T-Shirts und Plattenläden wie der „Record Store“ verschwinden aus unseren Städten.
Ralf hat mich während unseres Gesprächs nicht gefragt, was ich heute so treibe, ob ich Frau und Kinder oder irgendwelche unheilbaren Krankheiten habe. Wir waren einfach wieder Jahrzehnte jünger und plauderten wie damals über Musik und für einen kurzen Moment war die Magie des „Record store“ wieder greifbar.
„War schön, Dich wiederzusehen“, verabschiedete ich mich nach mehr als zwei Stunden. Obwohl er vergessen hatte, den Laden abzusperren, war kein einziger Kunde mehr erschienen.
„Willste nicht `ne Platte oder eins von meinen Bildern mitnehmen?“, fragte er.

Mit der „Nobody´s Heroes“ von Stiff Little Fingers und einem Lächeln auf den Lippen, aber ohne Bild, verließ ich den „Record Store“ und Ralf.

 

Hallo wilson
und willkommen auf kg.de :)

Du verwendest große Mühe darauf, den Zeitgeist von dem typischen früher, in dem alles besser gewesen ist, heraufzubeschwören. Das finde ich an sich sogar recht hübsch, wie du das so nostalgisch illustrierst, dieses untergegangene Vinylzeitalter.
Allerdings stimmt da für mich nicht das Verhältnis zur eigentlichen Geschichte. Das kommt wirklich sehr knapp weg, weswegen mir auch dein Prot nicht greifbar wird. EIn bisschen mehr würde ich da schon investieren.
Das Ende kann ich in dieser Form nicht nachvollziehen. Weswegen der song, weswegen kauft er nichts? Für mich ist das nicht schlüssig. Was gewinnt er dadurch, dass er leer nach hause geht? Oder ist es gar scherzhaft gemeint? Kommt für mich nicht raus und hinterlässt ein Fragezeichen.

grüßlichst
weltenläufer

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo wilson,

hach ja ... eine schöne nostalgische Geschichte und hat mich stark an die Zeit erinnert, als ich selbst auch immer auf der Suche in kleinen Schallplattengeschäften unterwegs war. Geärgert hat mich damals aber, dass die Singlescheiben im Verhältnis zu LP`s ja noch wesentlich teurer waren und ich es mir leider oft nicht verkneifen konnte, einen aktuellen Hit (den ich unbedingt haben musste!) sofort zu kaufen, den es wenig später - auf einer LP integriert - bedeutend günstiger zu kaufen gab. Auch die Sache mit dem Tresen, Kopfhörern und Regalen mit leeren Plattenhüllen in transparenten Schutzhüllen ist mir sehr vertraut. In manchen Läden gab es zu meiner Zeit zusätzlich noch so kleine Kabinen, wo man völlig ungestört der Musik lauschen konnte. Obwohl ich natürlich seit vielen Jahren keine Vinylscheiben mehr auflege, (Tonqualität gegenüber CD`s auch wesentlich schlechter war) habe ich es bis heute nicht übers Herz gebracht, mich von einer umfangreichen Schallplattensammlung zu trennen.
Weltenläufer hat wohl überlesen, dass Dein Prot mit "Nobody`s Heroes" von Stiff Little Fingers zum Schluss den Laden verlassen hast.
Passt! Ich hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. ;)


Liebe Grüße
Darkeyes

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo wilson,

auch von mir ein herzliches Willkommen bei kg.de!

Auch ich kenne solche Schallplattenläden von früher als noch mit DM bezahlt wurde und Rauchverbot ein Fremdwort war.
So einen ähnlichen "Plattenladen" gibt es auch bei uns. Ullis Musikshop, früher mit Platten, jetzt mit CDs von Abba bis Zappa und Kartenvorverkauf existiert bei uns schon mindestens seit Anfang der 80er Jahre.
Der Schluss deiner Story war mir auch schlüssig. Er hatte sich ja immer für die Musik und weniger für Ralfs Kunstwerke, die er gern an den Mann bringen will, interessiert.

Gruß
Leia4e

 

Hallo weltenläufer, Darkeyes und Leia4e,

danke, dass Ihr mich willkommen heißt und meine Geschichte gelesen habt.

Es handelt sich bei „Ralf“ um meine erste Geschichte. Nicht nur hier.
Kritik, Anregungen – sehr gern und danke dafür.


weltenläufer

Oh, er geht keineswegs „leer“ nach Hause, sondern mit der Platte „Nobody´s Heroes“.

„Früher war alles viel besser“ – dieses Augenzwinkern sollte die Geschichte transportieren; auch deswegen kauft der Erzähler eine Platte, die in der beschriebenen Zeit (Ende der 70er) erschienen ist. Die Geschichte wollte ansonsten nur unterhalten. Ein tieferer Sinn war weder geplant noch gewollt. Eine kleine Zeitreise vielleicht?
Ralf würde Dich unterstützen und sagen: „Passieren tut nüscht in wilsons Jeschichte.“

Darkeyes und Leia4e

Freut mich, wenn die Geschichte Erinnerungen geweckt hat.


Gruß
wilson

 

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