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Rückzug
Frau Unmuth sitzt im Wartezimmer der Zahnarztpraxis.
Eigentlich, denkt sie, ist das doch vertane Zeit. Sie wird die teure Prophylaxe sowieso nicht nutzen.
Grüßte sie jemand der anderen Wartenden zurück, als sie den Raum betrat?
Hat sie selbst überhaupt gegrüßt? Sie hält ihre kleine, schwarze Handtasche auf ihren Knien fest und denkt darüber nach. Immer öfter kommt es ihr vor, als würde sie nichts um sich herum mitbekommen. Als säße sie hinter Glas.
Erst letzte Woche sollte sie nach der Routinekontrolle der Gynäkologin eine Zusatzuntersuchung selbst bezahlen. Sie ist verunsichert und ungeübt in Geldfragen. Zum anderen hat sie wirklich genug von ärztlichen Untersuchungen. Früher war sie unbekümmert. Seit ihr Mann Max verstorben war, fällt ihr Vieles schwer im Alltag.
Die Aufgaben in ihrer Ehe waren traditionell verteilt. Sie hatten das bewährte Muster übernommen, denn Frau Unmuth hat keinen Beruf. Sie bewerkstelligte den Haushalt, er verdiente das Geld. Seine Bezüge als Beamter reichten für sie beide. Sogar jährlich eine Urlaubsreise gönnten sie sich. Mal fuhren sie ans Meer, ein anderes Jahr in die Berge. Einmal unternahmen sie eine Flugreise nach Spanien. Nachdem sie kinderlos geblieben waren, hatte sie alleinstehenden alten Menschen in der Nachbarschaft beim Einkaufen und Sauberhalten der Wohnungen geholfen.
Beinahe fünfundzwanzig Jahre waren sie verheiratet gewesen. Im nächsten Jahr hätten sie dieses Jubiläum sicherlich gefeiert.
Morgen jährt sich Max' Todestag.
Drei Monate nach der Diagnose stand sie mit seinen Kollegen auf dem Friedhof, um Max zu beerdigen. Sie selbst kann sich gar nicht mehr gut an diese Stunden erinnern. Sicher, alle sahen betroffen aus, kondolierten und sagten etwas Nettes oder Aufbauendes. Das weiß sie wohl noch.
Bei der anschließenden Trauerfeier wurde die Stimmung lebhafter. Daran erinnert sie sich. Zwei Frauen der Kollegen saßen neben ihr. Eine von Ihnen hielt ihre Hand fest - ja, Britta hieß sie - und ließ sie auch dann nicht los, als sie mit der anderen zur Kaffeetasse griff. Das war eine nette Geste.
Frau Unmuth zupft Nagelhaut vom Daumen.
Sie konnte den Gesprächen damals nicht recht folgen. Ihre Stimmen klangen gedämpft, wie isoliert. Nur Wortfetzen nahm sie auf. An einige erinnert sie sich vage. Die Männer redeten von einem verwundbaren Alter und zählten andere Kollegen auf, die mit den verschiedensten Krankheiten zu kämpfen hatten.
Ja, denkt Frau Unmuth, während neben ihr eine junge Frau aufsteht und mit der Zahnarztassistentin den Raum verlässt, das war ein Kampf, den Max und sie zu dieser Zeit auszustehen hatten. Sie waren so unvorbereitet und wussten nicht, welche Waffen sie dafür zur Verfügung hatten. Es war von Anfang an ein ungleicher Kampf gewesen. Dieser Gegner hatte leichtes Spiel mit ihnen. Er nutzte den Überraschungsmoment aus und streckte sie nieder. Alle beide. Max verlor sein Leben und sie den Lebensmut.
Frau Unmuth erhebt sich von ihrem Stuhl, nimmt ihren Mantel vom Haken und verlässt grußlos das Wartezimmer. Der Dame an der Anmeldung erzählt sie etwas von Unwohlsein und dass sie besser nach Hause gehen würde.
Der Weg von der Praxis zur Wohnung, in der sie mit Max die letzten zwanzig Jahre verbracht hat, führt an einem Fluss vorbei. Sie geht sehr langsam. Sie hat es nicht eilig. Auf der Brücke bleibt sie stehen und beobachtet das Wasser. Es ist ein ruhig fließender Fluss mit starken Strömungen. Das weiß sie von ihrem Mann. Sonntags saß Max manchmal hier mit Kollegen zum Angeln. Er brachte aber die Fische nie mit nach Hause. Zum Mittagessen gab es dann Braten.
Warum hatten sie eigentlich so selten Gäste zum Essen?
Sie und Max waren kein geselliges Paar, durchfährt es sie. Sie runzelt die Stirn.
In den ersten Wochen nach der Beisetzung riefen regelmäßig die Frauen der Kollegen an und fragten, wie sie zurechtkäme.
Was sollte sie antworten? Sie war allein. Nein, sie war einsam und sie empfand das Leben als Last. Das sagte sie selbstverständlich nicht. Und so blieben bald die Telefonate aus.
„Haben Sie etwas verloren? Ist Ihnen etwas ins Wasser gefallen?" Eine junge Frau steht neben ihr und berührt sie am Arm. Frau Unmuth dreht den Kopf in ihre Richtung und blickt ihr verwundert ins Gesicht. Es ist gerötet und leicht verschwitzt. Sie trägt Sportkleidung und ein Kabel von Musikhörern hängt ihr aus dem linken Ohr heraus. Frau Unmuth kann ihre Energie spüren.
Sie möchte lächeln, schüttelt aber bloß den Kopf.
„Nein, danke", antwortet sie schließlich, „nichts, was ich im Fluss wiederfinden könnte".
Sie zieht ihre Schultern zurück, berührt die junge Frau am Ellenbogen und setzt ihren Weg nach Hause fort. Dabei beschleunigt sich ihr Schritt. Erst bemerkt sie es nicht, aber dann wird sie etwas kurzatmig und der Puls pocht an ihrem Hals. Jetzt lächelt sie und beschließt zu Hause Britta, die Frau eines Kollegen von Max, anzurufen. Vielleicht können sie gemeinsam eine Tasse Kaffee trinken gehen. Vielleicht schon nächste Woche an ihrem 50. Geburtstag.