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Rückspiegel
Rückspiegel
„Hast du dir schon einmal überlegt gleichfarbige Kontaklinsen zu tragen“, fragte sie mich.
„Nein“, antwortete ich.
Sie sah mich an, als ob sie noch eine Erklärung von mir erwarte, aber die bekam sie nicht. Natürlich gab es einen Grund warum ich keine Kontaktlinsen trug, um meine verschiedenfarbigen Augen gleich aussehen zu lassen, aber ich hatte keine Lust es zu erklären. Nicht weil ich faul war, oder es leid war auf meine Augen angesprochen zu werden, sondern vielmehr weil die Gründe kompliziert waren, und ich nicht genau in Worte fassen konnte, was ich wirklich dachte. Sie war vielleicht Mitte dreißig, und nicht mein Typ, aber ich hätte an jenem Abend auch sonst nicht große Lust auf weibliche Gesellschaft gehabt. Ich tat so, als lese ich eine Nachricht in meinem Telefon, um nicht zu ihr sehen zu müssen.
„Wie kommst du heim? Wohnst du weit von hier?“, fragte sie.
„Auto. Nicht weit“, sagte ich, ohne den Blick von der LCD-Anzeige zu nehmen. Die Schlampe war ganz ausgehungert nach einem Schwanz, soviel war klar, aber meinen würde sie nicht bekommen. Ginge ich alleine nach Hause, und holte mir einen runter, käme ich mit Sicherheit zu einem besseren Orgasmus, minus dem ganzen Stress den die Tussi vielleicht später schiebt. Es gab ohnehin Wichtigeres. Dinge, worüber nachzudenken war. Ich trank meinen Gin-Tonic aus, und bezahlte. Es war Zeit zu gehen.
Auf dem Weg nach Hause hielt ich an einer Tankstelle. Ich nutzte die Gelegenheit, um neben dem Tanken noch ein paar Sachen für zu Hause und fürs Auto zu kaufen. Mülltüten, Befestigungskabel, Dosenkaffee, Putzmittel, Gummihandschuhe, und so weiter. Der Mann an der Kasse kam mir unglaublich gelangweilt vor, und sein Gesichtsausdruck schien zu sagen, dass er nichts als Verachtung für die einzelnen Gegenstände, die er scannte, und ihre verdammte Alltäglichkeit, empfand, und dass er zu Besserem bestimmt war, als nachts in einer Tankstelle im grellen Neonlicht zu arbeiten. Als ich ihm das Geld reichte wurde seine Langeweile wohl für den Bruchteil einer Sekunde unterbrochen, als er mir in die Augen blickte, und kurz zögerte. Anscheinend hatte er die verschiedenen Farben bemerkt.
Im Auto hatte ich dann keine Lust mehr nach Hause zu fahren. Ich war nicht müde, aber in der Wohnung gab es nichts womit ich mich hätte beschäftigen können. Ich fuhr etwa 45 Minuten aus der Stadt heraus. Auf der Landstraße war so gut wie gar nichts los. Ein paar Laster, vielleicht mit übermüdeten Fahrern am Steuer, die sich zwangen die Augen aufzuhalten, und das Lenkrad zu drehen, wenn eine Kurve kommt.
Irgendwann bog ich in eine Traktorspur ab, und fuhr in ein kleines Waldstück mit einem See. Die Scheinwerfer zerschnitten die Dunkelheit auf fast brutale Weise, und das blaue Parkplatzschild raubte dem Wald für einen Moment seine unheimliche Kraft. Ich parkte den Wagen, und stellte die Scheinwerfer ab. Das Schild verschwand augenblicklich in der Nacht, und es gab keinen Unterschied mehr zwischen dem Mensch mit seiner Maschine, und der Natur. Alles war jetzt Dunkelheit.
Ich stieg aus, und ging an den See. Obwohl es Neumond war, schillerte es silbern im Wasser. „Woher das Licht wohl kommt?“, fragte ich mich, und zündete mir eine Zigarette an. Ich genoss die Dunkelheit und die Stille. Wie gesagt, es gab viel, worüber nachzudenken war – mein Leben, wer ich selbst war, wo ich hingehen würde – aber der See verschluckte alle diese Fragen. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur noch das Jetzt.
Nach einer geraumen Zeit, und zwei Dosen Kaffee – es war mittlerweile schon fast vier Uhr – ging ich lächelnd zurück zum Wagen. Die weiße Plastiktüte auf dem Beifahrersitz bemerkte ich jedoch erst während des Fahrens.
Ich war mir eigentlich sicher gewesen, vorher nichts neben mir im Auto gehabt zu haben, und die Sachen von der Tankstelle waren in einer viel grösseren, silbernen Plastiktüte, welche ich auf den Rücksitz geworfen hatte. Mit einer Hand fingerte ich nach der Tüte auf dem Beifahrersitz, ohne die Augen von der Fahrbahn zu nehmen. Der Inhalt fühlte sich von aussen rund, und etwas weich an. Ich hielt die Tüte an einem der Griffe, und warf einen kurzen Blick auf den Inhalt, den ich allerdings nicht erkennen konnte. Schließlich hielt ich am Fahrbahnrand, und schaltete das Innenlicht des Autos an. Ich öffnete die Tüte, die innen rot verklebt war, und wurde angestarrt, von zwei blauen Augen. Sofort schlug ich die Tür auf, warf die Tüte aus dem Auto, und stieg aufs Gas. Tausende von Gedanken schossen durch meinen Kopf. Möglicherweise hatte jemand im Wald die Tüte in mein Auto gelegt. Hatte mir jemand einen Scherz spielen wollen? Was, wenn die Augen menschlich waren? Als ich die Stadt erreicht hatte, fühlte ich mich etwas sicherer, aber ich wollte nicht nach Hause gehen. Jedenfalls nicht, während es noch dunkel war. Ich beschloss deshalb, zur Bar zurückzukehen.
„Sie waren doch vorher schon hier“, meinte der Barkeeper, als er mir meinen Gin-Tonic reichte. „Wohl noch nicht Zeit um zu schlafen, was?“
„Genau so“, sagte ich, und war froh mit jemandem reden zu können.
„Und was ist mit der Begleitung von vorhin?“, fragte er.
„Wen meinen Sie?“
„Die Dame?“
Der Barkeeper zwinkerte mich mit einem Auge an.
„Keine Ahnung“, meinte ich. Ich wusste tatsächlich nicht wovon er sprach. „Was soll sein?“
„Ach so,“ er wurde auf einmal sehr verlegen. „Ich dachte nur, weil sie zusammen gegangen sind. Verzeihen Sie bitte. Ich hätte nichts annehmen sollen.“
„Schon gut,“ sagte ich.
Der Barkeeper murmelte noch irgend etwas, und verzog sich ans andere Ende der Theke, um so zu tun als trockne er Gläser ab.
Was hatte er nur damit gemeint, dass wir zusammen gegangen waren? Ich war ganz sicher alleine gegangen. Ich hatte mich nicht einmal von ihr verabschiedet. An der Tankstelle, und im Wald war ich auch ganz alleine gewesen.
Ich ging ins WC, und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Eine Weile starrte ich mich im Spiegel an. Die Müdigkeit in meinen Augen schien ihre Asymmetrie noch mehr zu unterstreichen. Sahen sie vielleicht nicht alles? Oder sahen sie vielleicht sogar verschiedene Dinge? Womöglich gaukelte mir ein Auge ja etwas vor. Ließ mich unattraktive Schlampen sehen, wo Material zum abschleppen saß, und zwei Augäpfel, wo zwei Kaffeedosen waren. Ich lächelte. „So ein Blödsinn“, dachte ich mir. Langsam würde es hell werden. Ich würde zurück zum Wald fahren, und die Dinge im Tageslicht sehen. Eine Dose Kaffe trinken, ein bisschen frische Luft atmen, und wieder einen klaren Kopf bekommen. Wie gesagt, über Dinge nachdenken. Und sehen was wirklich los ist.
Ich parkte den Wagen an der gleichen Stelle wie zuvor. Direkt vor dem blauen Schild mit dem weißen P. Bei Tag bot sich ein ganz anderes Bild von dem Wald. Keine Insekten, die panikartig durchs Scheinwerferlicht kreuzen. Kein modriger Duft. Keine Urgewalt der Natur mehr. Nur noch Grillplätze und bunter Abfall. Die Natur in vollständiger Unterwerfung vor dem Menschen. Ich ging an die gleiche Stelle, von der ich nachts über den See geblickt hatte. Im Gegensatz zum Wald, war das Wasser fast genauso dunkel wie zuvor, und erst bei näherem Hinblick konnte man die blaue, mit Befestigungsriemen für einen Kofferraum umwickelte Mülltüte, und die daraus hervorragenden, wie Algen im Wasser hin und her treibenden Haare, erkennen. Ich rannte zurück zum Wagen, fand dort die leere, silberne Plastiktüte der Tankstelle, und hatte auf einmal keine Ahnung mehr wer ich war. Mit einer Hand drehte ich den Rückspiegel nach unten, und starrte mir selbst in zwei kalte, graue Augen.
Ich musste sofort weg von diesem verdammten Ort. Soweit weg wie möglich, und nie nach hinten blicken. Nie mehr in den Rückspiegel blicken.