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Rückwärts fahren
Der Zug rattert durch eine verregnete Hügellandschaft, die sich wie ein Haufen verfärbter Wäsche am Fenster entlang zieht. In Hannover ist eine Gruppe älterer Frauen zugestiegen. Ihr Lachen klingelt schmerzhaft in meinen Ohren, als sie sich mit Prosecco in Plastikbechern zuprosten. Ein Wochenende in Köln, ohne Kerle. Was da alles passieren kann! Na, hoffentlich! Stöhnt eine auf. Langeweile ist in der Woche. Jetzt wird gelebt! Grimmig fletscht sie die Zähne.
Langweilig war es mit dir nie. Nervig, stressig bis in die letzten Synapsen. Ganz oben, im freien Flug über allen Wolken, Absturz inklusive. Für mich als begleitendes Flugpersonal ein Job ohne Sicherheiten.
Bis zu diesem Tag.
Ein Fahrkartenkontrolleur kommt durch die Tür. Jung, ein hübscher Kerl, dunkler, südländischer Typ. Während er meinen Fahrschein kontrolliert, springt sein Blick hinüber zu den Frauen.
Auf Wolke siebzehn hättest du dich zu ihnen gesetzt. Innerhalb weniger Minuten mit einem Gläschen Prosecco auf das Du angestoßen, nach einer halben Stunde die Unterschiedlichkeit von Lebenswegen diskutiert. Noch auf Wolke elf hätte ich Millionen Lichter mit dir anzünden können. Selbst auf Wolke neun war ein Leuchten um dich, das die Gesichter der Menschen erstrahlen ließ.
Der junge Kontrolleur geht auf die Gruppe zu. Er überhört jede Anzüglichkeit. Auch das kreischende Gelächter bringt ihn nicht aus der Fassung. Ruhig sieht er sich alle Fahrscheine an und verlässt das Abteil.
In der Frauengruppe wird es etwas stiller. So Wolke sieben.
Ich schaue wieder aus dem Fenster. Meine Gedanken drehen sich um den Tag, der alles verändert hat. Ein Wolke vier? Irgendwann war das schwer zu klären. Der Wolkensturz kam immer schneller und häufiger.
Ich erinnere mich an ein Frühstück in völliger Schweigsamkeit. Wie ich aufstand, um zur Arbeit zu gehen. Du hast an der Küchentür gelehnt, während ich meine Stiefel anzog.
„Ich will dich nie verlieren!“
Bestimmt wirkte mein Lächeln angestrengt. „Warum solltest du mich verlieren?“
Dein Schulterzucken war schon Wolke zwei. Es begleitete mich den ganzen Tag.
Köln Hauptbahnhof. Die Frauen verlassen den Zug. Ich habe noch mehr als eine Stunde Fahrzeit und krame eine Zeitschrift aus meinem Rucksack. Ein junges Pärchen steigt ein. Er verstaut die Taschen im Gepäckfach und setzt sich zu ihr. Beide beginnen sofort zu knutschen.
Nach einem Wolkensturz durfte ich dich nicht berühren. Zusammengerollt wie ein Igel im Winterschlaf lagst du auf unserem Bett. Die Vorhänge sperrten jeden Lichtstrahl aus. Ich wollte nach Hause kommen an dem Tag. Hatte gar nichts anderes geplant.
Ein alter Mann zwängt sich herein. Schwer atmend wuchtet er einen abgewetzten Koffer in die Ablage, schält sich umständlich aus seinem Mantel, nimmt seinen Schal ab und faltet ihn sorgfältig zusammen, bevor er ihn in die Manteltasche steckt. Mantel und Schal legt er auf den Nachbarsitz. Als der Zug anfährt, schaut er auf seine Armbanduhr. „Über zwanzig Minuten Verspätung“, brummt er. „Das die auch nie pünktlich sind.“
Er beugt sich zu seinem Mantel hinüber, zieht eine Zeitung aus der Innentasche und beginnt zu lesen. Zwischendurch unterbricht er sich selbst immer wieder mit gemurmelten Kommentaren über das Weltgeschehen. Als hätte er einen Sprechschluckauf, der nur langsam abklingt. Das Mädchen lacht ihrem Freund heimlich zu. Dann beginnen sie sich wieder zu küssen.
An jenem Tag stand ich vor unserer Haustür, den Schlüssel in der Hand. Im Treppenhaus roch es nach Reinigungsmitteln. Ich wollte den Schlüssel ins Schloss stecken, umdrehen, aufschließen. Aber meine Hand gehorchte mir nicht. Sie zitterte. Wie bei jemandem, der am Horizont nach der Flut ausschaut und bemerkt, dass die Füße längst im Wasser stehen, stieg Angst in mir hoch. Ich redete der Hand zu, erklärte ihr, dass du auf mich warten würdest. Vielleicht in diesem Moment hinter der Tür stehst, die Luft anhältst, mit der gleichen kalten Angst im Magen wie ich. Es nützte nichts. Auch meine Beine begannen ein eigenes Leben. Sie trugen mich weg, weiter, immer weiter bis zum Bahnhof, in den Zug, in die Stadt meiner Kindheit.
„Ich will dich nie verlieren.“
Du hast mich nie verloren. In all den Jahren ist kein einziger verdammter Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht hätte.
Der Lautsprecher ruft den Namen meines Zielbahnhofs aus. Den Namen unserer Stadt. Ich suche meine Sachen zusammen. Den schwarzen Mantel habe ich nur geliehen. Er ist mir etwas zu eng, deshalb lege ich ihn mir über den Arm. Vor den Fenstern erscheint das vertraute Gebäude des Bahnhofs. Nun muss ich aussteigen.