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Rückkehrwunsch

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10.10.2021
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Rückkehrwunsch

Rückkehrwunsch

Sie trifft den alten Mann am ersten Tag sehr unvermittelt, er liegt mit übergelaufener Blase im Bett, der Harnstoff in seinem Blut ist gefährlich gestiegen und ein Nierenversagen steht kurz bevor. Mehr als drei Liter Urin sind bereits in den Katheter gelaufen, den er noch im Krankenwagen erhalten hatte, auf dem Weg zur Intensivstation, wo er nun notfallmäßig und am helllichten Tag liegt. Der Mann ist sehr alt und sie kennt ihn gut, weil er einmal ihr potentieller Schwieger-Großvater war und sie einander in sehr emotionalen Momenten ihres Lebens begegnet waren. Nun liegt er zwischen den weißen Laken, sie erkennt die Windel unter der geblümten Krankenhauswäsche und sie ist ganz berührt, wie er da liegt und sie nur fraglich wahrnimmt. Sie ist sich dessen nicht sicher, er lächelt und sie erkennt sein Wesen, seinen ureigenen menschlichen Kern, einzigartig und unnachahmlich.
Sie erkennt diesen in seinem Blick, erkennt die Ruhe und Weitsicht und auch seine Freundlichkeit und sie kommt leise näher und setzt sich ans Bett, er wendet den Kopf und sieht sie an. Spricht Wiedererkennen aus seinen Augen? Dann fasst er mit zitternden Händen das Marmeladenbrot und aus der Schnabeltasse schwappt ihm der Kaffe über das Hemd, rinnt ihm aus den Mundwinkeln heraus tief in den Ausschnitt hinein. Es verbietet sich ihr, ihm ungefragt zu helfen, er sieht die zitternden Hände ebenfalls. Seine erste Frage „Aus welchem Teil aus Rumänien stammen Sie?“, stellte er unvermittelt und mit klarem und neugierigem Blick in ihre Richtung. „Ich komme aus Freiburg“, sagte sie. Da wirkt er erstaunt, hat das bereits einmal gewusst in seinem Leben und vielleicht verknüpfen sich in diesem Moment einige Synapsen neu und Teile seiner Gehirnbahnen verändern sich auf überraschende Art. Er versinkt zurück in sein Delirium, im Mund noch den Geschmack des Marmeladenbrots, welches ihn so wunderbar in den jetzigen Moment hinein verknüpft. Mehr braucht es nicht. Es herrscht einvernehmliches Schweigen, ihr Herz ist ganz ruhig und berührt und es sind sehr kostbare Minuten für sie dort neben dem alten Mann auf dem harten Krankenhausstuhl. Mit seinem ganzen Wesen liegt er, blickt in den Himmel und in die Laubbäume zu seiner Linken, wo die Blätter bereits ihr herbstliches Braunverfärben begonnen haben. Die würdige und altersweise Präsenz dieses Mannes, weit gereist und seinen Grundsätzen stets treu, liegt im Raum und in jedem Atemzug, den sie tief in sich hinein
atmet. Er schmatzt, ist nun drei Bissen weiter, die Zeit dehnt sich und sie fragt, wann er nach Deutschland gekommen sei und er antwortet „1973“. „War das gut oder beschwerlich?“, fragt sie weiter. „Beschwerlich.“ Seine tiefe und schwere Stimme hallt in ihr wider, sie kann die Arbeit förmlich fühlen, die er auf sich nahm im fremden Land, mit einer Frau, die er zu versorgen hatte und in Aussicht auf ihr gemeinsames Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs. Jetzt sitzt der einst dynamische Mann altersgezeichnet und altersweise im Strampelanzug da, ein Katheter läuft aus seiner Harnröhre hinab und fördert gelben Urin in den Sack zu seiner Rechten, der Oberkörper lehnt erhöht im Klappbett des Krankenhauses und sein Gesicht ist eingefallen, schlimm zittern die Hände. Irgendwann fällt ihm das Marmeladenbrot aus der Hand, es fällt auf das geblümte Hemd, ein zuckriger Stempel legt sich als rosafarbener Abdruck dort nieder. Er fragt, wie denn die Papageien gebrütet hätten und sie antwortet mit leise zu
einem Schmunzeln verzogenen Lippen, dass diese sehr sorgsam und farbig gebrütet hätten. Er komme noch heute hoch auf die Normalstation, sagt ihr die Schwester im Hinausgehen, sie könne ihn dort morgen direkt in Zimmer 310A besuchen, es gehe ihm schon deutlich besser.
Die junge Frau wagt und gewinnt beim direkten Gang auf die Normalstation am kommenden Tag, der alte Mann liegt dort tatsächlich wie vorausgesagt und lächelt milde, als sie in sein Blickfeld tritt. „Hallo, ich bin’s wieder“, sagt sie und er entwickelt im Prozess des Wiedererkennens ihrer
Person einen feinen Kranz aus Lachfältchen entlang seiner Augen, die Ahnung eines Lächelns umspielt seinen Mund und seine Augen verfolgen ihren Gang durch sein Zimmer mit Neugier und Ausdauer. Sie schenkt ihm ein frisches Glas Wasser ein und an seinem Bett ist dann erneut Schweigen in Einvernehmlichkeit. „Ich komme später wieder, wenn auch ihre Frau da ist“,
sagt sie und tut’s am selbigen Tage zu späterer Stunde, kommt dann wieder in sein Zimmer. Gerade ist darin die dringend notwendige Zahnputzssession beendet worden, die Ehegattin entleert ein mit weißem Schaum befülltes metallenes Nierenschälchen in das Waschbecken. „Das war wirklich nötig“, meint sie mit beinahe entschuldigendem Achselzucken in die Richtung der Neuangekommenen, die ihr eifrig beipflichtet. Die junge Frau weiß genau um die Wichtigkeit trostspender Rituale inmitten eines ungreifbaren Grauens, um die Notwendigkeit haltgebender Alltäglichkeiten, wichtiger, je unabwendbarer eine Situation aus dem bekannten und sicheren Gleichgewicht zu rutschen droht. Die Ehefrau tritt an das Bett ihres Mannes, sagt: „Sieh mal, rate doch. Wer ist da gekommen, erkennst du sie?“ Der alte Mann schaut und lächelt. „Das ist die Zahnärztin.“ Was hätte er auch anderes denken können, im Mund noch den Geschmack von Zahnpasta und die aktuelle Choreographie gleicht dessen Zähne-kontrollierender Prozedur, nur: die junge Frau kommt beileibe nicht mit Zahnarzt-Werkzeug, stattdessen als Freundin. Der alte Herr ist gefasst und als nächstes gilt es, ihm eine Bartrasur zu organisieren, sein Bart ist nun bereits den vierten Tag in Folge stoppelig. Die Ehefrau verhandelt mit der Schwester, versucht, einen Bartrasur- Erlaubnisbescheid zu erwirken. „Wäre es nicht möglich, den älteren Herrn zu rasieren?“ „Nein, das geht nicht. Wissen Sie, er nimmt viele Blutverdünner. Eine Nassrasur können wir nicht verantworten.“ Der Mann muss also stoppelig bleiben.
Am nächsten Tag bei ihrem Gang zu Zimmer 301A wird die junge Frau enttäuscht: Sie findet das gestern noch belebte Bett leer vor. Der Zustand des alten Mannes verschlechtert sich rapide, innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden ging es schneller und schneller und nun ist er erneut auf der Intensivstation. Er liegt in einem dieser kleinen Zimmer, in denen es vor piepsenden Geräten nur so wimmelt und der Blick auf einen klitzekleinen Streifen aschgrauen Himmels muss heute den großzügigen Blick auf den grünen Park vom Vortag ersetzen. Hier kann ihn ohnehin niemand besuchen, das Virus lässt es nicht zu und sein Bart ist stoppeliger denn je. Bei ihrem Eintreten erkennt er sie schwerlich, vielleicht nicht. Doch können sanfte, sich als deutlich erkennbare Runzeln um die Augen herum legende Lachfältchen Unklarheit lassen zu der Frage, ob eine Begegnung stattgefunden hat in diesem Moment? Sie stellt Fragen ohne Antwort zu erhalten und beschränkt sich schließlich auf bloße Präsenz, hält seine Hände und es vergehen Minuten der Stille und des gemeinsamen Innehaltens. Als sie sich zum Gehen wendet, schließlich muss sie weiterarbeiten, wendet er den Kopf in ihre Richtung und haucht ein kaum hörbares „Danke“ in ihre Richtung. Ein Zeitsprung folgt, die junge Frau sitzt in der Bahn und eine Träne rinnt ihr über die Wange, die vergangenen Stunden passieren Revue.
Eben noch rannte eine solche Träne über die Wange der älteren Ehefrau, die beim Anblick ihrer Tochter, welche verspätet in die Notaufnahme kam, zusammenbrach. Plötzlich brachen die Dämme und es konnten alle Tränen fließen, die die alte Dame bis dahin der Form und Haltung halber zurückgehalten hatte. Die Ehefrau brach in den Armen ihrer Tochter mit roten Augenrändern zusammen und kurz fanden die letzten zwei Stunden eine vorläufige und tränenreiche Erlösung in der Umarmung. Ahnungslos war die Ehefrau in die Notaufnahme gekommen und hatte ihren Mann sichtlich von Schmerzen geplagt im Bett vorgefunden. Er nestelte mit den Händen an seinem Bauch, vermochte nicht, sich zu äußern, sich mitzuteilen und deutlich zu machen, dass er tierische Bauchschmerzen hatte und zudem das Gefühl, an seiner eigenen Nahrung zu ersticken. Der alte Mann fand keinen mitteilbaren Ausdruck für seine Schmerzen und auch nicht dafür, dass er keine Luft mehr bekam, dass sein Atmen ganz schwer wurde und wellenförmig in starken und schwachen Phasen sich munter abwechselte, darin gar Momente kompletter Atempause vorkamen. Die Ehefrau sah ihren Mann leiden und es zerriss ihr das Herz, ihn dort liegen zu sehen, schmerzvoll atmend und sie war insgeheim wütend auf Gott und die Welt und die Ärzte, die ihrem Mann sein Leiden nicht ersparen konnten. Als dann plötzlich dessen Herzfrequenz stark anstieg, auf Werte von und mehr pro Minute, da ging es ganz schnell, eine kurzum eingelegte Magensonde förderte über einen Liter Magensaft aus den Untiefen des Magens des alten Mannes zu Tage und schlimmer noch, Dünndarminhalt. Schon eine Woche war er nicht mehr auf der Toilette gewesen und seine Frau machte sich und dem Krankenhaus große Vorwürfe, man hätte das früher erkennen müssen. Dramatischer jedoch war zu diesem Zeitpunkt die Herzfrequenz des alten Mannes, sein Körperkreislauf zentralisierte und ballte das gesamte Blut auf die notwendigen Organe inmitten des Körpers zusammen. Offenbar gab es genug Grund zu Sorge für die Alarmstationen seiner Blutbahnen, seine Herzfrequenz stieg und stieg, die Atmung ebenfalls und zuletzt fiel der Blutdruck ab. Von der Notaufnahme konnte niemand den Himmel sehen. Es konnte dort niemand sehen, dass trübe Wolken sich tief über der Stadt verhangen hatten, eine düstere Atmosphäre entstehen ließen und dass sich der Nebel in dicken, fetten Schwaden zwischen den Wipfeln des Schwarzwaldes ergossen hatte, als gehöre er dort hin und wolle die kommenden Herbstmonate nicht mehr verschwinden. Auch der alte Mann sah dies alles nicht klar, zu diesem Zeitpunkt bereits wanderten seine Augen in faden Bewegungen unkoordiniert die Deckenabdeckung ab und blieben selten, unbewusst und ungeplant nur hängen an einer Wanddeckenbeleuchtung. Sein Blick konnte dort dann kurz zur Ruhe kommen. Ein Arzt kam ins Zimmer und sagte einen entscheidenden Satz zu der Ehefrau, woraufhin diese vehement aufsprang und mit unvermuteter Klarheit und Prägnanz sich dem Arzt widersetzte. Sie sagte, sie sei empört, sei es schon am vergangenen Tag gewesen doch nun wiederhole der Arzt seine Floskel und sie finde es unmöglich, dass der Arzt wagen könne zu sagen, ihr Mann sei bereits 87 Jahre alt, man müsse das in den Behandlungsoptionen mitbedenken. Sie sei empört, das könne nicht sein, er müsse die gleiche Behandlung bekommen, wie alle Patienten und sein Alter dürfe nicht zählen und überhaupt das alles sei eine Frechheit, nein. Keine Frechheit, eigentlich eine tiefe Verletzung. Diese Ansage des Mannes in Weiß, des Arztes, des eigentlich zur Heilsüberbringung Bestimmten sei eine tiefe Verletzung für die alte Dame und habe ihr noch lange im Kopf gegeistert. Ein weiteres Mal lasse sie sich das nicht gefallen und während sie das sagte, hatte sie eine dunkle Zornesröte im Gesicht und vermochte ihre Enttäuschung kaum im Zaum zu halten. Darunter saß ein einziger Satz, erst die Anwesenheit ihrer eigenen Tochter ermöglichte ihr, diesen auszusprechen: Ich will ihn zurück. Die junge Frau sitzt noch immer in der Bahn, die Tränenspur ist getrocknet und sie erinnert noch den Waldspaziergang mit der alten Dame, um diese abzulenken bevor die Tochter kam. Sie erinnert, wie sie gemeinsam durch das herabfallende Laub wanderten, den ersten Tropfen beim Fallen zuhörten, zwei Frauen, durch eine Generation getrennt in alt und jung. Sie denkt, wie absurd es doch ist, dass Menschen, die uns als unumstößliche Größen in unserem Leben begleiteten, plötzlich einfach krank werden. Das sie alt werden und schwach und zittrig und das sie sich dann verändern in einer Art und Weise, die man nie für möglich gehalten hätte. Dass diese Menschen dann eines Tages einfach sterben und ihre Seele mitgenommen wird als fester Windhauch durch das Laub der Bäume und sie vielleicht der untergehenden Sonne am Abend entgegenfliegen. Sie sind dann nicht mehr unter uns und man selber bleibt zurück und wundert sich, galt doch ihre Anwesenheit als unumstößlich.

 
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Er schmatzt, ist nun drei Bissen weiter, die Zeit dehnt sich und sie fragt, wann er nach Deutschland gekommen sei und er antwortet „1973“. „War das gut oder beschwerlich?“, fragt sie weiter. „Beschwerlich.“
Hallo Janpr, dieser Satz ist einer von denen, die mir in deiner Geschichte gut gefallen haben. Einfach und unaufgeregt, doch nimmt er einen mit hinein in die Situation am Bett des alten Mannes. Mir gefällt auch das Thema, die Schwierigkeit, mit der Endlichkeit derer klarzukommen, ohne die wir uns die Welt nicht vorstellen wollen und können.
... und er entwickelt im Prozess des Wiedererkennens ihrer Person ...
Hier formulierst du für mein Empfinden zu kompliziert und distanziert, wobei der Satz im Anschluss dann wieder gewinnt (obwohl er etwas lang gerät). Ich würde so in der Art schreiben: '... und als er sie wiedererkennt, bildet sich um seine Augen kleine Lachfalten, --'
Hier kann ihn ohnehin niemand besuchen, das Virus lässt es nicht zu und sein Bart ist stoppeliger denn je. Bei ihrem Eintreten erkennt er sie schwerlich, vielleicht nicht. Doch können sanfte, sich als deutlich erkennbare Runzeln um die Augen herum legende Lachfältchen Unklarheit lassen zu der Frage, ob eine Begegnung stattgefunden hat in diesem Moment? Sie stellt Fragen ohne Antwort zu erhalten und beschränkt sich schließlich auf bloße Präsenz, hält seine Hände und es vergehen Minuten der Stille und des gemeinsamen Innehaltens.
Das hier verstehe ich nicht ganz - er darf nicht besucht werden, aber sie besucht ihn?
Dass diese Menschen dann eines Tages einfach sterben und ihre Seele mitgenommen wird als fester Windhauch durch das Laub der Bäume und sie vielleicht der untergehenden Sonne am Abend entgegenfliegen. Sie sind dann nicht mehr unter uns und man selber bleibt zurück und wundert sich, galt doch ihre Anwesenheit als unumstößlich.
Es ist ja ein schwieriges und irgendwie auch mystisches Thema, aber deine Bilder erreichen mich leider nicht. Wer nimmt die Seelen mit? Wie kann ein Hauch fest sein? Auch das Wort 'unumstößlich' passt meiner Meinung nach hier nicht. Unumstößlich, dass sind eher Fakten, Tatsachen, ich würde es nicht in diesem Zusammenhang verwenden. Vielleicht 'selbstverständlicher Teil unseres eigenen Lebens' oder 'gewiss'? Oder es fällt dir noch etwas Besseres ein ... Außerdem würde ich ein paar Absätze einbauen, damit der Text leichter zu lesen ist. Viel Freude beim Schreiben und Arbeiten an deinen Texten wünscht Eva

 

Es ist interessant, weil man vorausahnen kann, womit es endet. Also eigentlich nicht besonders spannend. Es ist eine lange, langsame Beschreibung des Endes einer Person. Mir gefällt die medizinische Richtigkeit. Es klingt für mich zumindest richtig.

Sie denkt, wie absurd es doch ist, dass Menschen, die uns als unumstößliche Größen in unserem Leben begleiteten, plötzlich einfach krank werden. Das sie alt werden und schwach und zittrig und das sie sich dann verändern in einer Art und Weise, die man nie für möglich gehalten hätte.
Keine Ahnung, wieso, ich fand diesen Teil zu lang. Es wäre für mich passender, wenn auch diese Erkenntnis sehr plötzlich endet.

Auf jeden Fall brauche ich Absätze.

 

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