Résistance
Er nannte sie Schätzchen und stöhnte, Wenn wir erst gewonnen haben, und Püppchen, süßes; »Ja dann«, sagte der Commandante, »kannste damit 'ne Menge Kohle machen«, zog die Hose hoch und schloss mit betontem Rucken und Zerren den Koppelgürtel. Sie solle sich mal wieder saubermachen und rüberkommen, Das Meeting fängt gleich an, und sie wisse ja, dass sie alle bis zum Sieg noch so viel zu tun hätten; Ach, sie habe davon noch gar nichts gehört, und Sicher ist es wichtig, was für eine Frage, neue Entwicklungen; bahnbrechend sogar; sie würde dann ja sehen, Und es geht vorwärts, natürlich, wie geplant, warum denn sonst würden sie tun, was sie tun und so weiter, und Zoë hörte gar nicht mehr zu, achtete auf ihre schmerzenden Knie und den rauen Betonboden und den bitteren Geschmack zwischen ihren Zähnen, den sie ausspie, das aber ohne sonderliche Gefühlsregung, höchstens noch mit dem Gedanken daran, dass Gert Rosdorfer sich in letzter Zeit vielleicht ein wenig zu sehr das Gebaren des Anführers angeeignet hätte, aber was sollte man da machen, sie war ja nur eine von vielen, die für die gerechte Sache fochten, ein kleines Rädchen, wie man so sagt, und er weiß eben, wo's langgeht, ganz klar, und das ist auch gut so.
Sie wusch sich schnell mit Wasser aus dem Kanister, zog sich um: olivgrünes Top, Cargohose, die Militärstiefel; das Halfter mit ihrer Waffe hing an der Kabelrinne unter der Decke – sie zögerte, ließ es an seinem Platz.
Das Meeting fand in einem der größeren Räume der Anlage statt, den Korridor entlang, dann rechts durchs Schott, zweite Tür und so fort; als sie eintrat, waren die anderen schon da, saßen in der Runde, Rosdorfer in der Mitte am Pult, die Uniform sauber und glatt, Faust erhoben, Haare wirr und schweißnass, er hielt wieder eine seiner Reden, Niemals aufgeben, die sie fast auswendig kannte, Und wir werden's ihnen zeigen, immer das gleiche, Ihre Schuppenärsche zurück in den Weltraum ..., aber reden konnte er gut, Bis zum letzten Mann, mitreißend, Kämpfen – Jawoll!, das ja, ganz ohne Zweifel; man werde sie vertreiben, ausrotten, diese kommunistischen Aliens, und dann endlich wäre der Sieg und die Wiederauferstehung glorreicher Tage … er schloss mit dem Ausruf: »Wir sind die Résistance!« Begeisterter Beifall und Jubel folgten, doch nach einer Weile gebot Rosdorfer Ruhe, das wäre noch nicht alles gewesen, das Beste käme ja noch, etwas, das sie den entscheidenden Schritt voranbringen würde. Auf sein Zeichen hin öffnete sich die Tür, zwei Männer in rotgesprenkelten Kitteln schoben einen Rollstuhl, in dem eine verhüllte Gestalt saß, herein, blieben mit verschränkten Armen stehen, und erst als Rosdorfer »Kollaborateur!« rief und durch die Menge der Versammelten ein Raunen ging, zogen sie die Wolldecke hoch, entblößten so den verstümmelten Körper, dem sie die Hände und Füße abgetrennt hatten, die Nase, Lippen und Ohren abgeschnitten – ein entstelltes Ding, weder Frau noch Mann; Zoë starrte in dieses Gesicht, diesen Totenschädel, konnte nicht fassen, dass dieser Mensch noch lebte, und nur ganz am Rand bemerkte sie, wie sich einer nach dem anderen ihrer Kameraden an seinem Sitzplatz straffte, aufstand, zuerst zögerlich, dann forsch zu klatschen begann, und sie saß immer noch, die Einzige, und sie begriff langsam, Wir haben das getan, und gleichzeitig brüllte der Commandante durch den Applaus, so werde es jedem »ergehen, der sich gegen uns stellt! Wir sind die Résistance!«
Und damit kehrte erneut Ruhe ein, Zoës Blick traf auf den von Rosdorfer, der lächelte, sie beim Namen nannte, er habe einen Auftrag für sie.
Zoë stieg durch die Luke aus den Tunneln der Basis ins Untergeschoss der Mall, nahm den Rucksack mit der Bombe wieder auf, lauschte; es war still wie erwartet, aber sie blieb wachsam, hielt sich im Schatten der Betonpfeiler, huschte an einigen beschädigten Automobilkarosserien vorbei und erreichte das Treppenhaus zum ebenerdig gelegenen Stockwerk.
Der Auftrag war klar und kaum anders als die davor, und doch hatte sie sich nach dem Meeting gesträubt, nach Ausreden gesucht, aber Rosdorfer hatte sich Zeit genommen, ihr großzügig zugeredet, 'die Sache' beschworen, ihr eine Identitätsnummer und den Zugangscode für den Orbitallift in die Hand gedrückt, Von diesem Abschaum im Rollstuhl; ob sie denn wolle, dass alle ihre Anstrengungen umsonst gewesen seien, und im Übrigen sei das eine so großartige Chance, denen da zu zeigen, dass ein Kollaborateur nirgends sicher sei vor der Rache der Gerechten, und man werde sie treffen können, wo's wirklich wehtut, inmitten ihrer verdammten Station, Das ist doch genau das, was du wolltest, was wir wollten, meinst du nicht; und am Ende hatte er sie überzeugt.
Die Mall war verwaist, Shops und Restaurants aus Kundenmangel geschlossen; durch die Dachfenster fiel Sonnenlicht in Streifen, Staubflocken tanzten in der Luft zwischen Galerien und Rolltreppen, der künstliche Teich im Parterre war ausgetrocknet, die Palmen an seinem Rand eingegangen.
»Sie vernichten unsere Kultur«, hatte Rosdorfer einmal zu ihr gesagt, in einer seiner ruhigen Phasen, in denen er nachdenklich und fast traurig wirkte, Diese Schlangendinger, sie haben alles verändert, uns abhängig gemacht; man könne doch nicht einfach alles so verteilen, kostenlos, ohne Gegenleistung, so habe das noch nie funktioniert, Warum merkt das denn keiner?
Zoë umrundete den Teich, folgte auf Zehenspitzen den Wegweisern in Richtung Foyer; und kurz vor dem Ausgang, zwischen Multimediabedarf und Frittenbude, traf sie auf die pink- und bordeauxfarbene Front des einstigen Laufhauses, hinter dessen eingeschlagenen Schaufensterscheiben noch immer Plakate Abspritzgarantien und naturgeile Girls anpriesen; und für einen Moment blieb sie stehen, sah sich selbst dort sitzen, mit roten Strapsen und weißgeschminktem Porzellanpuppengesicht und einem starren Lächeln um die Lippen, und wenn es nach Rosdorfer ging, wäre genau das, was sie sie tun sollte und würde, aber ob sie das wollte – darüber nachgedacht hatte sie nie; gab es überhaupt eine Wahl, wenn das Wichtigste das Ziel war, der Sieg und die Zeit danach, war nicht das, was allein zählte … ihr Kopf schmerzte, und sie rieb ihre Schläfen, und plötzlich rannte sie los, Hauptsache raus hier und schnell!
Zwischen Gewerbegebiet und Stadt war die Wüste, zwei Kilometer Sand und Geröll; die Ruinen von Fabriken und Straßen und von Plattenbauten … es war heiß, Zoë genoss die Sonne auf der Haut, und den Wind, der schwach war, und die Luft war stickig, aber wenigstens besser … und die Liftbodenstation war direkt vor ihr, in der Wüste zwischen Stadt und Gewerbegebiet, und es dauerte eine Weile, bis sie dort war, und Wachen waren keine zu sehen, was sie erstaunte, Sie fühlen sich zu sicher, dachte sie und mischte sich unter die Menschen, die an der Station auf den Fahrstuhl warteten, Latzhosen trugen, Rucksäcke und Arbeitsschuhe; die meisten von ihnen unterhielten sich, saßen im Schatten, lachten oder lagen doch in der Sonne, und keiner erschien ihr verabscheuungswürdig. Aber Kollaborateure waren sie, sie allesamt, Vergiss das bloß nicht.
Nach einer halben Stunde kam der Lift; zunächst ein kaum wahrnehmbarer, sirrender Ton, der von dem Kabel ausging und rasch lauter wurde, dann die Kabine selbst, die langsam herabsank, größer wurde, größer war, als Zoë je geglaubt hätte.
Oben, am Ende der Rampe zum Eingang fand die Kontrolle statt; es hatte sich eine Schlange gebildet, in der es langsam, aber entspannt vorwärts ging, Schritt für Schritt in Richtung Checkpoint, und erst als Zoë sah, wie die Menschen weiter vorne in einen Irisscanner blickten, wußte sie, dass es absoluter Wahnsinn war, was sie da tat. Irisscan. Zu spät, noch umzukehren. Aus.
»Guten Tag«, sagte der Wachmann, »ID bitte hier …, Ja genau, vielen Dank; jetzt nur noch da hineinschauen …« Er wartete, wandte sich dem Kontrolldisplay zu, dann Zoë, zog eine Augenbraue in die Höhe, lächelte und nickte schließlich; er hoffe, dass sie einen angenehmen Arbeitstag haben werde.
Hinter den Fenstern entfernte sich die Wüstenlandschaft, und obwohl der Aufzuginnenraum deutlich mit Rücksicht auf Komfort gestaltet war – es gab weiche Sessel, Messingarmaturen und unaufdringliche Musik bei gedämpftem Licht – entspannen konnte Zoë sich keineswegs. Je länger der Aufstieg dauerte, umso bewusster wurde ihr die Ausweglosigkeit der Situation. Sie wäre besser direkt vor der Rampe umgekehrt, denn jetzt, Was bleibt denn sonst übrig, konnte sie die Dinge nur noch auf sich zukommenlassen, Abwarten und hoffen, das ist alles; und sie drückte sich ein wenig tiefer in den Sessel, als sie überlegte, wieviel Entscheidungsfreiheit sie überhaupt je besessen hatte.
Zoë schloss die Augen, atmete durch, konzentrierte sich ganz darauf, wie sich ihre Brust hob und senkte, auf den Geruch von Leder, der aus den Sesseln aufstieg … sie wandte sich dem Fenster zu: Die Landschaft war aus ihrem Blickfeld verschwunden; der Himmel, unten die Wolken; später die Dunkelheit des Orbits, darauf Scheinwerferlicht – der Lift hatte die Station erreicht.
Im Terminal folgte Zoë den anderen, die zielstrebig über den Vorplatz gingen und in einen breiten, weißgestrichenen Korridor mit gewölbter Decke abbogen, der sicherlich der Hauptverkehrsweg vom Lift aus tiefer in die Station war: Ein dichtes Gedränge von Menschen, dazwischen kleine, mit Kisten beladene Elektrofahrzeuge; und ein wenig wunderte sie sich, denn sie hatte noch keinen Außerirdischen gesehen, überhaupt wirkte nichts hier besonders fremdartig auf sie, ebensogut hätte das ein irdischer Flughafen sein können. Trotzdem war sie nervös, fühlte sich unsicher, fürchtete, dass man sie entdecken werde, ihr womöglich ihr Vorhaben ansähe – sie musste ja jetzt den richtigen Platz für die Bombe suchen, Gemeinschaftsräume, Schlafsäle, die Kantine vielleicht; bis dahin durfte sie nicht auffallen, und so betrat sie bei der ersten Gelegenheit einen abzweigenden Nebengang.
Erst nach einigen Minuten fiel ihr ein, dass sie nicht auf Hinweisschilder oder Wegweiser geachtet hatte. Zurückgehen wollte sie nicht, und so überlegte sie kurz, rief sich den groben Verlauf des Hauptwegs in Erinnerung, verglich dies mit ihrer eingeschlagenen Richtung – Ja, dachte sie, so wird's auch gehen, und, wer weiß, möglicherweise sogar besser.
Sie begegnete niemandem auf dieser Strecke; der Gang wurde niedriger und dunkler, verlief häufiger in Kurven, schien anzusteigen, mal abzufallen, und Zoë hatte bald jegliche Vorstellung verloren, wo sie sich auch nur in etwa befinden könnte, begann zu überlegen, ob es nicht besser wäre, zum Hauptkorridor zurück … oder doch … und sie ging langsam weiter, blieb stehen, drehte sich um, ging weiter, immer langsamer, noch ein Blick zurück und einen nach vorn, aber irgendwann bemerkte sie eine Veränderung: Die Luft hatte spürbar an Feuchtigkeit gewonnen, und in ihr hing ein merkwürdig schwerer, süßlicher Geruch. Zoë folgte dem Gang ein paar weitere Biegungen entlang, an schmaleren Abzweigungen vorbei, trat in einen unvermutet großen, hallenartigen Raum hinaus – und blieb stehen.
Mit allem hätte sie gerechnet, nicht aber damit – und ihr fiel kein besseres Wort ein: dem Garten. Unter einer Kuppel aus Glas, hinter der die Sterne standen, waren Rampen, Stufen, Terrassen errichtet, dicht bepflanzt mit Büschen und Bäumen, Palmen, Sträuchern; und Zoë erkannte in dieser Menge nur wenige Arten: Orchideen hier, und da Ginkgobäume und Lianen …
Sie ging auf die Treppe zu, die dem Korridorausgang gegenüber zwischen den Terrassen angelegt war; dieser süße Geruch wurde stärker, und jetzt hörte sie auch das Gezwitscher von Vögeln aus dem Dickicht; sie ließ ihren Rucksack von der Schulter gleiten, setzte sich auf die Stufen, saß einfach nur so da, Ellenbogen auf den Knien, das Kinn auf den Händen, beobachtete die beiden Außerirdischen, die die Halle betreten hatten, dort unten standen und die Pflanzen betrachteten, mit den Armen auf irgendeine Stelle zwischen den Stämmen zeigten, miteinander sprachen und kurz darauf nach links weitergingen, um die Terrassen herum, verschwanden.
Die Außerirdischen! Na klar; dass das keine Menschen gewesen waren – das erreichte erst jetzt ihr Bewusstsein; hatte sie sich so von dem Garten ablenken lassen? Aber, als sie darüber nachsann, störte sie es nicht.
Sie könnte einfach hierbleiben, dachte sie, Einfach hier sitzenbleiben; und ein anderer Satz ging ihr durch den Kopf: Da ging Eva fort, um mit den Schlangen im Garten zu leben. Sie erschrak, Was denkst du da nur? Das ist nicht nur pathethischer Quatsch – was würde Rosdorfer zu solchen Gedanken sagen; was würde er überhaupt zu all dem hier sagen?
Sie konnte den Commandante vor sich sehen: Wie er die Stufen auf und ab stieg, die Arme vor der Brust verschränkte, manchmal stehenblieb und den Kopf schüttelte, Worte hervorstieß wie, Diese Anmaßung!, Was haben die mit unseren Bäumen zu schaffen?, oder Diese Pflanzen gehören der Menschheit!, und »Das muss ein Ende haben!« Er würde sie anschauen, mit einem Blick, in dem sich Feuer und Enttäuschung mischten, nur ihren Namen sagen, und sie würde das tun, natürlich, wovon sie wusste, dass er es wollte.
Zoë sprang auf, packte den Rucksack, rannte die Stufen hinab, stürzte in den Korridor zurück, wäre fast gegen die Wand geprallt, stützte sich mit einer Hand dagegen, dachte, dass sie jetzt ganz ruhig sein müsse, ganz ruhig und überlegt, dass dann schon alles gut werde.
Tatsächlich fand sie nach einiger Zeit die Kantine; Zoë hatte sich im Gang für eine der Abzweigungen entschieden, war wieder in belebtere Areale vorgedrungen, hatte endlich ein Hinweisschild entdeckt.
Von da aus war es einfach: Der Saal war bereits gut gefüllt, und so stellte sie sich in die Schlange an der Theke, nahm sich ein Tablett, setzte sich und aß, beobachtete dabei die Anwesenden und stellte fest, dass etwa die Hälfte von ihnen Außerirdische waren, die sich die Tische mit den Menschen teilten.
Sie stand auf, als sie fertig war, ließ ihren Rucksack auf dem Boden gegen das Stuhlbein gelehnt stehen, durchquerte den Raum, stellte ihr Tablett ins Rücknahmefach am Ausgang, drehte sich noch einmal um; Jetzt ist es soweit, dachte sie, während sie mit den Fingern über den Fernzünder in ihrer Beintasche strich und verspürte beinahe ein leises Gefühl von Bedauern, das aber sofort von der Tatsache, dass es sein müsse, wie Rosdorfer mit Nachdruck klargemacht hatte, ausgelöscht wurde.
Sie beeilte sich, in den Korridor zu gelangen, aber schon nach ein paar Schritten wurde sie aufgehalten: Drei Männner in Uniform schnitten ihr den Weg ab, und einer von ihnen trat direkt vor sie, sagte: »Würden Sie bitte mit uns kommen?«
Zoë steht in einem halbdunklen Raum und wartet. An der Wand gegenüber leuchtet ein großer Monitor, er zeigt einen Ausschnitt der Erde; davor hebt sich die Silhouette einer Person ab.
Wenn sie sich gewehrt hätte, überlegt Zoë, sofort den Zünder betätigt hätte, dann wäre es jetzt zu Ende. Sie kann sich vorstellen, was sie erwartet, und sie denkt an den Totenschädel und blutige Kittel, an ihr eigenes Sterben und dass das wohl die Konsequenz sei, und auf einmal ist sie völlig gelassen. Sie wartet.
»Hier sind Sie also«, hört sie endlich, und die Gestalt dreht sich um, kommt auf sie zu, und Zoë sieht die Züge der Schlange, das Reptiliengesicht, die schuppige Haut des Außerirdischen, und sie denkt, dass er trotzdem fast als Mensch durchginge, »Ja«, sagt sie.
»Wissen Sie, was wir mit Ihnen tun werden?«, fragt er, und sie wundert sich über seine fast akzentfreie Aussprache, »Ihnen die Ohren abschneiden vielleicht, die Nase? Oder die Hände abhacken? Was meinen Sie?« Jetzt wartet er, während sie schweigt und seinem Blick auszuweichen versucht. Was soll sie darauf antworten? Dass sie schon längst damit rechnet? Dass sie es akzeptiert hat?
»War es der Irisscanner?«, fragt sie stattdessen.
Er lacht, und es ist ein rauhes, etwas kratziges Lachen. »Natürlich«, sagt er. »Wir waren erstaunt, dass Sie denoch weitergemacht haben.« Er legt seine Hand auf ihre Schulter und, »Kommen Sie«, führt sie näher an den Monitor.
»Ich hatte keine Wahl«, sagt Zoë.
»Interessant. Warum behaupten Sie so etwas?«
Sie setzt zu einer Antwort an, öffnet den Mund und schließt ihn wieder, denkt: Ja, warum eigentlich?, hätte sie eventuell … und schließlich ist alles, was sie hervorbringt: »Rosdorfer.« Ihre Stimme ist heiser.
»Ah, Rosdorfer.« Er nickt. »Was würden Sie sagen, wenn wir Ihnen – Aber nein, warten wir damit. Entschuldigung.« Er deutet eine Verbeugung an, zeigt dann auf den Monitor. »Beantworten Sie mir eine Frage?«
Zoë bejaht, und der Außerirdische fährt fort: »Die Erde«, sagt er. »Als wir hier ankamen, lebten mehr als vier Milliarden Menschen in Armut und Elend – und wir haben unser Wissen und unsere Technologie zur Verfügung gestellt, um das zu ändern. Wir sind ein gutes Stück vorangekommen, aber für die Zukunft bleibt noch viel zu tun. Warum, frage ich mich, bekämpfen Sie uns?«
Sie denkt an Rosdorfers Reden, aber wie soll sie deren Inhalt dem Außerirdischen gegenüber widerholen, von Angesicht zu Angesicht? Sie sucht nach einer neutralen Formulierung, aber sie wird nervöser und unsicherer, je länger sie überlegt; sie spürt, wie ihre Ohren heiß werden, sie rot wird; sie starrt ihn an und sagt, dass sie sicherlich die Falsche sei, er jemand anderes fragen müsse.
»Ich verstehe«, sagt er und wendet sich von ihr ab, zum Monitor hin. Für ein paar Minuten steht er schweigend davor, den Kopf leicht in den Nacken gelegt.
»Und was ist mit Ihnen?«, fragt er dann. »Was erhoffen Sie für sich selbst, wenn Ihre Organisation eines Tages erfolgreich sein sollte?«
Sie seufzt um Zeit zu gewinnen. »Ich habe da nie wirklich drüber nachgedacht«, sagt sie schließlich. »Rosdorfer macht die Pläne für die Zukunft.«
»Also gut.« Er dreht sich wieder zu ihr um. »Wir geben Ihnen eine Wahl. Aber Sie müssen sich entscheiden, und ich lasse keine Ausflüchte gelten. Die eine Möglichkeit ist: Wir beenden das Gespräch sofort, ich lasse Sie zum Lift bringen und Sie können unbehelligt auf die Erde zurückkehren, ganz ohne Konsequenzen unsererseits.«
Er hebt die Hand, als Zoë etwas erwidern möchte. »Warten Sie«, sagt er und klopft seine Taschen ab, zieht den Fernzünder aus einer hervor und streckt ihn ihr entgegen. »Das wäre die Alternative.«
Er schaut ihr in die Augen, und Zoë erkennt trotz der fremdartigen Pupille den Ernst in seinem Blick.
»Wie soll das die Alternative sein?«
»Wenn Sie die Bombe zünden, zwingen Sie uns, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen.«
»Maßnahmen? Was genau meinen Sie?«
»Bisher haben wir nie mit Gewalt auf die Aktionen Ihrer Widerstandsbewegung geantwortet. Wissen Sie, was das bedeutet? Auch für Sie persönlich?«
Der Ernst liegt nach wie vor in seinen Augen, und sie hat den Eindruck, dass diesem Außerirdischen ihre Wahl wichtig ist. Sie ist überrascht, dass sie ihm glaubt; sie weiß einfach, dass er sie gehen lassen würde, sollte sie sich für die erste Möglichkeit entscheiden, und sie beginnt zu verstehen: Dass das hieße, sich für Rosdorfer zu entscheiden, für Rosdorfers Entscheidungen, nicht ihre eigenen, und dass ausgerechnet ihr Feind, dieser Außerirdische, ihr die Chance gibt, selbst zu bestimmen.
»Ich weiß es«, sagt sie und nimmt den Zünder aus seiner Hand, drückt ohne zu zögern auf den Auslöser, hört von ferne den dumpfen Knall der Explosion, legt das Gerät auf den Rand des Bildschirms.
Sie bemerkt, wie er sich leicht verneigt, zu einer Konsole an der Wand geht, mit den Fingern auf der Tastatur tippt.
»Schauen Sie.« Er deutet zum Monitor, auf dem sich für eine Weile nichts ändert; noch immer ist die Erde zu erkennen, die langsame Bewegung der Wolkenformationen, die gelben Landflächen; dann plötzlich erscheinen Objekte am unteren Rand, erst wenige, es werden schnell mehr.
»Unsere Landungsschiffe.« Der Außerirdische spricht leise, fast tonlos. »Jedes von ihnen trägt tausend unserer Kämpfer.«
Zoë tritt näher an den Monitor, betrachtet das Eintauchen der Schiffe in die Atmosphäre: Nach und nach leuchten Lichtpunkte über der Erde auf, verlängern sich zu gleißenden Streifen …
»Das ist das Schönste, das ich je gesehen habe«, sagt sie, und jetzt begreift sie wirklich – Es ist vorbei, und sie kann es nicht verhindern: Sie spürt, dass ihr Tränen in die Augen steigen; sie fällt vor dem Außerirdischen auf die Knie, umschlingt seine Schenkel, schaut zu ihm auf, aber er legt seine Hände auf ihre Schultern, läßt sie auf ihre Oberarme hinabgleiten, packt Zoë fest und zieht sie hoch, bis sie vor ihm steht, sich ihre Blicke wiederum treffen.
»Das«, sagt er, »Werden Sie nie wieder tun müssen.«
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