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Racheseelen
„Wo fahren wir hin?“
Dieter schwieg und starrte auf die Landstraße. Bäume flogen links und rechts an ihnen vorbei in die Dunkelheit.
„Wo bringst du mich hin? Sag es.“ Jetzt schrie sie ihre Angst heraus: „Wohin?!“
Dieter blickte sie an. Seine Augen wirkten kalt und distanziert. „Nach Hause.“
„Nach Hause? Was soll das heißen?“
„Es heißt, was es heißt. Wie alt bist du, Caro?“
„Ich bin achtzehn.“
Ihr war nicht klar, warum sie ihn anlog. Womöglich war diese Aussage zu tief in ihrem Unterbewusstsein verankert, ein Reflex, um sich vor der Polizei zu schützen.
„Lüg´ nicht!“
„Okay, okay“, sagte sie und hob beschwichtigend die Hände. Als ob Caro ihr dadurch ein Zeichen gegeben hätte, sprang Creepy, die gerade noch in Coras Schoß gesessen hatte, auf das Armaturenbrett. „Ich bin fünfzehn.“
Creepy, die Albinoratte, wohnte in Caros Kapuze. Vorhin, als sie noch die Autobahn entlanggefahren waren, hatte Caro sie ihm vorgestellt. Sie sei ihr nagendes Navi, hatte sie zu Dieter gesagt, und er hatte sie lächelnd angesehen. „Freut mich dich kennenzulernen, Creepy.“
„Blöde Ratte.“ Dieter kurbelte das Fenster auf seiner Seite des Wagens herunter, packte sie, bevor Caro sie zu fassen bekam. Creepy quiekte ein paar Mal schrill auf, dann fiel sie mit den Bäumen zusammen in die Nacht.
„Nein!“, schrie Caro und warf sich über Dieters Arme. Ihre leeren Hände fingen nur den Fahrtwind ein. Der Mercedes schaukelte nach links auf die Gegenfahrbahn.
„Weg da“, knurrte er und zog sie an der Kapuze zurück in den Beifahrersitz.
„Du Monster! Du beschissener Psycho!“
Nichts erinnerte mehr an den freundlich lächelnden Mann, der sie mit den Worten „Wo soll es denn hingehen?“ gebeten hatte, bei ihm einzusteigen.
Sie verpasste ihm einen Schlag gegen die Schulter, aber er starrte bloß wie zuvor auf die Straße. Als wäre er besessen davon, die Mittelstreifen zu zählen.
Seine Konturen verschwammen hinter dem Vorhang aus Tränen. In der Ferne sah sie blaues Licht. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Als sie etwas näher kamen, erkannte sie die Leuchtreklame einer Aral-Tankstelle.
Sie kurbelte das Fenster nach unten.
„Was machst du?“
Sie ignorierte die Frage, lehnte sich aus dem Fenster und schrie: „Hilfe! Helft mir! Helf...“
Dieter zog sie an ihrer Kapuze zurück, und ein Würgelaut drang aus ihrer Kehle. Caro sah für eine Sekunde in sein wutverzerrtes Gesicht, dann packte er ihren Kopf und hämmerte ihn gegen das Armaturenbrett.
Ihre rechte Gesichtshälfte brannte, als hätte er sie auf eine Herdplatte gedrückt. Die Konturen um sie herum verschwammen. Ihre Umgebung fühlte und hörte sich dumpf an, als gönne sich der Sekundenzeiger der Welt eine Auszeit.
Danach lief alles sehr schnell. Sie fuhren durch das Dorf, dessen Ortsschild sie nicht hatte lesen können.
„Fünfzehn. Das ist viel zu jung, um auf Weltreise zu gehen. Also, als ich fünfzehn war ... also, nein. Ich meine ...“ Er seufzte. „Hast du Eltern?“
„Nein.“ Apathisch besah sie ihre blutigen Fingerspitzen, mit denen sie ihre taube Gesichtshälfte berührt hatte.
„Sind sie tot? Meine Eltern sind tot. Ist keine schöne Sache.“
„Nein.“
„Nein, sie sind nicht tot, oder, nein, es ist keine schöne Sache?“
„Nein, sie sind nicht tot“, stammelte sie geistesabwesend.
„Also hast du doch Eltern. Sie sind nur für dich gestorben. Ist es so? Na ja, dein neues Zuhause wird dir gefallen.“
„Hm.“
Sie fuhren auf einer Schotterpiste einen Berg hinauf. „Da oben steht unser Haus.“
Panik machte sich breit, und sie riss die Tür auf, wollte hinaushechten, aber Dieter hatte sie wieder an der Kapuze.
„Schluss damit! Wir sind gleich da. Mach die blöde Tür zu.“
„Lass mich los, du Schwein!“, schrie sie und stemmte sich mit den Füßen gegen die B-Säule des Mercedes, stieß sich mit aller Kraft ab. Unter dem harten Schlag ihres Hinterkopfes knirschte seine Nase.
„Aua.“ Es klang wie ein Grunzen. Gleichzeitig trat er auf die Bremse, ohne die Kupplung betätigt zu haben. Der Oldtimer machte zwei Sätze nach vorn und blieb stehen.
Schnell löste sie sich von ihm und sprang aus dem Wagen. Die schnellen Schritte pochten in ihrem Kopf, und der Kies knirschte hörbar unter ihren Schuhsohlen. Da war ein weiteres Knirschen. Hinter ihr. Im Tal drehten sich einige Lichter, so verheißungsvoll und schön, als würden ein paar Feen durch die Nacht tanzen.
Sie stürzte. Der Aufprall wirkte seltsam weich. Das andere Knirschen stoppte ebenfalls. Er riss sie an ihrem Pullover hoch. Sie fühlte sich, als ob sie Ewigkeiten in einem dunklen See getaucht hätte. Die Welt über der Wasseroberfläche war eine andere. Eine Welt des Schmerzes. Im Gegensatz zum Aufprall auf dem Kies, traf sie dieser Schlag hart. In die Magengrube. Verzweifelt versuchte sie zu atmen, brachte aber nur ein Krächzen zu Stande. Diesmal fiel sie auf den Rücken. Neben den alten Sternen funkelten neue auf. Es waren die grellsten Sterne, die sie je gesehen hatte. Sie stellten sogar den fast vollen Mond in den Schatten.
Die Arme vor ihren Brüsten verschränkt, schleifte er sie zurück zum Wagen und hievte sie auf die Rückbank. Sie konnte wieder kleine Portionen Luft schnappen, aber jeder Atemzug schmerzte, als ob sie Metallspäne einsaugen würde.
„Das tut mir leid. Aber ... wer nicht hören will, der muss eben fühlen." Seine Stimme klang nasal. Er schlug die Tür zu und Caro hörte wie sie verriegelt wurden.
„Scheiße“, keuchte sie durch die zusammengebissenen Zähne.
Hätte sie nun die Wahl gehabt, sie hätte den Tod gewählt. Bisher war sie immer zu feige gewesen, ihrem erbärmlichen Leben ein Ende zu setzen. Ja, sie hatte gesoffen, bis sie kotzen musste und danach weitergeschluckt – ganz nach dem Motto: Kotzen macht durstig -, sich Koks durch die Schleimhäute gejagt wie Jonny Depp in diesem einen Film, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Aber jedes Mal war sie wieder aufgewacht. Hatte sich gefühlt wie eine Tote. Aber das war nicht das Gleiche.
Die Tür zu ihren Füßen wurde aufgerissen und im Schein der Innenbeleuchtung sah sie Dieters Gesicht. Aus der Nase sickerte Blut, das er mit der Zunge auf der Oberlippe verstrich.
„Halt jetzt ...“ Er schluckte hörbar das Blut. „ … still.“
Er riss ein Stück Panzertape ab, bückte sich weit in den Wagen und versuchte es über ihren Mund zu kleben, doch Cora schüttelte den Kopf wild hin und her. Er umschloss ihren Kiefer mit der Kraft eines Schraubstocks.
„Mach den blöden Mund zu!"
Sie tat es und er überklebte ihre Lippen. Ein weiteres Stück Panzertape wickelte er um ihre Füße. Anschließend drückte er mit einer Hand ihre Handgelenke aneinander und umwickelte auch sie.
„So, das hätten wir geschafft“, sagte er und streichelte ihr mit zittrigen Fingern über die Wange. Sie hätte sie ihm am liebsten abgebissen.
Er stieg hinter das Steuer, und sie rumpelten weiter bergauf. Richtung Heimat! Ha!
Nach einer gefühlten Ewigkeit hielt der Mercedes an. Ihr war schlecht von der holprigen Fahrt.
Ohne ein weiteres Wort zog er sie an den Füßen halb aus dem Wagen, richtete sie auf und warf sie sich wie einen Sack Zement über die Schulter.
Ihre fixierten Arme baumelten hinunter und sie hieb sie immer wieder gegen seinen Rücken. Jedoch war sie mit ihrer Kraft ziemlich am Ende, also ließ sie es bleiben. Es schien ihn ohnehin nicht zu interessieren. Sie schrie, er solle sie gehen lassen, er solle in der Hölle verrecken, aber ihre Schreie drangen nur als leises Krächzen in ihre Ohren.
Er steckte den Schlüssel ins Schloss und betätigte den Lichtschalter. Von irgendwoher vernahm sie Stimmen. Wenn sie doch nur sehen könnte, wo sie sich befand.
Er öffnete eine weitere Tür und sogleich stieg die Lautstärke der Stimmen enorm an.
„Sieh nur, Anna, wer wieder nach Hause gekommen ist.“ Er setzte sie behutsam auf dem Sofa ab. „Deine liebe Tochter, Sarah.“
Die Frau, die ihr gegenüber im Rollstuhl saß, hatte braunes schulterlanges Haar. Ein schiefer Pony klebte ihr in fettigen Strähnen an der Stirn. Sie starrte Caro mit vor Schreck geweiteten Augen an. Tiefe Furchen durchzogen ihr von Pickeln übersätes Gesicht, machten es so zu einem Mosaik der Abscheulichkeit.
Kein Laut drang durch ihre zusammengepressten Lippen.
Caro glaubte, sich in einem Antiquitätenladen zu befinden, denn alle Möbel wirkten antik, mit aufwendigen Schnitzereien verziert, doch wild durcheinandergewürfelt. Die Wände waren übersät mit Uhren. Dieter stand schweigend da, gewährte ihr, sich in Ruhe umzusehen. In der alten Flimmerkiste lief ein Krimi – auf den Rücken der Polizisten, die sich um eine Leiche scharrten, stand Polis -, also ein skandinavischer. Nachdem sie den Raum hektisch in Augenschein genommen hatte, kehrte ihr Blick zu Anna zurück.
Hatte er diese Frau ebenfalls entführt und sie solange misshandelt, dass sie nun im Rollstuhl sitzen musste?
Doch die Portraits über dem Fernseher, auf die sie nun starrte, erzählten eine andere Geschichte.
Auf der ersten Aufnahme posierte eine scheinbar glückliche Familie vor einem Stahltor, um das sich Efeu schlang. Dieter hatte einen Arm um die Frau gelegt, die allem Anschein nach Anna war. Doch zwischen der Frau auf dem Bild und der armseligen Erscheinung neben ihr lagen Welten. Richtig hübsch sah sie auf dem Foto aus, eine klassische Schönheit, so wie ihre jugendliche Tochter, die vor ihnen stand. Braune Locken umspielten die Schultern der Tochter, und die großen braunen Augen zogen Caro in ihren Bann. Dieter umfasste ihren rechten Oberarm.
Die nächsten beiden Aufnahmen zerstörten die Illusion einer intakten Familie, und das mit einer Brutalität, dass Caro erneut heiße Tränen über die Wangen liefen. Auch weil sie dabei an Creepy denken musste.
Arme Mädchen. Armer Creepy.
Auf beiden Fotos saß Dieter mit einem anderen Mädchen auf der Couch, auf der auch Caro gerade saß. Die Mädchen wirkten verängstigt und lethargisch; beide sahen zerschunden aus. Veilchen unter den Augen. Blutergüsse am ganzen Körper. Bei der Blondine, die der echten Sarah noch am ähnlichsten sah, war die Unterlippe aufgeplatzt und getrocknetes Blut hing ihr am Kinn.
„Anna mag Krimis, hat sie schon immer geliebt“, sagte Dieter auf den Fernseher starrend. „Wie auch immer. Nun zu dir.“ Er beugte sich zu Caro hinunter. Instinktiv wich sie vor seinem Gesicht zurück, stemmte sich tief ins Polster. Sein Atem roch nach verdorbenem Fleisch. „Ich will dir nun das Klebeband abmachen, ja? Aber dazu musst du still sein. Lass mich einfach machen.“ Dann beugte er sich weiter nach vorn, sodass sich ihre Nasenspitzen fasst berührten und flüsterte: „Du willst doch nicht, dass dir etwas Schlimmes passiert, oder?“
Garantiert wollte sie nicht herausfinden, was „etwas Schlimmes“ bedeutete. Die zwei Mädchen auf den Fotos – und wahrscheinlich auch die echte Sarah – hatten „etwas Schlimmes“ erlebt.
Sie schüttelte den Kopf.
„Gut“, sagte er und riss ihr das Tape von den Lippen.
Sie schnappte gierig nach Luft.
„Ich geh mal in die Küche und schmiere uns ein paar Brote. Habt ihr Hunger?“
Anna rührte sich nicht und starrte immer noch erschrocken drein, also sagte Caro: „Klar. Ich verhungere.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln.
Hauptsache er würde verschwinden.
Wie erhofft machte Dieter kehrt und verließ den Raum.
„Kannst du ...“, sie räusperte sich, zwang sich, Anna in die Augen zu sehen. „Kannst du nicht sprechen?“
Anna verzog keine Miene.
Was war hier passiert? Hatten Anna und Sarah einen Autounfall? Oder …
Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen. Ein Vakuum breitete sich in ihrem Kopf aus.
Fest stand nur, dass dieser Bastard Mädchen entführt – Ausreißerinnen wie sie - und hier herbringt, um Ersatz für seine verstorbene Tochter zu spielen.
Annas Blick löste sich nun von ihr, und sie wandte ihren Kopf Richtung Fernseher, so steif, als würde sich ein Periskop drehen.
„Dieser Mistkerl muss doch zu fassen sein“, sagte die Kommissarin wutentbrannt.
Keuchend hielt Caro Ausschau nach etwas Spitzem oder Scharfem, womit sie ihre Hand und Fußfesseln hätte lösen können. Doch in ihrer Reichweite, registrierte sie nur die Fernbedienung und eine halb abgebrannte Kerze auf dem Tisch vor ihr.
Wenig später kam Dieter mit einem Teller in der Hand zurück. Die Nasenlöcher waren provisorisch mit Taschentuchfetzen versiegelt. Er platzierte den Teller, auf dem auch ein Brotmesser lag, auf dem Tisch und setzte sich neben Caro.
„Hier“, sagte er und hielt ihr ein Wurstbrot vor den Mund. Sie biss ein kleines Stück ab und kaute ewig darauf herum. Es war so trocken, klebte überall in ihrem Mund. Sie schaffte es kaum den Klumpen herunterzuschlucken. Er hielt es ihr erneut hin. „Nein, sorry – ähm – Entschuldigung, ich bin nicht hungrig.“
Sie rechnete schon mit einem Wutausbruch, aber er zuckte nur mit den Achseln, sagte: „Dann bleibt eben mehr für mich.“ Und stopfte sich das halbe Brot auf einmal in den Mund.
Als er die drei Brote verschlungen hatte, lehnte er sich seufzend zurück. „Anna, ich mach dir später auch noch welche, keine Sorge.“
Wieder reagierte sie nicht.
Dieter wandte den Kopf vom Bildschirm zu Caro und musterte sie mit verschmitztem Grinsen. „Hol ihn raus, ja?“
„Was?“
„Hol ihn raus. Du weißt schon.“
„Nein, ich weiß nicht.“
Er flüsterte: „Du wirst ihn rausholen und streicheln, wenn du nicht zu den anderen beiden in den Wald willst, verstehst du?“
Der Bissen Wurstbrot kam ihr wieder hoch, doch sie schluckte den säuerlichen Batzen hinunter.
Er würde sie töten, falls sie sich weigerte.
Also nestelte sie mit geschlossenen Augen an seiner Gürtelschnalle herum. Sie blickte kurz zu Anna und was sie sah, ließ sie laut aufschreien.
„Was ist?“, fragte Dieter erschrocken.
Über Annas Schulter konnte man durch ein Fenster sehen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Caro dort das Gesicht eines Mädchens gesehen.
Einen Lidschlag später zerbarst die Glühbirne über ihren Köpfen. Ein Riss zog sich durch den Bildschirm und um die Kommissarin, die gerade mit einer Taschenlampe durch den Wald geirrt war, wurde es endgültig dunkel. Feine Splitter prassten auf Caros Haut. Die Nacht streckte ihre Flügel nach ihnen aus und umhüllte sie.
„So ein blöder Mist!“, sagte Dieter.
Schnell nahm Caro ihre Hand von der Gürtelschnalle.
Sie hörte, wie Dieter aufstand und den Raum verließ. Mit beiden Händen tastete sie nach dem Brotmesser. Als sie es gefunden hatte, beugte sie sich nach vorn und begann, das Klebeband um ihre Fußgelenke zu zerschneiden.
Schneller! Schneller! Schneller! pochte es hinter ihrer Stirn.
„Ha!“, rief sie, als die Füße wieder frei bewegen konnte und stand auf, wobei sie, wegen der Taubheit ihrer Beine, fast gestürzt wäre. Mit den zusammengebundenen Händen tastete sie sich an den Wänden entlang, aus dem Zimmer, durch den Gang zur Haustür. Es empfing sie eine Einfahrt, die wie die Oberfläche des Mondes strahlte. An einem Zaun gelehnt spiegelte ein Fahrrad das Funkeln der Sterne wider. Sie rannte darauf zu, wobei jeder Schritt in den Gelenken brannte. Hastig rieb sie das um ihre Handgelenke gewickelte Tape über das Bremskabel am Oberrohr, bis es sich löste. Sie schob das Fahrrad ein paar Meter. Es war nicht abgesperrt.
„Verschwindet! Los! Was wollt ihr? Haut ab!“ Dieters Schreie flogen durch die Nacht wie ein Schwarm aufgeschreckter Fledermäuse.
Der Lenker schwankte stark in ihren zittrigen Händen, und sie wäre fast gegen den Zaun gefahren, bekam das Zittern schließlich doch unter Kontrolle. Zum Glück rollte das Rädchen des Dynamos am Rad entlang, und ein zittriger Lichtkegel wies ihr den steinigen Abhang zum Dorf hinab.
Dort, wo die Feen tanzten.
Im Slalom wich sie den großen Schlaglöchern aus.
Wen hatte Dieter eben angeschrien? Sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Egal. Sie war dankbar für den Vorsprung.
Unten angekommen führte ein asphaltierter Weg an einer Scheune und Koppeln vorbei. Es ging kurz bergauf, und sie atmete schwer, während sie in die Pedale trat. Als sie über den Rand des Hügels auf die lange von Laternen beleuchtete Straße sah, stockte ihr der Atem. Sie drückte reflexartig die Bremsen und wäre fast über den Lenker gestürzt. Vor ihr, im Schein einer Laterne sah sie die Silhouette eines Mädchens.
Das Gesicht. Ist das …
Doch ihre Gedanken wurden von der Explosion der Straßenlaterne zerrissen. Ein Funkenregen stob von der Lichtquelle auf das Mädchen nieder.
Stehend trat Caro in die Pedale, bog links in einen dunklen, schmalen Fußgängerweg ab, der von Reihenhäusern und jungen Buchen flankiert wurde. Mit Tunnelblick fixierte sie den Boden vor sich, versuchte den Ästen auszuweichen, mit denen der Weg übersät war. Kurz bevor der Weg wieder auf eine beleuchtete Straße führte, stieg ein weiteres Mädchen aus dem Gebüsch links von ihr. Wieder drückte sie die Bremsen, hörte und sah noch, wie das Vorderlicht des Fahrrades zersprang. Diesmal flog sie über den Lenker, machte einen Salto und schlug mit dem Steißbein auf dem Pflaster auf. Vor Schmerz zog sie pfeifend die Luft durch die fest zusammengebissenen Zähne.
Laut stöhnend richtete sie sich auf.
Scheiß auf das Fahrrad, dachte sie und rannte an dem bedrohlichen Schatten vorbei, der die Arme nach ihr ausstreckte. Tränen und Schweiß brannten auf ihrem Gesicht. Sie versuchte alles auszublenden. Später dürfte sie ihren Schmerzen Raum lassen, aber jetzt musste sie entkommen. Einfach nur weg. Sie rannte unter den Laternen hindurch, sah, wie ihr Schatten wuchs und verblasste und von Neuem entstand. Ihre Lungen standen in Flammen. Sie konnte nicht mehr rennen, stoppte und stützte sich auf den Knien ab. Der Gehweg drehte sich unter ihren Füßen. Nach drei tiefen Atemzügen wagte sie einen Blick über die Schulter. Drei Schatten folgten ihr. Als sie unter der Laterne hindurchgingen, gab es wieder einen Knall und ein Meer aus Sternen fiel auf sie herab.
„Was wollt ihr?“, schrie sie ihnen entgegen. Dann ging sie, sich an den Gartenzäunen abstützend, weiter.
Sie sah nach hinten. Ihre Verfolger kamen näher, wieder erlosch ein Licht mit lautem Knall und Funkenregen.
„Was ist denn da draußen los, verdammt!“, schrie eine Stimme aus einem der Häuser. „Manche Leute müssen in vier Stunden arbeiten!“
Als sie an der Kreuzung, um die Ecke bog und sich erschöpft an einem Stromkasten abstützte, sah sie zwei Scheinwerfer auf sich zukommen. Sie hob einen Arm.
Zu spät erkannte sie die ovalen Lichter und die weinrote Lackierung des alten Mercedes.
„Nein, nein, nein“, brüllte sie, stieß sich vom Stromkasten ab, setzte zum finalen Sprint an, stolperte und schlug sich die Knie auf.
„Da bist du ja.“ Er packte sie am Arm, zog sie zu seinem Wagen, schleuderte sie auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu. Caro war zu schwach, um sich zu wehren. Er stieg neben ihr hinter das Steuer und fuhr weiter in die Nacht.
Knapp zwanzig Meter von der Stoßstange entfernt tauchte eines der Mädchen auf. Anstatt zu bremsen, trat er noch mehr aufs Gas und schrie: „Ihr blöden Gören!“
Sie kniff die Augen zusammen, wartete auf den Aufprall, hörte das Splittern von Glas. Als sie die Augen wieder aufschlug, stand die Schwärze vor ihnen wie eine Wand.
Die Scheinwerfer waren geplatzt. Schatten wirbelten um sie herum. Alles, was sie hörte, war der Motor, der immer lauter knurrte wie ein tollwütiger Hund.
„Du hättest nicht weggehen sollen, Sarah“, sagte er ruhig wie zu sich selbst. „Das hättest du nicht tun sollen.“
Ein Gedanke flammte in ihr auf. Schnall´ dich an, jetzt!
Sie tat es. Und gleich darauf zerbarst die Windschutzscheibe, sie wurde nach vorn in den Gurt gedrückt. Anstatt des dröhnenden Motors drang nun ein lautes Piepsen in ihr Gehör. Sie keuchte und hustete und warf einen Blick nach links. Ein dicker Ast hatte Dieters Kopf halb vom Rumpf gerissen. Schwarzes Blut schoss aus der klaffenden Kehle. Sie stemmte sich gegen die Tür – Mist! Blockiert! -, spuckte Galle in den Fußraum und lehnte sich wieder zurück. Staub wirbelte herum. Sie waren gegen einen dicken Baumstamm gekracht.
„Hey.“
Ihr Herz setzte aus, pumpte dann holpernd weiter.
Sie drehte sich um. Auf der Rückbank saßen die drei Mädchen.
„Wer seid ..." ... ihr? wollte sie fragen, aber sie musste husten. Ihr Rachen fühlte sich wund an, und sie fragte sich, ob beim Aufprall Batteriesäure in ihren Mund gelangt sein konnte.
Das Mädchen mit den braunen lockigen Harren und den großen braunen Augen streckte ihr die rechte Hand entgegen. Es lächelte.
Caro zögerte, dann legte sie ihre Hand in die Hand der toten Sarah und die Schwärze der Nacht löste sich auf, als würde ein Film im Projektor reißen. Zurück blieb nur die beschienene Leinwand. Strahlendes weißes Nichts.