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Römische Affäre oder Happy Hour an Gleis 11
‚Ha, in meinem vorherigen Leben muss ich ein Schaf gewesen sein. Kein dummes, ein schlaues natürlich. Vielleicht zu schlau. Aber geduldig. Auf alle Fälle schwarz und auf alle Fälle Mutterschaf. Wenn ich so ein Lamm mit seinem zarten Stimmchen blöken höre, läuft mir mein Herz ja heute noch über.‘
Während Katrin über ihre vermeintliche Existenz als Schaf ein Leben zuvor sinnierte, fing ihr gegenwärtiger Rücken an, ganz schön weh zu tun. Aber schließlich saß sie auch schon seit fast einer Stunde an diesem zugigen Gleis 11 - und sie war keine 30 mehr. Um sich Erleichterung zu verschaffen, wechselte sie ihre Sitzposition, stopfte ihre Jacke geschickter zwischen sich und die Banklehne, stellte die Handtasche als Armstütze zur Seite und nahm einen Fuß nach oben.
‚Und jetzt bin ich eben Menschenfrau - mit einem Rest Schaf in meiner Seele. Gerne bei den anderen, sich aus Neugier gelegentlich einen Stromschlag am Weidezaun holen und selbst dem Schlachter eine reelle Chance geben, sein besseres Ich zu beweisen. Das passt. So würde sich auch mein Eifersuchtsmangel erklären – wahrscheinlich bin ich es einfach gewohnt, ‚ihn‘ mit einer unübersehbaren Menge anderer Mädels zu teilen. Es macht mir nichts, solange er hin und wieder vorbeischaut, seine Nase an meiner reibt und mir was Liebes ins Ohr blökt, äh, flüstert.‘
Ihre Gedanken wanderten umher, während sie auf Mann und Tochter wartete. Die Beiden hatten ursprünglich zwei Tage früher von ihrem Vater-‚Kind‘-Trip zurück sein wollen, das Geschenk für Marie zu ihrem 18. Geburtstag. Doch sie waren aufgehalten worden.
Wie gerne wäre sie mitgekommen! Aber ihr Chef hatte nur mitleidig gelächelt, als sie um ein paar freie Tage bat: „Bei der Auftragslage im Moment? Völlig unmöglich! Ich kann Sie da leider überhaupt nicht entbehren.“
Martin dagegen hatte Zeit.
Na ja, so waren die Zwei ohne sie losgefahren ins ewige Rom. Wer weiß, wozu das gut war. Vielleicht hätte sie doch ein wenig genervt mit ihrem ‚Kulturfimmel‘ (O-Ton Marie) und ihrer Liebe zur Geschichte, den Geschichten dieser Stadt. „Ne Mama, wir werden hauptsächlich shoppen, die Italienerinnen sind nämlich echt stylisch, die haben das voll drauf, weißt du? Papa hat auch schon zwei super-tolle Restaurants rausgesucht, in die er mich abends ausführen will. Das wird so cool sage ich dir! Das allerbeste Geschenk aller Zeiten!“
Nach der Ankunft im Hotel ein kurzer Anruf: „Hallo, hier ist es total schön, noch viel wunderbarer als gedacht! Ganz milde Luft, keine Spur vom Frankfurter Regenwetter. Und wir essen heute auf einer Terrasse, mit Blick über den Tiber! Ist das nicht der reine Wahnsinn? Gruß und Kuss von Papa. Du, Mama, dir auch eine schöne Zeit. Tschüss, wir müssen los!“
Viel mehr hatte sie von den Beiden in den nächsten Tagen nicht mehr gehört. Sie selbst machte in der Zwischenzeit eine Menge Überstunden, die Arbeit im Büro lief gut und überraschend erfolgreich. Es war klar, dass diesem ersten Auftrag weitere folgen würden und nicht nur ihr Chef war deshalb mehr als zufrieden. Etwas unerwartet hatte sie tatsächlich eine schöne Zeit, der Erfolg machte Spaß.
Und noch mehr Freude hatte ihr das nette Zusammensein mit dem überaus netten Kunden gemacht. So ein freundlicher, offener Blick! Warme braune Augen, ein unglaublicher Humor und charmante Komplimente … das erste Mal in ihrem Leben war sie schwach geworden, als er sie nach dem Geschäftsessen um ein Rendezvous bat. Bisher war ihr Martin, trotz der Abenteuer, die er seinerseits nebenher pflegte, immer genug gewesen. Doch bei diesem Mann war sie zunächst ins Grübeln und dann mit ihm ins Hotelzimmer gekommen. Damit hatte sie sich selbst überrascht. Sie hatte keine Ahnung, ob und in welcher Weise diese Geschichte weitergehen könnte.
Nun, die Zukunft blieb offen und spannend und sie fühlte sich gut dabei. Mit einer Spur Dankbarkeit dachte sie an ihren Mann, der ihr durch seine Art zu leben und zu lieben ein schlechtes Gewissen ersparte.
Aber jetzt wartete sie hier. Katrin musste sich eingestehen, dass sie neugierig war, seit sie vorgestern eine SMS mit mysteriösem Inhalt erhalten hatte: ‚kommen erst übermorgen, selbe zeit, ist was krasses passiert, ciao m. + m.‘ Ihre Rückrufversuche waren ins Leere gelaufen und eben hörte sie über Lautsprecher die Mitteilung: „Der verspätete ICE aus Rom, planmäßige Ankunft 19.30 Uhr, wird vermutlich erst gegen 20.55 Uhr eintreffen.“
Das machte ihr, trotz der nagenden Neugier, nicht viel aus. Sie fand es spannend, andere zu beobachten: Liebespaare beim Abschied, sich umarmende Freunde, Geschäftsleute im Maßanzug, eine farbenfroh gekleidete afrikanische Großfamilie, Penner mit sanften Hunden, bettelnde Junkies, Tauben bei waghalsigen Flugmanövern, quengelnde Kinder, einen Terroristen auf der Flucht.
Okay, Letzteres war vielleicht eine etwas gewagte Interpretation, aber er hatte in Gang und Körperhaltung so eine Mischung aus Triumph, schlechtem Gewissen und Verfolgungswahn an sich.
Andererseits: Wer nicht?
Sie schaute auf ihre Uhr: 20.35 Uhr.
Was seine Frau dazu wohl sagen würde?
Martin neigte eigentlich nicht zur Nachdenklichkeit, aber da Marie die Sache so hautnah mitbekommen hatte, machte er sich nun doch ein paar Sorgen. Wenn es um Marie ging, konnte Katrin ziemlich aufbrausend werden. Er war froh darüber, dass der Zug erst Stunden zu spät in Frankfurt eintreffen würde. Für ihn eine Galgenfrist, während der er die Geschichte gemeinsam mit seiner Tochter noch einmal ordnen konnte.
„Also Papa, womit fangen wir an, wenn wir es der Mama erzählen?“ „Am besten damit, dass uns Chiara am Fontane di Trevi über den Weg lief.“
Chiara, eines seiner ‚Verhältnisse‘, an das er sich – zumindest bis zu dieser Reise – immer gerne erinnert hatte. Ungefähr zwanzig Jahre jünger und viel temperamentvoller als er. Hübsch, intelligent, phantasievoll. Und für ihn eine besonders erfreuliche Zugabe, wenn er wieder einmal eine Geschäftsreise nach Rom machen musste.
Wäre da nicht diese letzte Woche gewesen, sie hätte zu einem wirklich schönen Kapitel in seiner Biographie werden können.
Gut, der ‚rote Faden‘ in seinem Leben war Katrin, und er machte seinen Freundinnen diesbezüglich auch nie etwas vor. Mit seiner Frau hatte er einfach Glück. Sie hatte nichts dagegen und litt nicht darunter, wenn er neben ihr andere Lieben lebte. Er musste kein Geheimnis darum machen, sie weder belügen noch etwas verschweigen und das fand er sehr entspannend. Katrin wusste, dass er immer wieder zu ihr kommen würde, egal, wer gerade sein Herz anderweitig durcheinander brachte. Er liebte sie, sie liebte ihn, alles war klar zwischen ihnen.
Wenn er da an seinen Freund Roger dachte und an den Aufwand, den der seiner heimlichen Geliebten wegen betreiben musste …
„Und dann erzählen wir einfach weiter, was passiert ist“ unterbrach Marie seine Gedanken. „Dass diese Frau erst dich, dann mich anschaute, wie erstarrt stehen blieb und plötzlich anfing zu schreien. Die ersten Worte noch auf Italienisch, dann auf Deutsch.“ Martin erinnerte sich, Wort für Wort: „Maiale, perché ….! Was hast du gesagt, du willst nicht fest mir zusammen sein, ich wäre zu jung, eine andere Generation … ? Dass du dich aber bei deiner nächsten Reise nach Rom gerne wieder mit mir treffen würdest? Du elender Lügner, hier bist du, mit einer noch viel Jüngeren! Gemeldet hast du dich auch nicht … Was bin ich eigentlich für dich, ein Nichts?“
Dann hatte die zornige junge Frau Marie eine Ohrfeige gegeben, sich gleich mit „Oh, Entschuldigung, falsche Adresse“ zu ihm umgewandt und im nächsten Moment sah er ihre Faust, mit Diamantringen bestückt, auf sich zukommen. Er konnte gerade noch daran denken, dass ihm das Wissen um ihre sportlichen Erfolge im Kickboxen seinerzeit im Bett, nun ja, eben einen besonderen Kick gegeben hatte. Und schon war es schlagartig dunkel um ihn geworden.
Als er wieder erwachte, hatte er Maries besorgtes Gesicht über sich gesehen. „Papa, alles in Ordnung mit dir?“ Die heftigen Kopfschmerzen, der Geschmack von Blut im Mund und eine Umgebung mit unscharfen Konturen – nein, es war nichts in Ordnung gewesen, vermutlich war er unglücklich auf dem Bürgersteig gelandet. Aber er hatte seine Tochter nicht beunruhigen wollen. „Sicher Schatz, alles gut!“ Anschließend war er auf ihr Drängen hin trotzdem ins Krankenhaus gekommen, die Rückreise hatten sie verschieben müssen.
„Papa, dass du die nicht angezeigt hast, müssen wir das auch erzählen?“ „Wenn Mama fragt schon.“
Katrin hatte ihm immer ans Herz gelegt, seine Affären nicht vor Marie auszubreiten. Aber sicher würde sie ihm nicht lange böse sein. Marie war inzwischen erwachsen und zu der Begenung mit Chiara konnte er schließlich nichts. Dennoch hatte er seinen Teil abbekommen.
Martin schaute seine Tochter von der Seite an, sie war eine sehr hübsche junge Frau geworden. Hinter ihr spiegelte sich sein Gesicht im Fenster des Zugabteils: Ein älterer Herr, leicht gebeugte Haltung, überwiegend graue Haare, eine Gesichtshälfte blau-grün verfärbt.
Vielleicht war er inzwischen einfach zu alt für diese Art von Abenteuern. Er fühlte sich ruhiger, ein wenig müder, aber auch zufriedener in seinem Leben, in seinem ganz normalen Alltag. Wenn er an Katrin dachte, an ihre liebevolle Fürsorge, an ihr Gesicht, das inzwischen von feinen Lach-Linien durchzogen war, dann wurde ihm so warm und wohl. Außerdem, er hatte eine Menge erreicht in seinem Leben, was eigentlich musste er sich noch beweisen?
Chiara würde seine letzte Affäre bleiben. Ihm genügte Katrin, die zuhause mitleidig und geduldig seine Wunden pflegen würde.
Beruhigt schaute er auf seine Uhr: 20.35 Uhr.