Rachegedanken
Rachegedanken
Ich weiß nicht ob es Morgen oder Abend ist und wenn ich ehrlich bin interessiert es mich auch nicht. Es bleibt dunkel. Alles ist dunkel seit diesem Tag.
Ich hoffe sie ist nicht bei Gott. Schließlich muss er grausam sein. Er hat es zugelassen. Wenn Gott existiert ist er kein guter Gott. Das ist wie mit den bösen Hexen.
Aber was existiert überhaupt wirklich außer Schmerz?
Der Schmerz füllt den Kopf so aus, dass nichts mehr zu existieren scheint. Man muss sich zwingen, nicht zu verdursten. Schmerz prägt den Hang zum unabsichtlichen Selbstmord. Man wacht eines Morgens auf und ist tot. Nicht einmal der Selbsterhaltungstrieb existiert.
Als Kind habe ich mir mehr als einmal gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können. Ich denke man wünscht sich das im Laufe des Lebens immer wieder. Wenn man ein Glas Tusche über seine Zeichnung geschüttet hat. Oder wenn man seine Frau aus einem Moment der Wut heraus geschlagen hat.
Aber ein Bild kann man noch einmal malen. Sie ist tot.
Sie hat Einkaufstaschen in ihren beiden Händen, und sie stellt sie ab um den Knopf der Fußgängerampel zu drücken. Sie wartet auf grün und sieht ungeduldig auf die Uhr. Sie ist spät dran, und sie ist geneigt, über die Straße zu gehen ohne die Grünphase abzuwarten. Schließlich sind nicht einmal Autos zu sehen. Aber sie will den Kindern ein gutes Beispiel sein.
Wie ironisch, dass sie noch leben würde, wenn sie nicht so korrekt wäre. Gewesen wäre.
Also wartet sie bis sie legal über die Straße gehen kann. Legal und sicher.
Das Auto erfasst sie so unerwartet und plötzlich, dass sie nicht einmal mehr Zeit hat, ihr Leben im Zeitraffer in ihrem Kopf abzuspulen.
Und dann sind da die Reifenspuren auf den Einkaufstüten.
Es dauert zwei Wochen, bis ich den Plan fertig habe. Es ist ein einfacher Plan, und unter normalen Umständen hätte ich keine 10 Minuten überlegen müssen. Aber eine dunkle Wolke umhüllt meine Gedanken.
Ich muss auf nichts achten. Was kann ich schon verlieren?
Ich glaube, die Polizisten, die mir von ihrem Unfall erzählt haben, sagten auch, dass er wegen Trunkenheit am Steuer und fahrlässiger Tötung angeklagt wird. Ich frage mich, was sie dazu sagen würde. Wenn sie könnte.
Es dauert vier Wochen, bis ich den Plan ausführe.
In den vergangenen Tagen bin ich zweimal an seinem Haus vorbeigefahren. Beim zweiten mal habe ich ein Bild von ihr in seinen Briefkasten geworfen. Ich frage mich, ob er ihr Gesicht gesehen hat, bevor es von dem Aufprall zerschmettert wurde. Ich frage mich, ob er einen darauf getrunken hat, dass er auf Kaution freigekommen ist.
Ich frage mich sehr viel seit sie tot ist.
Er schläft in einem Zimmer im Erdgeschoss, was den Plan noch einfacher macht.
Es ist ein Uhr nachts, als ich mein Auto in eine Seitengasse stelle und die restliche Strecke zu seinem Haus laufe. Das ist die einzige Vorsichtsmaßnahme, die ich treffe, und ich überlege, warum überhaupt. Ich hätte genauso gut mitten vor seinem Haus parken können.
Alles ist so ruhig.
Ich kann ihn erkennen, seine Umrisse unter seiner Bettdecke, wie er schläft, friedlich wie ein Baby. Als hätte er nicht vor einem Monat eine junge Frau umgebracht.
Ich fühle mich das erste Mal seit dem Tag, an dem der Schmerz begann, frei, als ich das Fenster einschlage und eine Kugel aus meiner Waffe seinen Kopf trifft. Er merkt nicht einmal, dass er jetzt tot ist, und das ist eigentlich nicht gerecht, aber die dunkle Wolke um meinen Kopf lichtet sich. Er sieht immer noch aus als würde er schlafen.
Ich frage mich, ob es die selben Polizisten waren, die mir die Nachricht vom Tod meiner Frau überbrachten, die mich jetzt mit gezogenen Waffen auffordern, meine fallen zu lassen und mich auf den Boden zu legen. Ich bin frei, und ich lache über die Handschellen, denn sie sind nichts im Gegensatz zu dem, was mich die letzten vier Wochen gefesselt hatte.
Noch im Streifenwagen schlafe ich ein. Endlich kann ich wieder schlafen. Ich sehe sie im Traum und ich sage ihr, dass ich sie liebe und sie gerächt habe. Sie sieht schön aus, das erste Mal, seit sie tot ist sehe ich sie, wie sie vorher war. Vor dem Unfall.
Ich wache auf, weil mir kalt ist, und das erste, was ich wahrnehme ist, dass ich auf dem Boden liege.
Das zweite ist das halbleere Röhrchen Schlaftabletten, von denen ich gestern abend einige geschluckt habe, um endlich eine Nacht durchzuschlafen.
Ich habe geträumt.
Die Schlaftabletten haben ihre Wirkung getan.
Er lebt und sie nicht.
Ich glaube an eine Halluzination, als ich sein Haus auf der Titelseite meiner Zeitung sehe. Ich kann nicht glauben, dass sie schon wieder über den Unfall berichten. Ich habe in den letzten Wochen schon zu viele Bilder gesehen.
Daneben sein Bild. Der Mann, der vor einem Monat eine junge Frau auf ihrem Heimweg überfahren hat, erschoss sich gestern Nacht. Die Polizei schätzt den Zeitpunkt des Todes auf ein bis zwei Uhr nachts. Er starb während ich schlief und von Rache träumte.
Es hat angefangen zu schneien. Und mein Auto steht nicht in der Einfahrt. Nun, ich denke ich weiß, wo ich es finde.
L.S.