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Radius
Für meine Großmutter - Posthum
Das Klopfen an der Tür war kaum zu hören, böse Zungen hatten behaup-tet, daß dies wohl seiner Schwerhörigkeit zuzuschreiben war. Alles Quatsch, durchfuhr es seinen Kopf, er brauchte sein Hörgerät nicht! Der Arzt, der es ihm vor ungefähr fünfzehn Jahren verschrieben hatte, hatte keine Ahnung gehabt. Außerdem schmerzte das Teil in seinem Ohr wenn er sich so recht an die damaligen Testversuche erinnerte.
Er saß zusammengekauert auf seiner Couch, das Fernsehgerät im steten Blick, obwohl es derzeit, entgegen seinen sonstigen Gepflogenhei-ten, nicht eingeschaltet war. Langsam öffnete sich die Tür, ein alter Mann trat ein. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten näherte er sich der Sitzgruppe, welche aus dem alten Plüschsofa und zwei roten Sesseln bestand.
„Willst du dem Hausmeister nicht mal sagen, daß deine Klingel defekt ist?“ entfuhr es dem Ankömmling, der sich ohne ein Wort des Grußes in einen der besagten Sessel fallen ließ.
„Wozu, hier im Heim kommt doch ohnehin jeder in jedes Zim-mer herein, warum dann eine Klingel an der Tür?“ entgegnete der Be-wohner des Zimmers.
„Du warst heute nicht unten im Eßsaal, geht’s dir nicht gut?“ fragte der Besucher, die ausgesprochene Frage seines Gastgebers ignorie-rend.
„Ich kann nicht mehr,“ war die lapidare Antwort.
„Das redest du dir ein. Wenn du nur hier auf deiner Couch hockst, ist es ganz natürlich, daß du mit der Zeit körperlich nicht mehr viel leisten kannst. – Wie alt bist du jetzt? – Neunzig, nicht wahr?“ Der Bewohner des Zimmers nickte stumm vor sich hin. „Mann, damals als du hier reingekommen bist, haben wir noch die Cafés in der Altstadt unsicher gemacht – aber jetzt? Wir sollten es wieder mal tun, einfach ein Eis oder einen Kaffee und komm mir nicht damit, daß ich ja ein ganzes Stück jünger sei als du, es sind schließlich nur vier Jahre!“
„Fang nicht damit an,“ brummte der Zimmerbewohner und starr-te nach wie vor auf die Mattscheibe des abgeschalteten Fernsehgerätes. „Schlimm genug, wenn mein Enkel immer dieselbe Leier herunterbetet. Wenn ihr wüßtet wie gerne ich das täte!“ Tränen schossen ihm in die Augen, zum Glück sah der Besucher ihn nicht direkt an, sondern blickte, wohl auch aus Gewohnheit Richtung Fernseher, so daß die Schwäche nicht entdeckt wurde.
„Ja, warum tust du es denn dann nicht mal? Dein Enkel würde dich nur allzu gerne mal zu sich holen.“
„Ich weiß, er beteuert das ja bei jedem seiner Besuche. – Nein, es geht einfach nicht! Ich kann froh sein, wenn ich es noch lange bis zur Couch schaffe.“ Langsam wandte er den Blick vom Fernseher ab und zu seinem Gast hin. „Soll ich dir die ganze Wahrheit erzählen? Erzählen wie es wirklich ist? – Du wirst mich für verrückt halten, aber sei es drum, es muß einfach mal raus – und du bist mein Freund.
Also, paß auf. Eigentlich begann es bereits in meiner Kindheit, auch wenn ich der ganzen Sache damals überhaupt keine Bedeutung zu-gemessen, ja sie sogar begrüßt habe. Wir waren im Urlaub, meine Eltern, meine Schwester und ich. Damals, in den Siebziger Jahren des zwanzigs-ten Jahrhunderts, du erinnerst dich, war es fast die Regel möglichst weit mit dem eigenen Auto zu fahren. Horrortrips schlechthin! Wir waren auf Sizilien, eine schöne Insel, wenn da nicht der Besichtigungsfimmel mei-ner Eltern gewesen wäre. Jede Kirche mußte mitgenommen werden, auch bei vierzig Grad im Schatten! Und so machten wir uns eines Morgens mit dem Auto auf den Weg um eine ebensolche Sehenswürdigkeit nicht zu verpassen, wieviel lieber hätte ich den Tag am Strand verbracht! Aber wir kamen nicht weit. Bereits kurz hinter der Ortschaft in der wir unser Quar-tier aufgeschlagen hatten war die Fahrt zu Ende, absolutes Verkehrschaos erwartete uns, eine Brücke war wegen Bauarbeiten gesperrt worden, so daß wir einen erheblichen Umweg in Kauf nehmen zu müssen glaubten. Leider überhitzte sich der Motor unseres Autos und zu allem Übel blieben wir liegen. Später zog uns dann ein Abschleppwagen in die nächste Stadt zurück. Irgendwie war auch meinen Eltern die Besichtigungsstimmung vergangen, so daß zumindest diese Kirche von unserer Anwesenheit ver-schont blieb.
Später waren es dann andere Ereignisse, aber eigentlich immer vergleichbar mit dem eben geschilderten. In der Regel geschah es immer auf Urlaubsreisen - Geflogen bin ich nie, zumindest nie in den Urlaub, da habe ich immer das Auto benutzt. Anfänglich war es noch nicht so augen-scheinlich, aber die Zufälle häuften sich. Urlaub im Süden, ja bis ca. 1985 war das noch möglich, aber dann kam ich nicht mehr über die Alpen. Irgendwie war mir klargeworden, daß, wann immer ich es auch versuchen sollte, sich mir ein unüberwindbares Hindernis in den Weg stellen würde. Ein Stau, eine Lawine, ein Tunnelbrand oder ganz lapidar, mein eigenes Auto welches den Geist aufgeben würde.
Extremer wurde es dann vor ungefähr fünfzig Jahren. Ich wollte mit dem Zug nach Köln, kam aber aufgrund eines Getriebeschadens der Lok nicht über Düsseldorf hinaus. Folgsam Gehorsam leistend, suchte ich mir schleunigst eine neue Arbeit und vor allem eine Wohnung in unmit-telbarer Nähe derselben. Nach dem tiefsitzenden Schock in Düsseldorf hatte ich Versuche in allen drei anderen Himmelsrichtungen unternom-men, so daß nunmehr feststand, daß ich nur noch ein etwa kreisförmiges Areal mit einem Durchmesser von annähernd sechzig Kilometern zur Verfügung hatte. Wie gesagt, der Schock saß tief.
Jahrelang geschah dann nichts, seltsamerweise veränderte der Radius sich nicht oder vielleicht nur unwesentlich. Ich habe es damals aber auch nicht mehr darauf ankommen lassen. Dreißig Jahre später re-gistrierte ich jedoch eine weitere Einengung, ich kam nicht mehr in die City, der Weg zur Bushaltestelle war mir durch eine Baustelle verwehrt! – Ja und nun bin ich hier, heute Morgen mußte ich feststellen, daß ich nicht mal mehr bis zur Tür komme!
Ich weiß nicht wo es enden wird, aber irgendwie hoffe ich, daß es die Couch ist und nicht das Bett,“ er nickte mit dem Kopf in Richtung der durch einen Vorhang verdeckten Bettnische. „Dies hier ist schließlich mein Lieblingsplatz, weißt du?“
Der Besucher hatte mittlerweile seinen Blick von der Mattschei-be gelöst und starrte seinen Gastgeber betroffen an. „Ja, ich weiß, daß das dein Lieblingsplatz ist,“ entgegnete er nach einer langen Pause, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören können. „Ich verspreche dir, daß ich zu dir kommen werde – so lange ich kann!“ Dankbar ließ der Gastge-ber seinen Blick zum Fenster schweifen, auf die Wiese des sich an das Altenheim anschließenden Parks, so nah und doch so unerreichbar fern lag sie da im Sonnenlicht.