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Quo vadis, vir veteris?
Der Tag war in ein tiefes blaues Licht getaucht, welches sich scheinbar mit dessen unterschwelligen Grautönen einen Wettstreit um deren Präsenz lieferte. Die Atmosphäre war trübe, und es prasselte zusätzlich ein eiskalter Regen gegen das Fenster. Durch einen kleinen Riss im Glas drang der kalte Wind in das große Zimmer ein, welcher mit dem Vorhang sein Unwesen trieb und dadurch ein mystisch wirkendes Lichtspiel verursachte. Der Vorhang selbst sah seltsam byzantinisch aus, und doch nicht gerade wertvoll. Die scheinbar wirren Muster füllten sich mit Licht, und gerade als solch ein scharfkantiger Schatten um seine Nasenspitze tanzte, drehte er sich zur anderen Seite. Die schweißnassen Laken fühlten sich an, als ob ihn ein Gespenst umarmen würde, das in warm-kalter Wechselwirkung im Takt seines Atems sich an ihn zu krallen versuchte, und einfach nicht loslassen wollte von dieser Welt. Das Bett war groß und bewusst im modernen Stil gehalten. Freunde hatten ihn oft gefragt, wie er so problemlos darin schlafen könne, da es doch alles andere als heimelig wirke. Seine Finger zuckten ständig unkontrolliert im Schlaf. Was man als Alptraum deuten könnte, war allerdings in Wahrheit ein fortgeschrittenes Parkinson-Syndrom, doch für ihn machte es keinen Unterschied mehr. Den exzessiven Sport gab er längst auf, um den Kreislauf zu schonen.
Seit seine Frau gestorben war, war dies in jeder Hinsicht die richtige Entscheidung.
Er öffnete kurz die Augen, rieb sie sich und hielt sich dann krampfhaft den Kopf fest, der ihm wie vom schrillen Schrei eines Eichelhähers erfüllt war, welcher durch Mark und Glieder fuhr. Erschrocken zitterte er instinktiv in Richtung Nachtkästchen, wobei er ein Glas Wasser umschmiss. Das Klirren hallte ihm im Ohr, und erst jetzt schärfte sich sein verwaschener Blick. Das Wasser floss langsam unter das Bett, und die Reflexionen des wie in Zeitlupe tanzenden Lichts gaben der Situation einen surrealistischen Hauch. Sein Kopf klärte sich wieder langsam und der Schrei verstummte. Obgleich er wusste, dass dies das Omen eines Tages darstellte, an dem man sprichwörtlich lieber im Bett blieb, rollte er sich vorsichtig und schnaufend zur anderen Bettseite. Er griff schwermütig nach seiner Brille, die auf dem Glasnachtkästchen seiner Frau lag. Dann raffte er sich langsam auf.
Verloren, glaubte er, sei noch lange nichts. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Unter diesen Mottos sah er sich ermutigt, auch wenn der Griff nicht mehr der festeste war. Als er aufstand, knackten seine Füße wie morsches Holz, aber die Kniescheiben blieben seltsam ruhig, was er den ziemlich teueren Titanimplantaten zu verdanken hatte.
Er zog sich bedächtig an, mit dem Blick auf den Spiegel des riesigen Kleiderschrankes, der die komplette Länge des Zimmers ausfüllte. Eitelkeit ist wahrhaftig keine Sache des Alters, das hatte schon seine Frau ständig zu ihm gesagt.
Nachdem er im Bad ein wenig Haarschaum aufgetragen hatte und seufzend zu seinem Gebiss griff, flog er, wie von einer Welle unerklärlicher plötzlicher Lebensfreude und Vitalität getragen, mit Elan die Stufen hinunter, als sei er erst an der Hälfte seines Lebens angelangt. Zum Frühstück machte er sich wie immer Ei mit Toast und eine warme Tasse grünen Tees.
Es hörte auf zu regnen, und er zog sich vorsorglich seinen Lieblingsmantel für den Winter an. Das weiche Beige war balsam für seine Augen. Da nahm er Notiz von einem kleinen Holzstab, der mit unglaubwürdig indianischen Verzierungen versehen war. Er hatte eine Art Henkel wie ein Regenschirm, doch fiel ihm nicht mehr dessen Zweck ein, und dass er diesen Wanderstock beim Besuch eines Indinianerreservats in Amerika erstand. Er führte die Gedächtnislücke auf seine Alzheimerkrankheit zurück, dessen Symptome bei ihm das erste Mal mit achtundsiebzig Jahren festgestellt wurden. So nahm er nachdenklich zitternd den Stock in die Hand und öffnete die Tür, wobei er beinahe den Schlüssel beim Zuschließen vergaß. Es war eisig, der Weg war vom Regen zugefroren und unerträglich glatt. Mit einem langsamen Blick zur Seite bemerkte er seinen geliebten Baum, dessen Äste verdörrt und vereist waren. Doch trauerte er nicht um den bald sterbenden Baum. Er würde ihn im Sommer ganz einfach gesund päppeln. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Dieser Weg führte ihn, wie jeden Morgen, an die Rheinpromenade, die hinter einem kleinen Erdberg – welcher als Deich fungiert – ein viel begangenes und doch nicht gerade jugendliches Dasein fristet. Außer auf einem Skateboard hat dieses Stück Weg wahrlich noch nicht viele Kinder gesehen. Er hatte sich in einem ruhigen Moment schon mal überlegt, mit diesem Weg ein Gleichnis für Deutschlands momentane Rentnersituation aufzustellen. Obgleich sie sicher nicht so viel Anerkennung wie beispielsweise Platons Höhlengleichnis bekommen würde, hätte sie, so grübelte er, dennoch einen kleinen philosophischen Wert gehabt. Die Zeit wäre seiner Ansicht nach ideal. Mit dem Alter steigt die Lebenserfahrung, und auch die ganzen altgriechischen Philosophen, die unsere abendländische Denkweise prägten, waren erst im Alter auf der Höhe ihres Schaffens angelangt. Um diese Gedanken in Ruhe zu vertiefen, setzte er sich auf die Parkbank, von wo aus die Sicht auf den Rhein lange Zeit durch allerlei Gestrüpp versperrt war, bis er sich ein Herz griff und diesen Missstand mittels einer Säge bereinigte. Radikal war er, ohne Frage. Doch er seufzte tief und dachte still, dass dies doch im Grunde alle Denker seien. Da blies im plötzlich ein rauer Wind ins Gesicht, als ob Deutschlands Denker eine Windmaschine gebaut hätten, und es ihm übel nähmen, dass er sie mit einem so negativ beladenem Begriff assoziierte.
Gott war es denn sicherlich nicht. An Gott glaubte er nicht. Eher an etwas wie ein kosmisches Gleichgewicht, welches zu Beginn von allem die geltenden Regeln definiert haben muss. Das müsste nichts Göttliches sein. Aber blanker Zufall sei es auch nicht.
Mit schweren Augenlidern seufzte er erneut, und bereute, dass er nicht ebenfalls Schriftsteller geworden war, wie sein Sohn. Der Rhein war heute wieder sehr leer, bis auf das gelegentliche Kohlentransportschiff. Die Wellen kämpften weitestgehend allein gegen die eisige Übermacht, und in ihrem verzweifelten Versuch nicht einzufrieren, gaben sie die hoffnungslosen Ufer auf. Ein paar Opfer um das Überleben des Ganzen sicherzustellen. Der menschliche Körper reagiert auf Unterkühlung ebenfalls in dieser Art.
Auch die Promenade war einsam. Letztendlich würde es heute wohl wieder einer dieser Tage werden. Der Gedanke ließ ihn frösteln und zitternd zog er sich nun doch Handschuhe an, um dann seine Hände in den hintersten Winkel der Manteltaschen zu verstecken, um nur keine Opfer bringen zu müssen. Denn das tat er früher zur Genüge.
Die malerische Aussicht und die lyrischen Gedankengänge störte - wie immer stets pünktlich - ein Rumoren in der Magengegend.
Auf dem Nachhauseweg sah er einen kleinen Jungen auf dem verlotterten Spielplatz hinter dem Deich, der ihn wieder an seine längst vergangene Jugend erinnerte. Er umgriff die Ketten der Schaukel, und zog seine Hände dann schnell wieder zurück und schrie ihn grinsend an, wie kalt das dämliche Ding doch sei. Jugend ist wahrhaftig ein ferner Begriff, wenn man morgen bereits einhundert Jahre alt wird. Zitternd zogen sich ihm die Gesichtsmuskel auseinander, ohne dass er es kontrollieren konnte. Sicherlich wäre es ihm lieber, erst jetzt geboren zu sein, aber das tat er dann doch als billigen Wunsch eines Senilen ab, der sich mit dem Tod nicht abfinden könne.
Sein Mittagsessen bereitete er fast immer selber zu. Doch obwohl er seine Salate immer recht toll fand, schmeckte er heute unerklärlich fad. Als ob er alarmiert wäre und verhindern möchte, dass jenes plötzlich auch mit seinem Leben passiert, entschloss er sich kurzerhand, heute einmal das Haus nicht wieder zu verlassen und fernzusehen, anstatt der üblichen Fortsetzung des Spaziergangs. Ein Novum, natürlich, und doch zweifelte er hinterher wie im Kampf mit sich selbst den Sinn dessen an.
Das Fernsehprogramm wurde immer langweiliger. Hier eine Überflutung, da ein Krieg. Zweifellos wäre er der geborene Zyniker. Doch in welch bizarrer Realität wachsen die wenigen Kinder heute nur auf. 1954 möge auf den ersten Blick wie ein relativ schlechtes Vergleichsdatum klingen, aber, davon war er schon seit sechzehn Jahren überzeugt, war die Nachkriegswelt damals nicht weniger bizarr als heute.
Die Zeit verging kriechend, als würde der Minutenzeiger an seiner alten bayerischen Holzuhr einen Groll gegen ihn hegen. Alles um ihn herum wurde nun träge, schwer, und die Sicht war schwach und neblig. Die Zeit ronn wie Klebstoff von den Wänden, und von der Decke tropfte es nur gelegentlich auf seinen - dezent kastanienbraun gefärbten - Scheitel. Sein Kopf knickte leicht zur Seite, und der Körper rutschte sanft ein Stück das Leder hinunter. Komplett in Gedanken versunken schlief er so langsam ein.
Irgendwie ahnte er es. Während der letzten Sekunden, bevor ihn die zarten Klänge Bachs eines Klassikmusiksenders in den Schlaf lullten, schoss ihm der Gedanke wie eine göttliche Erkenntnis durch den Kopf. Er wusste an dieser Stelle nicht, warum, aber es faszinierte ihn.
Die Zeichen des Tages, er deutete diese mit einer - für ihn - im Alter ungewohnten Scharfsinnigkeit. Er spekulierte, ob er sich denn nicht nur selbst Angst mache. Weshalb, fragte er sich mit der alten Bestimmtheit eines Managers, schmeckte sein Salat heute so unerträglich fad. Dabei musste er ob der Trivialität seiner Gedankengänge innerlich kichern. Er müsste morgen sofort dem Sohnemann Bescheid geben, der kenne sich schließlich mit so etwas aus.
Am Abend wachte er plötzlich auf und dachte direkt an seine seltsame Traumlosigkeit. Er stand mühsam auf und lief ohne zu gähnen zum Fernseher, um ihn auszuschalten. Nur noch die Wendeltreppe schaffen, dachte er sich müde. Bis vor einem Jahr war das noch ein kleines Abenteuer, da der glatte Holzboden ihn zu mühsamer Vorsicht zwang. Jetzt ziert das Holz jeder Stufe ein mittels Heißpistole fixierter, rauer, dunkelgrauer Teppich. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
In seinem Zimmer ließ er sich wie ein junger Spund auf das Bett fallen, wobei er wieder unweigerlich die Lippen auseinander zog. Das Wasser war inzwischen bis dorthin, zur Seite seiner Frau, gelaufen. Das lag an der leichten Schräglage des Baus, doch mit der Zeit gewöhnte man sich auch daran und nahm es gar nicht mehr wahr. Die Glassplitter lagen auf seiner Seite wild verteilt, doch stieg er sowieso immer zur anderen Seite in und aus dem Bett. Er zog sich schnell die Decke bis zum Kopf, und das tanzende blaue Licht spiegelte sich in den einzelnen Scherben. Man meine fast, man könnte ein ferne Melodie wahrnehmen, die sich aus dem Klirren des Glases herausbildete, sich in dessen Inhalt reflektierte, und ihm leise ein Schlafliedchen spielte.
Morgen, so wusste er, würde endlich ein schöner Tag werden.