Railway
"Railway"
Manche Leute behaupteten, der Tod selbst bedeute Freiheit! Das Schlimmste sei das Sterben. Man stehe der Angst, den eigenen Gedanken schutzlos gegenüber und sei dazu gezwungen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Allerdings hatten besagte Menschen nie an jener Schwelle gestanden. Sie hatten lediglich Dinge übernommen, die die Allgemeinheit als das einzig Wahre akzeptierte. Denn was wäre der Tod ohne Angst? Was wäre das Sterben ohne Schmerz oder das Leben ohne Freude?
Michael war an diesem Morgen weder gerannt, noch war er auch nur ein Mal verharrt. Kein einziges Mal hatte er zurück gesehen.
Für diesen einen Moment gehörte sein Leben ihm.
Emotionslos begann er über den Gedanken zu lächeln. Seinen Kopf ließ er hängen, starrte auf den Betonboden vor seinen Füßen.
Grau war keine Farbe. Es war ein Zustand. Ein ganzes Leben vermochte es in unterschiedlichsten Nuancen zu füllen.
Die Hände tief in seinen Jackentaschen hob er den Blick erneut. Seine Augen huschten über die Bahnschienen. Es erschien ihm unwirklich. Beinah hatte er den Geruch kalten Eisens in der Nase. Ein Geruch, der sich bald mit dem seines eigenen Blutes vermischen würde. Nichts bremste einen Zug. Es war endgültig und brutal, nahm ihm die Angst weiterzuleben.
Noch blieb Zeit.
Zwei Minuten. Er begann vor sich hinzustarren, verinnerlichte jede Kleinigkeit des Bahnhofs. Ein schönes letztes Bild. Selbst die kahlen Betonwände und der U-Bahn Tunnel vor ihm wirkten freundlicher, als das Vorstadtidyll, aus welchem er geflohen war. Hier gab es keine gepflegten Gärten oder Buchsbaumhecken.
Alles wirkte kalt, aber echt und tröstlich.
Michael atmete tief und fühlte die Kälte in seinen Lungen. Als Wolke stieß er sie aus. Dem entstandenen Nebel sah er beim Auflösen zu.
Weiß.
Alles, was sich aus seiner Nähe entfernte, nahm eine andere Farbe an. Sein trübes Grau verblasste.
Für jeden solchen Gedanken hatten ihn seine Adoptiveltern verspottet. Dabei fand er es schön zu denken. Nichtigkeiten an Bedeutung gewinnen zu lassen. Es konnte nicht selbstverständlich sein zu atmen oder das eigene Herz schlagen zu hören. Vor allem nicht heute.
Seltsam.
Er war heute früh aufgestanden, zur nächsten Londoner Metrostation gelaufen und wusste nicht einmal warum. Sein Kopf schien leer. Als hätte man ihm aller Gedanken beraubt und lediglich ein Vakuum hinterlassen. Ein Gefühl trügerischer Leichtigkeit. Es vernebelte den Verstand, brachte seinen Körper zum Handeln. Michael wusste, dass er fast grinste, jedoch nicht warum.
Er fühlte sich verlassen. Dabei war er nicht allein. So Viele standen um ihn herum. Er konnte sie sehen, hören, manche durch ihr aufdringliches Parfum riechen. Doch keiner von ihnen nahm Michael auch nur wahr. Niemand sah ihm in die Augen, erkannte den Schmerz, welcher ihre glanzlosen Tiefen verließ. Der drohenden Gefahr war sich keiner dieser Leute bewusst. Aber wie auch? Er konnte all diesen Menschen nicht einmal Vorwürfe machen.
Michaels Mutter schrie oft: “Mach doch mal den Mund auf!“, was ihm noch weniger Anlass gab es zu tun.
Er konnte nicht sagen, welche Worte es gebraucht hätte, da er keine anderen kannte. In den meisten Fällen waren es geschriene Klagen, schlichte Beschimpfungen, nichts, was einen zum Reden animierte.
Darum hatte er es gelassen.
Die brutalen Folgen blieben gleich. Auch jetzt spürte er, wie sein Körper schmerzte. Angesehen hatte er sich das volle Ausmaß der Verletzungen lang nicht mehr. Bis auf sein Gesicht hatte er sich immer nur angezogen im Spiegel betrachtet. Selten und wenn nur flüchtig an sich hinab geschaut und festgestellt, dass zumindest keine weiteren Pfunde hinzugekommen waren. Viel mehr war er untergewichtig. Die rundlichen Wangen blieben seinem schmalen Gesicht. Es wirkte zart, hatte die feinen Züge eines Kindes noch nicht ganz abgelegt und wurde von dunkelbrauen, kurzen Locken umspielt. Oft fielen sie ihm in die Stirn, ließen ihn ungewollt niedlich erscheinen.
Michael war achtzehn. Er kam sich aber oft nicht so vor. Die ständigen Demütigungen seines Vaters machten es noch schwerer.
„Du bist kein Mann!“, fluchte er. „Ein Weib bist du auch nicht. Was weiß ich, was du bist!“
Wenn er sich mit Walter, seinem Vater, verglich, war er kleiner und vor allem schmaler gebaut. Man merkte es an Walters alten Klamotten. Sie waren Michael gegeben worden, um nichts Neues kaufen zu müssen. Sackartig hing vieles herunter. Ohne Form oder Kontur. So auch der schwarze Pulli und die abgetragene Jeans, die er jetzt trug. Beides schützte ihn weder vor Wind noch vor Kälte. Genauso wenig taten es die Windjacke oder seine durchlöcherten Turnschuhe. Im Winter fror er sonst jämmerlich, doch heute nahm er es gar nicht wahr.
Eltern sollten lieben.
Wenn Gewalt Liebe bedeutete, war es eben so. Er sehnte sich nach ihrer Liebe. Sei es auch noch so erlogen, bewahrte er sich jeden Funken dieses Gefühls. Oft hatten sie ihm die schlimmsten Dinge angetan, ihn als letzten Dreck bezeichnet und Michael später vor aller Augen geküsst. Es war paradox, geradezu verwirrend schmerzhaft. Das Tragischste war, er hatte ihnen jedes Mal verziehen und sich stattdessen selbst gerichtet. Ein Teufelskreis.
Stück für Stück hatte er ihn vernichtet.
//“So etwas“//, flüsterte er tonlos, nahm die Regung seiner spröden Lippen nicht wahr.
Sie hatten ihn nie zu ´So etwas´ erzogen. Zumindest hatten sie es so gesagt. Die Erkenntnis durchzog ihn wie ein eisiger Schauer. Es war nicht mal mehr ein Vergleich zu Dingen.
Wer oder was war er eigentlich?
In ihren Augen hatte er als Mensch nie existiert und so sein Recht auf ein normales Leben verwirkt. Es war unmenschlich. Weiter, als bis zu diesem Punkt, wollte Michael gar nicht mehr denken. Es war zu schmerzhaft.
Mit einem Mal wog sein Körper schwer. Seine Knie drohten nachzugeben, hätte er sie nicht mit aller Kraft gehindert. Es sollte bitte einfach nur enden.
Michael blieb gerade noch eine Minute. Nur eine Zahl. 60 Sekunden. Der bloße Fakt ließ ihn ruhiger werden.
Es war nicht so, dass er seinem Kopf verbot zu denken. Viel mehr geschah es ganz automatisch und ohne große Mühe. Wieder schützte ihn etwas unbewusst vor sich selbst. Es sperrte die zerstörerischsten Gedanken weg und begleitete ihn. War sein Henker.
30 Sekunden.
All seine verbleibende Zeit las er von einer Anzeigetafel. Zwischen wenigen Bänken und zwei halbleeren Snack - und Getränkeautomaten war sie das Einzige, was etwas Farbe bot. Über den Köpfen befanden sich trübe Neonröhren. Dank der Kälte flackerten sie bedrohlich, versprachen Dunkelheit.
Michael ließ seine Augen auf dem Tunnel vor sich ruhen. Ein pechschwarzes Loch, jedwedes Licht schien es zu verschlingen. Sein Inneres würde nichts erhellen, bis die Bahn auftauchte.
„Der Zug trifft ein. Bitte begeben Sie sich aus dem Gefahrenbereich.“, ertönte es aus den angebrachten Lautsprechern.
Die gleiche blecherne Durchsage wie jeden Tag. Ihr Klang schallte in seinen Ohren. Heute nahm er die Warnung als Aufforderung.
Einem Rauschzustand gleich trat er über die lang verwaschene Linie. Sie versinnbildlichte den schmalen Grad zwischen Sicherheit und Gefahr. War es nicht seltsam wozu ein bloßer Strich imstande war? Für die Meisten hier schuf er eine imaginäre Grenze. Noch vor ein paar Wochen wäre Michael nicht in den Sinn gekommen diesen letzten Schutz zu übertreten.
Und doch war es heute so leicht.
Nah ging er auf die Schienen zu. Seine Augen richteten sich auf einen Punkt in der Ferne. Weiter. Wie betäubt lief er immer weiter, verweilte schließlich am dreckig weißen Rand der Bahnsteigkante. Vor ihm erstreckte sich sein persönlicher Abgrund. Nicht mehr, als ein einzelner Meter. Überraschend, dass eine so niedrige Schwelle für so Viele zur Todesfalle wurde. Ein letztes Mal glitten seine Augen über die Gleise, während sie sich langsam schlossen.
10 Sekunden.
Augenblicke in denen er das Rauschen und Klackern schwerer Wagons näher kommen hörte.
Unter seinen dünnen Sohlen spürte er die Vibration, verlor sich im gleichmäßigen Takt. Jegliche Geräusche hallten nur noch dumpf in Micheals Kopf wieder. Er fühlte sich in Watte getaucht.
Alles war egal, so unglaublich nichtig. Als wäre es nur ein Traum, aus dem er jede Sekunde hochschrecken würde.
Gerade brach sich Licht im Tunnel.
Wie zum Auftakt eines makabren Spiels begann er sich sacht vor und zurück zu wippen. Fühlte sich leicht, fast schon beschwingt.
Während er seinen Kopf in den Nacken fallen ließ, schien ihn die Kälte beinah zu wärmen. Ein einziger Schritt in der richtigen Sekunde und es war vorbei. Endlich vorbei.
Der Zug traf ein.
Er hörte das gellende Quietschen, spürte gleichzeitig einen kräftigen Ruck, der ihn von den Füßen riss.
Unsanft schlug er auf den Boden und war nicht mehr allein.
Völlig geschockt lag Michael nun in schützenden Armen. Nicht fähig sich zu rühren. Die Augen weit aufgerissen fühlte er die Wärme eines anderen Körpers in seinem Rücken. Spürte, wie sich dieser andere Mensch sacht bewegte und sie schließlich in eine halb sitzende Position brachte.
Irritiert wurden sie von umherstehenden Passanten beäugt. Das Interesse schwand schnell, als sich die Türen der Bahn öffneten und Alles einsteigen konnte.
Ein tägliches Einerlei.
Menschen sahen und sie vergaßen noch viel schneller. Solange nichts geschah, was wirklich schockierte, blieb vieles alltäglich und war es daher nicht einmal wert, länger, als ein paar flüchtige Sekunden, Beachtung zu finden. In einer solchen Gesellschaft zählte der Versuch eines Selbstmordes als Lappalie. Es war nichts passiert und daher uninteressant.
Was blieb war ein Häufchen Elend.
Erstarrt verharrte er, während sich die Station leerte und der Zug anschließend ins Dunkel abfuhr. Um sie herum wurde es totenstill.
Was Michael nun zustande brachte, konnte man nicht als wirkliche Regung bezeichnen. Viel mehr war es ein heillos überfordertes Festkrallen am sanften Arm vor seiner Brust. Begleitung fand es durch ein plötzliches Realisieren der Situation. Die eintreffende Klarheit ließ in erstickt ausatmen.
Es war vorbei. Alles war vorbei.
Er hatte versagt und egal wer oder was ihn gerade so fest hielt sollte einfach nur verschwinden. Bitte! Michael hatte noch nie um etwas gebeten … nur dieses eine Mal …
Wie zum Hohn drehte ihn die Person langsam zu sich. Anschließend hielt sie ihn wie ein Kind im Arm. Er wollte nicht, hatte die Augen krampfhaft verschlossen. Michael spürte eine ungeheure Angst in sich aufsteigen.
Was, wenn es jemand war, der ihn kannte? Oder noch schlimmer, wenn er plötzlich in die kalten Augen seines Vaters oder seiner Mutter sehen würde? Wie konnten sie ihn gefunden haben? War er vielleicht nicht leise genug oder zu unvorsichtig gewesen? Oder hatte er sich am Ende durch ganz andere Spuren verraten? Wenn ja, war er dem Tod näher als dem Leben. Sie würden ihn nicht schonen. Niemals! Michael ertrug es nicht. Allein der Gedanke brachte ihn um.
„Alles ist gut, ganz ruhig.“
Allein diese Stimme. Wie ein schützender Schleier schien sie sich um ihn zu legen. Durch Wärme und Sanftmut hieß sie ihn willkommen.
Etwas so schönes hatte er noch nie gehört.
Dennoch bleib er unentschlossen. Sollte er die Augen wirklich öffnen? War es doch möglich, dass ihm seine Sinne etwas vorgaukelten, einem weit entfernten Wunschdenken von Sicherheit Gesicht verliehen.
Michael hatte verlernt zu vertrauen. Es fiel ihm ungemein schwer seine Augen auch nur einen winzigen Spalt zu öffnen. Falls er sich in Gefahr befand war es jedoch zu spät.
Das gefürchtete Bild, welches sich allmählig klärte, ließ ihn erstarren. Er sah in tiefbraune, große Augen, nur in sie, und begann wie Espenlaub zu zittern.
Es war wahr.
Sie waren so sanft. So warm. Wunderschön und doch so unmöglich, dass er glaubte zu träumen.
Alles andere verschwamm nahezu zeitgleich. Ehe Michael es wirklich realisierte, war es geschehen. Übermächtig und unlenkbar brach der ganze Schock und alle mit ihm in Verbindung stehenden Gefühle, in einer Welle heftigster Emotionen, über ihn herein. Sein Körper verkrampfte. Mit letzter Kraft klammerte er sich an die schützende Nähe. An den Wänden verhallte ein klägliches Schluchzen. Micheal hörte keinen Tadel. Er wurde lediglich in eine tiefe Umarmung gezogen. Eine Umarmung, die sein Weinen und nichts anderes von ihm forderte, als endlich loszulassen.
*2019