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Rückwärts

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15.01.2002
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Rückwärts

Späte Dunkelheit schreckt mich aus dem Schlaf, die warme Decke über mir wird hinweg gerissen vom Schicksalslauf des Tages. Kälte streift meinen Körper. Ich stehe auf.
Heiße Tropfen strömen aus dem Duschkopf, fressen die Gänsehaut, perlen gleißend an mir herab und werden von einem Handtuch aufgesogen. Rasierschaum, Krawatte und Lederschuhe kreisen lauernd um mich herum, stoßen zu, heften sich an meinen Körper.
Nächster Schritt.

Während ich am Küchentisch sitze, zeigt der Fernseher verrauschte Bilder des Tages. Alles schon mal gehört, gelesen, gesehen. Menschen die reden, laufen, hetzen. Zahlen die springen, fallen, sterben.
Nach dem Essen Tisch abräumen, spülen, danach ins Arbeitszimmer. Vor meinen Augen tanzen kleine Kristalle den Tanz des Sisyphus, stellen sich auf in Reih und Glied, ordnen sich zu einer flimmernden Collage aus Graphen, Tabellen und Statistiken.
Mein Zimmer zieht sich in die Länge fliegt durch einen langen Kanal, fliegt und beschleunigt dabei. Inmitten einer großen Uhr tippen meine Finger tausende der in meinem Kopf gespeicherten Daten nieder. Dann, irgendwann, beginnt die Uhr zu schreien und zu kreischen, dass es unerträglich wird und mich von meinem Schreibtisch bis in den Flur pustet.
Nächster Schritt.

Tür aufschließen, das Treppenhaus hinunter, die Post in den Briefkasten stecken, Wagen abschließen, auf die Bremse drücken. Mit dem ersten Gang aus der Garage heraus auf die Straße und in vollem Tempo in die Innenstadt. Ampeln wachsen entlang der Straße empor in den Himmel. Reife rote Früchte leuchten herab auf das Dach des Wagens. Die Bremse ist blockiert, die Uhr schreit und ich schalte einen Gang herauf um besser beschleunigen zu können.
Nächster Schritt

Der Wagen hält an, die Tür wird aufgeschlagen. Hinter ihr öffnet sich ein Strudel und saugt mich heraus in die Realität. Rückwärts rase ich auf einen Ledersessel zu, werde hineingepresst. Meine Arme fesseln sich an den Telefonhörer, meine Augen ketten sich an Kurse und Charts.
Stränge führen hoch in die endlosen Tiefen des Raumes, binden Arme und Beine an die Bewegung von Fonds und Optionsscheinen.
Der Boden unter mir klappt weg und es eröffnet sich der alltägliche Abgrund. Die Rollen meines Stuhles setzen sich auf unsichtbaren Schienen in Bewegung. Einige Meter zurück, dann stürzt alles in voller Geschwindigkeit herab, erreicht einen relativen Tiefpunkt und schleudert mich in unverändertem Tempo wieder nach oben. In der vorbeisirrenden Luft flattern Werte wie Kolibris um mich herum. Ich versuche im Vorbeiflug die richtigen zu ergreifen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Tanz auf der Schneide von Optimismus und Pessimismus.
Der Anfang der unsichtbaren Strecke naht. Die Fliehkraft schleudert mich aus dem abrupt stoppenden Sessel.
Nächster Schritt.

Die Autotür klappt zu. 8:00 AM zeigt das fluoreszierende Display. Die Bremsen quietschen, der Wagen setzt sich in Bewegung Richtung Midtown Traffic. Die Betonmasse unter mir teilt sich auf und vereinigt sich, zerfließt und verklumpt wieder. Die Drehzahlen zeigen roten Bereich. Ten. Der vierte Gang setzt zum Überholmanöver an. Nine. Die Kreuzung ist noch frei. Zwischen den heranfahrenden Wagen donnert der Wagen hindurch. Eight. Die Zentripetalkraft zieht in jeder Kurve an meinen Strängen. Rechts, Links, 90 Grad. Seven. Brennendes Gummi steigt in meine Nebenhöhlen, als ich durch die Tür des Wagens und der des Hauses gedrückt werde. Six. Waschmaschine schließen, die Sachen herausholen, die Lebensmittel erbrechen und in die Schränke räumen. Die Uhr kreischt! Five. Zeit reißt die Stoffe von meiner Haut. Das Handtuch unter der Dusche trocknen und die heißen Perlen von meinem Körper schütteln. Ich drehe den Wasserhahn auf. Four. Kreischen saugt sich in meine Ohren. Three. Der Weg zum Schlafzimmer streckt sich. Ich gleite in Zeitlupe über die eisige Oberfläche. Two. Ein Stoß erfasst mich nov hinten ,tlebriw hcim hcrud die Luft dnu tkcürd hcim sni Tebb .One. Netengam netlah meine Redilnegua nemmasuz ,nekcürd dnezremhcs fua eid ennüd Tuah .Sednemhäl Nehcsierk tgnirdhcrud neniem neznag Reprök .Nefalhcsnie ,run nefalhcsnie .Zero.
Ttirhcs Retshcän .

 

Hi Fred!

Ich glaube, Dein Protagonist braucht dringend mal Erholung! :D

Zahlreiche sehr nette Wort- und Sinnspiele konnte ich in Deiner Geschichte finden, das zeigt viel Phantasie und das Lesen hat mir dadurch wirklich Spaß gemacht! :thumbsup:

Bei den verkehrten Wörtern am Schluß würde ich die Satzzeichen nicht ans nächste Wort geben, sondern eben ans vorherige vorne oder hinten dran.
Hier fehlt glaub ich ein Wort nach "sni":
"hcrud die Luft dnu tkcürd hcim sni .One."

"Netengam netlah meine Redeilnegua nemmasuz ,nekcürd dnezremhcs fuaeid ennüd..." - Redilnegua - fua eid

Alles liebe
Susi

 

Danke Susi

Ich wusste doch, dass mir in dem Teil noch Fehler unterkommen. Die Satzzeichen möchte ich lassen, um die Verdrehtheit verstärkt auszudrücken.Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt die ganzen Sätze um zu drehen, aber den Gedanken habe ich recht schnell verworfen.

Dennoch danke für die Anregung und für´s Lesen

Frederik ;)

 

Cool! :bounce:

Wow, das ist die beste Geschichte, die ich bisher gelesen hab. Tolle Idee mit der rückwärts laufenden Zeit und Schrift. Bin richtig begeistert und weiß gar nicht, was ich schreiben soll!

 

sni Tebb
Huch! das haste micht verblüfft!
mein Lieblingssatz:
Lebensmittel erbrechen und in die Schränke räumen.
und ich mag diese stimmgwaltige Uhr! :D

Reprök
das ist mein Lieblings-Rückwärts-Wort ...

irgendwie hab ich den größten Teil der Geschichte über einen sehr bizarren Film vor Augen gehabt. Mehr so M TV mäßig, Du verstehst?

Ach ja, mit ist grad aufgefallen, daß Du ja tatächlich ganz am Schluß die völlige Inversion geschafft hast, auf die ich die letzten Zeilen über immer noch gewartet habe.

echt prima geworden!

Lieben Gruß,
Frauke

 

Hallo Frederik,

erst am Ende der Geschichte habe ich gemerkt, daß das ja alles rückwärts läuft bei Dir. Tja und dann die Sprach die ich teilweise nicht verstehe. Was ist Sisyphus, Zentripetalkraft?

Also ich denke hier ist Gedankenakrobatik erforderlich.
Du beschreibst einen Tagesablauf surrealistisch, deine Gedanken , Schilderungen empfinde ich als Surrealistisch.Der Ablauf , das Tagesgeschehen wiederrum ist realistisch. Mal was anderes. Naja habe längst nicht alles gelesen, an surrealen Geschichten. Logik in der Realität oder auch Chronologie, ist auch da, allerdings hast du den realen Tagesablauf in Surrealen Gedankengängen verpackt und das erfordert dann wieder den Geist.

Es ist nicht unbedingt mein Fall, weil ich mich bei diesen Sachen immer anstrengen muss.
Stilistisch allerdings recht professionell, so scheint mir.

Danke Archetyp

 

Moin Fred!

Allein der erste Absatz...

Rasierschaum, Krawatte und Lederschuhe kreisen lauernd um mich herum, stoßen zu, heften sich an meinen Körper.
Komplizierter gings wohl nicht, oder? Warum bemühst du so eine gestelzte Sprache? (Die sich konsequent bis auf einige Aussnahmen durch den ganzen Text zieht, was durchaus als kopfschüttelndes Kompliment zu betrachten ist...)

Was mir nicht gefällt, ist das Ergebnis des Textes. (Ein stupider immerwiederkehrender Tagesablauf, wie manche meinen? Nee...) Du beschreibst Schritt für Schritt (Nächster Schritt) den Einzug ins Chaos, verdeutlicht durch die plötzliche von Anfang an gewollte Rückwärtsschreibung am Ende.

Den Countdown halte ich für überflüssig. Auch würde ich den Übergang schneller und zackiger gestalten. Beispiel: "Ich fuhr zu meiner Oma AnnA dnu ethcarb rhi sawte nieW." Also ab einer bestimmten Stelle konsequent durchziehen. (Okay, billiges Beispiel. Sorry.)

Als sprachliches Experiment durchaus erwähnenswert. Sicherlich nichts für literarische Nachschlagewerke, aber das hat hier eh keiner gepackt! ;)

Mein Lieblingssatz ist der hier:

Tür aufschließen, das Treppenhaus hinunter, die Post in den Briefkasten stecken, Wagen abschließen, auf die Bremse drücken.
Hier schaffst du es hervorragend, nach dem alltäglichen eine Prise "Unvernünftige Herangehensweise" so selbstverständlich einfließen zu lassen, daß Gefahr besteht, oben zitierte Zeilen zu überlesen. Merkwürdigerweise verzichtest du ausgerechnet an der o.g. Stelle auf den von mir eingangs erwähnten "Stelz-Stil". Vielleicht ist es dir ja gar nicht aufgefallen...

Merke: Auf die kleinen Details kommt es an, nicht auf wortgewaltige, letztendlich nur den Alltag darstellende Wortphrasen. Das von mir erwähnte Beispiel soll dir zeigen, daß dir das schon ganz gut gelungen ist.

Fazit: Countdown raus. Schnellerer Übergang ins Chaos. Verzicht auf hohle Satzkreationen. Mehr, eben dem alltäglichen nicht entsprechende Situationen mit einbringen. Mehr auf das Wesentliche eingehen. Den ersten Absatz kannst du locker zusammensparen, indem du statt auf umständliche eher auf einfache Bilder setzt. Rasierer und Schuhe müssen nicht unbedingt um einen kreisen. Hier ist schon klar, was du meinst.

Weitere sehr schöne Sätze sind:

Während ich am Küchentisch sitze, zeigt der Fernseher verrauschte Bilder des Tages.
Die Bremsen quietschen, der Wagen setzt sich in Bewegung Richtung Midtown Traffic.
Du siehst, die scheinbar unwichtigen, unbedeutenden und nicht die ins Auge förmlich vor Zwang springenden Sätze haben es mir angetan.

Gruß,

Poncher

PS: Um mich zu retten sage ich: "Ich kann das natürlich auch vollkommen falsch verstanden haben!" :)

 

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