- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Rabensteiner und der Weltfrieden
Rabensteiner und der Weltfrieden
Der dunkle Mann
Abends stellten sie einen dunklen Mann ans Fenster. Aber Abend war es noch nicht. Es war morgens, kurz vor Beginn der Arbeit. Die Türen öffneten sich fast schon von selbst, wenn sie die Angestellten kommen sahen. Und die Türen hätten sie sicher umarmt, würden sie allein eintreten, jeder für sich. Doch sie kamen in einer großen Menge an die schwarz umrandeten Türen, die versehen waren mit Spiegelfenstern. Diese Fenster hatte man eingesetzt, damit die Angestellten nicht schon flohen, wenn sie von draußen her die Aktenschränke sahen. Die Schränke ragten hoch wie Türme in die große Halle hinein. Sie schienen die ganze Welt zu überragen, sie wankten in der kühlen Luft eines Deckenventilators, der mit seinen Schwingen das ganze Gebäude hätte tragen können, würde es nicht fest wie ein Berg ohne Gipfel einen großen Schatten auf den Platz werfen.
Von oben herab wirkten die Angestellten wie ein Haufen, der sich schleppend und drängelnd gegen sich selbst durch die Windungen der Türen schob. Jeder von den Angestellten spiegelte sich für einen kurzen Augenblick ganz allein in den Fenstern. Ein Glanz würde von jedem ausgehen, doch das war nicht so, denn kurz auf den einen folgte schon ein anderer Angestellter. Und sie alle fügten sich dann wieder in die Menge, die nie etwas anderes als ein schwarzer Fleck war, sich wälzend durch den Eingang. Ein großer Angestellter verschwand im Spiegelbild gar hinter einem kleineren, so viele waren es. So kamen sie in die Halle und standen zwischen den Aktentürmen, die an den Flanken standen.
Jeder hatte einen eigenen Platz, aber unter den Türmen und zwischen den zahllosen Tischen verlor jeder sein Aussehen und ordnete es der Menge unter. Sie waren Einheiten. Und die Einheiten legten Hut und Mantel nicht ab, um die Ordnung zu wahren, die sich von selbst in bedächtiger Eile schuf. Auf jedem Tisch stand eine Schreibmaschine, daneben Schreiber und Tinte. Auf der einen Seite unter dem Tisch lagen Stapel Papier, versehen mit dem Briefkopf der Anstalt, auf der anderen Seite standen die Mappen mit den täglichen Aufgaben, versehen mit Angaben zur Aktualität.
Diese Angaben versorgten die Angestellten mit dem notwendigen Wissen, welche Aufgabe wann erledigt sein mußte, wie lang die maximale Bearbeitungsdauer sein durfte, wie dringlich es allgemein war und wie viele Angestellte mit dieser Aufgabe betraut waren. Wie Nahrung sehnten die Angestellten dieses Wissen herbei, sie war ein Ansporn sofort und ohne Unterbrechung mit der Arbeit zu beginnen. Manchmal ließen sich Verzögerungen nicht vermeiden, denn einige Vermerke trugen diese Aufschrift: Um Verschleppung wird gebeten. Diese Eintragung wies den Angestellten darauf hin, die Arbeit an dieser bestimmten Sache zu verzögern. Die Gründe dafür lagen bei den besonderen Vorstellungen der leitenden Angestellten, einem unangenehmen Antragsteller aus dem Weg zu gehen, seine Sache also zu verschleppen, denn eine Bewilligung der Wünsche stand ausdrücklich nicht zur Debatte.
Das begründete sich meist in der einfachen Tatsache, dass der Antragsteller entweder ein Formular falsch ausgefüllt hatte oder dass der Wunsch einfach nicht erfüllbar war. Ein verschleppender Angestellter hatte die Mappe aufgeschlagen auf den Tisch zu legen. Dann mußte er nur warten, bis das Telefon klingelte und einer der höheren Angestellten dies sagte: Antrag zurückgenommen.
Die höheren Angestellten sah man niemals. Sie meldeten sich per Telefon, sprachen immer die gleichen Sätze und ließen keine besonderen Stimmungen in ihrem Tonfall hören. So lief die Arbeit bis zum Abend. Das Klicken der Schreibmaschinen tanzte einen eintönigen, schnellen Walzer durch die Stunden des Tages. Niemand sprach ein besonderes Wort. So war es immer.
Am Abend stellten sie den dunklen Mann ans Fenster. Es war ein Herr aus dunkler Pappe, der dafür Sorge trug, dass kein Unbefugter sich Zutritt zur Anstalt verschaffen konnte.
Nach dem Aufstellen des Mannes verließen die Angestellten in gleicher Weise wieder die Anstalt, stiegen in die Bahn und fuhren heim.
Der Punkt
An einem Abend jedoch fiel ein kleiner Punkt heraus. Er trennte sich von den anderen, löste sich fein heraus und blieb am Bahnsteig stehen. Als die Bahn aufbrach bemerkte der Punkt, dass er allein war. Das war noch nie geschehen.
Der Name des Punktes war ihm selbst unwichtig. Er war ihm bekannt, aber er war nicht wichtig, nicht besonders. Ohne an seinen Namen zu denken verlor er keine Zeit und studierte gewissenhaft die Fahrpläne. Vielleicht konnte er ja eine spätere Fahrt nehmen, es wäre sicher noch rechtzeitig. So fuhr sein Finger von einer Information zur nächsten. Die Abfahrtzeiten standen auf einer kleinen Tafel geschrieben, er sah sie immer wieder durch, um eine brauchbare Bahn zu finden. Es gelang nicht. An diesem Abend sollte keine Fahrt mehr stattfinden. Darum schaute der Punkt aufgeregt in alle Richtungen. Er war so verloren, dass er sogar in den Himmel schaute. Als er die Sterne sah, da wunderte er sich. Es waren sehr viele Sterne. Blickten sie jeden Abend auf ihn herab, wenn er mit den anderen in die Bahn stieg ? Diese Frage konnte er nicht beantworten. Er sah auf den Boden und betrachtete sein Schuhwerk. Es reichte aus, den Weg zu Fuß anzutreten.
So verließ er den Bahnsteig und lief eilig durch die Bahnhofshalle. Als er gerade an der großen Drehtür stand und seine nächsten Schritte sorgfältig plante, da hörte er gesprochene Worte. Nach kurzer Zeit hörte er die gleichen Worte wiederholt. Er wußte, dass es die gleichen Worte waren, weil sie vom Klang her identisch waren. Als er sie ein drittes Mal hörte, verstand er die Frage eines alten Mannes, der neben ihm stand: „Wohin gehen Sie ?“
Der Punkt zögerte und ließ die Frage um sich selbst kreisen. Dann suchte er nach Worten, konnte aber nur die Frage des Mannes wiederholen. „Ich gehe nirgendwo hin“, antwortete der alte Mann. Der Punkt verstand die Antwort. Und sofort dachte er an sein Gespräch mit dem Prokuristen.
Der Prokurist
Am vergangenen Tag saß der Punkt ordnungsgemäß an seinem Platz. Er sah die Mappen nach Aktualitäten durch und fand ganz unten den Verschleppungsvermerk. Darin ging es um den an sich bedeutungslosen Antrag eines Arbeiters zur Klärung einer ebenso bedeutungslosen Versicherungsfrage. Da dem Punkt die Sache eigentlich bedeutungslos erschien und er sie ohne die Anweisung sicher bearbeitet hätte, war er sehr verwirrt. Gerade wollte er einen höheren Angestellten anrufen, da klingelte das Telefon: „Antrag zurückgenommen“, sagte die Stimme. Dann legte man auf.
Der Punkt aber hatte es noch nie erlebt, dass am Tag des Verschleppungsbeginns gleich ein Antrag zurückgenommen wurde. Da ihm dies wie eine Störung der inneren Ordnung erschien, stand er auf und lief an den anderen vorbei. Keiner beachtete ihn. Er öffnete eine kleine Tür am Ende der Halle. Von der Tür wußte man nicht viel. Es wurde erzählt, sie würde zu den höheren Angestellten führen. So schloß er die Tür hinter sich und lief durch einen geraden Gang, dessen Ende an einer einzigen Tür lag. Vor der Tür kehrte ein junger Herr den Boden. Der junge Mann sah auf und bemerkte den Punkt.
„Was wollen Sie hier ? Sie haben unbefugt eine leitende Etage betreten“, sagte er. Der Punkt antwortete ordnungsgemäß knapp: „Verschleppung beendet. Um Anweisung wird gebeten.“
Der junge Herr stellte sich als Prokurist der Anstalt vor: „Ich kehre den Schmutz fort, den die Verschleppungen hinterlassen.“
Der Punkt erklärte die Verwirrung, welche die Anweisungen hinterließen.
„Eine solche Angelegenheit ist natürlich schwierig. Ich verstehe, dass gerade ein Angestellter nicht immer begreifen kann, welche höheren Ziele mit diesen Anordnungen und Verfahrensweisen verbunden sind. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass der Antragsteller zufrieden ist.“
Eine einzige Frage kam in den Kopf des Punktes:
„Wie kann er zufrieden sein, wenn er seinen Antrag zurückgenommen hat ?“
„Diese Frage steht Ihnen nicht zu. Sie haben größere Möglichkeiten, wenn Sie keine Fragen stellen, die eine Sache kompliziert machen. Jetzt kann sie nämlich nicht zu den Akten gelegt werden. Jetzt muß ich die Reste der kurzen Verschleppung zusammensetzen. Und dann werden Sie einen neuen Antrag bekommen, dann wird wieder verschleppt. Für Antragsteller und für unsere Anstalt bedeutet das erneut unnötige Arbeit. Der Antragsteller wird jetzt ganz sicher nicht mehr zufrieden sein –alles wegen Ihrer Frage.“
Der Punkt begriff die Probleme, die er der Anstalt machte. Er nickte dem Prokuristen zu und wollte gehen. „Warten Sie“, rief der Prokurist, „wenn wir Schweigen bewahren, dann wird nichts weiter geschehen und ein erneutes Verfahren kann vermieden werden.“
Der Punkt hielt seinen Zeigefinger an den Mund. Der Prokurist nickte und schickte den Punkt fort.
So geschah nichts, alle waren zufrieden.
Beim alten Mann
Der alte Mann beobachtete das Zögern des Punktes. Als dieser seine Gedanken beendete, da antwortete er dem alten Mann:
„Ich gehe auch nirgendwo hin. Heute in der Anstalt gab es keine besonderen Vorkommnisse.“
Der alte Mann verzog sein Gesicht. Er drückte seine Wangen nach innen und verschob die Augen ein wenig zur Seite.
„Wissen Sie, ich habe schon so viele Anträge gestellt und zurückgenommen, dass ich fast schon vermute, sie erledigen ihre Sachen ganz von allein“, sagte der alte Mann.
„Ja, diesen Eindruck kann man schon gewinnen. Anträge werden nicht bearbeitet, wenn der Antragsteller ein Formular falsch ausgefüllt hat, verstehen Sie ?“
Der alte Mann lächelte: „Ich kenne die Abläufe in der Anstalt. Ich selbst habe früher dort als Angestellter gearbeitet. Nun, man wird alt. Dann geht man für immer fort. Ihre Zeit aber scheint noch nicht gekommen. Sie werden noch lange Zeit dort sein. Aber später, ja, später werden Sie das letzte Mal den dunklen Mann aufstellen, das verspreche ich Ihnen. Und dann werden Sie sehen, dass Sie es nicht vermissen werden.“
Der Punkt schüttelte den Kopf. Er lief schnell durch die Tür und rannte fort.
Am nächsten Morgen würde er seinen Dienst tun. Das Gespräch mit dem alten Mann wäre vergessen. Viele Mappen würden ihn erwarten.
Rabensteiner
„Meine Aufgabe ist wichtig. Verschleppungen bewahren die Ordnung, denn was sollten wir mit sinnlosen Anträgen ?
Ein Antrag auf Bewilligung einer Versicherungsleistung wird immer in Erwartung der Verschleppung gestellt. Wie kann jemand da erwarten, dass ein Antrag auf Weltfrieden nicht ähnlich verschleppt werden kann ? Wer glaubt, er könne hier alles erreichen, der irrt sich“, hätte er gern noch gesagt.
Am nächsten Morgen bekam er wieder einen Verschleppungsvermerk.
In Rabensteiners Kopf gingen zwei Fragen auf:
Wird es heute anders sein ?
Wieso sollte es heute anders sein ?