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Quo vadis, vir veteris?

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07.02.2004
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Quo vadis, vir veteris?

Der Tag war in ein tiefes blaues Licht getaucht, welches sich scheinbar mit dessen unterschwelligen Grautönen einen Wettstreit um deren Präsenz lieferte. Die Atmosphäre war trübe, und es prasselte zusätzlich ein eiskalter Regen gegen das Fenster. Durch einen kleinen Riss im Glas drang der kalte Wind in das große Zimmer ein, welcher mit dem Vorhang sein Unwesen trieb und dadurch ein mystisch wirkendes Lichtspiel verursachte. Der Vorhang selbst sah seltsam byzantinisch aus, und doch nicht gerade wertvoll. Die scheinbar wirren Muster füllten sich mit Licht, und gerade als solch ein scharfkantiger Schatten um seine Nasenspitze tanzte, drehte er sich zur anderen Seite. Die schweißnassen Laken fühlten sich an, als ob ihn ein Gespenst umarmen würde, das in warm-kalter Wechselwirkung im Takt seines Atems sich an ihn zu krallen versuchte, und einfach nicht loslassen wollte von dieser Welt. Das Bett war groß und bewusst im modernen Stil gehalten. Freunde hatten ihn oft gefragt, wie er so problemlos darin schlafen könne, da es doch alles andere als heimelig wirke. Seine Finger zuckten ständig unkontrolliert im Schlaf. Was man als Alptraum deuten könnte, war allerdings in Wahrheit ein fortgeschrittenes Parkinson-Syndrom, doch für ihn machte es keinen Unterschied mehr. Den exzessiven Sport gab er längst auf, um den Kreislauf zu schonen.
Seit seine Frau gestorben war, war dies in jeder Hinsicht die richtige Entscheidung.
Er öffnete kurz die Augen, rieb sie sich und hielt sich dann krampfhaft den Kopf fest, der ihm wie vom schrillen Schrei eines Eichelhähers erfüllt war, welcher durch Mark und Glieder fuhr. Erschrocken zitterte er instinktiv in Richtung Nachtkästchen, wobei er ein Glas Wasser umschmiss. Das Klirren hallte ihm im Ohr, und erst jetzt schärfte sich sein verwaschener Blick. Das Wasser floss langsam unter das Bett, und die Reflexionen des wie in Zeitlupe tanzenden Lichts gaben der Situation einen surrealistischen Hauch. Sein Kopf klärte sich wieder langsam und der Schrei verstummte. Obgleich er wusste, dass dies das Omen eines Tages darstellte, an dem man sprichwörtlich lieber im Bett blieb, rollte er sich vorsichtig und schnaufend zur anderen Bettseite. Er griff schwermütig nach seiner Brille, die auf dem Glasnachtkästchen seiner Frau lag. Dann raffte er sich langsam auf.
Verloren, glaubte er, sei noch lange nichts. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Unter diesen Mottos sah er sich ermutigt, auch wenn der Griff nicht mehr der festeste war. Als er aufstand, knackten seine Füße wie morsches Holz, aber die Kniescheiben blieben seltsam ruhig, was er den ziemlich teueren Titanimplantaten zu verdanken hatte.
Er zog sich bedächtig an, mit dem Blick auf den Spiegel des riesigen Kleiderschrankes, der die komplette Länge des Zimmers ausfüllte. Eitelkeit ist wahrhaftig keine Sache des Alters, das hatte schon seine Frau ständig zu ihm gesagt.
Nachdem er im Bad ein wenig Haarschaum aufgetragen hatte und seufzend zu seinem Gebiss griff, flog er, wie von einer Welle unerklärlicher plötzlicher Lebensfreude und Vitalität getragen, mit Elan die Stufen hinunter, als sei er erst an der Hälfte seines Lebens angelangt. Zum Frühstück machte er sich wie immer Ei mit Toast und eine warme Tasse grünen Tees.
Es hörte auf zu regnen, und er zog sich vorsorglich seinen Lieblingsmantel für den Winter an. Das weiche Beige war balsam für seine Augen. Da nahm er Notiz von einem kleinen Holzstab, der mit unglaubwürdig indianischen Verzierungen versehen war. Er hatte eine Art Henkel wie ein Regenschirm, doch fiel ihm nicht mehr dessen Zweck ein, und dass er diesen Wanderstock beim Besuch eines Indinianerreservats in Amerika erstand. Er führte die Gedächtnislücke auf seine Alzheimerkrankheit zurück, dessen Symptome bei ihm das erste Mal mit achtundsiebzig Jahren festgestellt wurden. So nahm er nachdenklich zitternd den Stock in die Hand und öffnete die Tür, wobei er beinahe den Schlüssel beim Zuschließen vergaß. Es war eisig, der Weg war vom Regen zugefroren und unerträglich glatt. Mit einem langsamen Blick zur Seite bemerkte er seinen geliebten Baum, dessen Äste verdörrt und vereist waren. Doch trauerte er nicht um den bald sterbenden Baum. Er würde ihn im Sommer ganz einfach gesund päppeln. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Dieser Weg führte ihn, wie jeden Morgen, an die Rheinpromenade, die hinter einem kleinen Erdberg – welcher als Deich fungiert – ein viel begangenes und doch nicht gerade jugendliches Dasein fristet. Außer auf einem Skateboard hat dieses Stück Weg wahrlich noch nicht viele Kinder gesehen. Er hatte sich in einem ruhigen Moment schon mal überlegt, mit diesem Weg ein Gleichnis für Deutschlands momentane Rentnersituation aufzustellen. Obgleich sie sicher nicht so viel Anerkennung wie beispielsweise Platons Höhlengleichnis bekommen würde, hätte sie, so grübelte er, dennoch einen kleinen philosophischen Wert gehabt. Die Zeit wäre seiner Ansicht nach ideal. Mit dem Alter steigt die Lebenserfahrung, und auch die ganzen altgriechischen Philosophen, die unsere abendländische Denkweise prägten, waren erst im Alter auf der Höhe ihres Schaffens angelangt. Um diese Gedanken in Ruhe zu vertiefen, setzte er sich auf die Parkbank, von wo aus die Sicht auf den Rhein lange Zeit durch allerlei Gestrüpp versperrt war, bis er sich ein Herz griff und diesen Missstand mittels einer Säge bereinigte. Radikal war er, ohne Frage. Doch er seufzte tief und dachte still, dass dies doch im Grunde alle Denker seien. Da blies im plötzlich ein rauer Wind ins Gesicht, als ob Deutschlands Denker eine Windmaschine gebaut hätten, und es ihm übel nähmen, dass er sie mit einem so negativ beladenem Begriff assoziierte.
Gott war es denn sicherlich nicht. An Gott glaubte er nicht. Eher an etwas wie ein kosmisches Gleichgewicht, welches zu Beginn von allem die geltenden Regeln definiert haben muss. Das müsste nichts Göttliches sein. Aber blanker Zufall sei es auch nicht.
Mit schweren Augenlidern seufzte er erneut, und bereute, dass er nicht ebenfalls Schriftsteller geworden war, wie sein Sohn. Der Rhein war heute wieder sehr leer, bis auf das gelegentliche Kohlentransportschiff. Die Wellen kämpften weitestgehend allein gegen die eisige Übermacht, und in ihrem verzweifelten Versuch nicht einzufrieren, gaben sie die hoffnungslosen Ufer auf. Ein paar Opfer um das Überleben des Ganzen sicherzustellen. Der menschliche Körper reagiert auf Unterkühlung ebenfalls in dieser Art.
Auch die Promenade war einsam. Letztendlich würde es heute wohl wieder einer dieser Tage werden. Der Gedanke ließ ihn frösteln und zitternd zog er sich nun doch Handschuhe an, um dann seine Hände in den hintersten Winkel der Manteltaschen zu verstecken, um nur keine Opfer bringen zu müssen. Denn das tat er früher zur Genüge.
Die malerische Aussicht und die lyrischen Gedankengänge störte - wie immer stets pünktlich - ein Rumoren in der Magengegend.
Auf dem Nachhauseweg sah er einen kleinen Jungen auf dem verlotterten Spielplatz hinter dem Deich, der ihn wieder an seine längst vergangene Jugend erinnerte. Er umgriff die Ketten der Schaukel, und zog seine Hände dann schnell wieder zurück und schrie ihn grinsend an, wie kalt das dämliche Ding doch sei. Jugend ist wahrhaftig ein ferner Begriff, wenn man morgen bereits einhundert Jahre alt wird. Zitternd zogen sich ihm die Gesichtsmuskel auseinander, ohne dass er es kontrollieren konnte. Sicherlich wäre es ihm lieber, erst jetzt geboren zu sein, aber das tat er dann doch als billigen Wunsch eines Senilen ab, der sich mit dem Tod nicht abfinden könne.
Sein Mittagsessen bereitete er fast immer selber zu. Doch obwohl er seine Salate immer recht toll fand, schmeckte er heute unerklärlich fad. Als ob er alarmiert wäre und verhindern möchte, dass jenes plötzlich auch mit seinem Leben passiert, entschloss er sich kurzerhand, heute einmal das Haus nicht wieder zu verlassen und fernzusehen, anstatt der üblichen Fortsetzung des Spaziergangs. Ein Novum, natürlich, und doch zweifelte er hinterher wie im Kampf mit sich selbst den Sinn dessen an.
Das Fernsehprogramm wurde immer langweiliger. Hier eine Überflutung, da ein Krieg. Zweifellos wäre er der geborene Zyniker. Doch in welch bizarrer Realität wachsen die wenigen Kinder heute nur auf. 1954 möge auf den ersten Blick wie ein relativ schlechtes Vergleichsdatum klingen, aber, davon war er schon seit sechzehn Jahren überzeugt, war die Nachkriegswelt damals nicht weniger bizarr als heute.
Die Zeit verging kriechend, als würde der Minutenzeiger an seiner alten bayerischen Holzuhr einen Groll gegen ihn hegen. Alles um ihn herum wurde nun träge, schwer, und die Sicht war schwach und neblig. Die Zeit ronn wie Klebstoff von den Wänden, und von der Decke tropfte es nur gelegentlich auf seinen - dezent kastanienbraun gefärbten - Scheitel. Sein Kopf knickte leicht zur Seite, und der Körper rutschte sanft ein Stück das Leder hinunter. Komplett in Gedanken versunken schlief er so langsam ein.
Irgendwie ahnte er es. Während der letzten Sekunden, bevor ihn die zarten Klänge Bachs eines Klassikmusiksenders in den Schlaf lullten, schoss ihm der Gedanke wie eine göttliche Erkenntnis durch den Kopf. Er wusste an dieser Stelle nicht, warum, aber es faszinierte ihn.
Die Zeichen des Tages, er deutete diese mit einer - für ihn - im Alter ungewohnten Scharfsinnigkeit. Er spekulierte, ob er sich denn nicht nur selbst Angst mache. Weshalb, fragte er sich mit der alten Bestimmtheit eines Managers, schmeckte sein Salat heute so unerträglich fad. Dabei musste er ob der Trivialität seiner Gedankengänge innerlich kichern. Er müsste morgen sofort dem Sohnemann Bescheid geben, der kenne sich schließlich mit so etwas aus.
Am Abend wachte er plötzlich auf und dachte direkt an seine seltsame Traumlosigkeit. Er stand mühsam auf und lief ohne zu gähnen zum Fernseher, um ihn auszuschalten. Nur noch die Wendeltreppe schaffen, dachte er sich müde. Bis vor einem Jahr war das noch ein kleines Abenteuer, da der glatte Holzboden ihn zu mühsamer Vorsicht zwang. Jetzt ziert das Holz jeder Stufe ein mittels Heißpistole fixierter, rauer, dunkelgrauer Teppich. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
In seinem Zimmer ließ er sich wie ein junger Spund auf das Bett fallen, wobei er wieder unweigerlich die Lippen auseinander zog. Das Wasser war inzwischen bis dorthin, zur Seite seiner Frau, gelaufen. Das lag an der leichten Schräglage des Baus, doch mit der Zeit gewöhnte man sich auch daran und nahm es gar nicht mehr wahr. Die Glassplitter lagen auf seiner Seite wild verteilt, doch stieg er sowieso immer zur anderen Seite in und aus dem Bett. Er zog sich schnell die Decke bis zum Kopf, und das tanzende blaue Licht spiegelte sich in den einzelnen Scherben. Man meine fast, man könnte ein ferne Melodie wahrnehmen, die sich aus dem Klirren des Glases herausbildete, sich in dessen Inhalt reflektierte, und ihm leise ein Schlafliedchen spielte.
Morgen, so wusste er, würde endlich ein schöner Tag werden.

 

cascardian schrieb unter seine Geschichte:

Ich bin noch neu hier und hoffe, dass ich euch nicht gleich damit erschlage, wenn ich als ersten Eintrag eine Geschichte poste. Auf ein gutes Zusammenwirken!

 
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Hallo casca und herzlich willkommen auf Kurzgeschichten.de !

Deine Geschichte gefällt mir ausnehmend gut; sie versorgt den Leser mit einer derart reichen Fülle an Informationen, dass man sich geradezu wünschen könnte, nie dieses hohe Alter zu erreichen. Ich persönlich musste mich nach der Lektüre unwillkürlich an Kurt Cobains Abschiedsbrief erinnern, in dem er feststellt " it’s better to burn out than fade away".
Jedoch gibt es meines Erachtens einige Stellen, die einer Überarbeitung bedürfen:

Freunde hatten ihn oft gefragt, wie er so problemlos darin schlafen könne, da es doch alles andere als heimisch wirke.
Das Wort "heimisch" erscheint mir hier unpassend; meinst du evtl "heimelig"?

doch für ihn war das schlicht das Gleiche.
Ich würde ein "war" streichen und den Nebensatz ersetzen durch "doch es macht für ihn keinen/ kaum einen Unterschied."

Seit seine Frau starb
gestorben war

aber die Kniehscheiben blieben seltsam ruhig
Kniescheiben

Nachdem er im Bad ein wenig Haarschaum aufgetragen hatte und seufzend zu seinem Gebiss griff, flog er, wie von einer Welle unerklärlicher plötzlicher Lebensfreude und Vitalität getragen, mit Elan die Stufen hinunter
"...aufgetragen und seufzend zu seinem Gebiss gegriffen hatte..."
Hast du mal überlegt hinter "hinunter" einen Punkt zu setzen? Der ganze Satz bekäme eine neue, weitaus sarkastischere Bedeutung. :D

Da nahm er Notiz von einem kleinen Holzstab, der mit unglaubwürdig indianischen Verzierungen versehen war.
Hieran gibt es eigentlich nichts zu meckern - allerdings fühlte ich mich in den P.I.M.P.-Videoclip hineinversetzt ("PLUS... I GOT THE MAGIC STICK !" ;))

Er erkannte die Gedächtnislücke als seine Alzheimerkrankheit
besser: "Er führte die Gedächtnislücke auf seine Alzheimerkrankheit zurück..."

nachdenklich zitternd
Diese beiden Begriffe kann ich beim besten Willen nicht miteinander in Verbindung bringen - schließlich sollte Nachdenklichkeit (im Idealfall) willensgetragen sein, "Zittern" ist jedoch eine nicht kontrollierbare Muskelkontraktion, die nicht dem Bewusstsein unterworfen ist. Daher wäre es sinnvoll, wenn du ein "und" dazwischen setzen würdest.

Außer auf einem Skateboard hat dieses Stück Weg wahrlich noch nicht viele Kinder gesehen.
Dieser Satz klingt etwas seltsam und sollte nach Möglichkeit modifiziert werden...

Die sich anschließende philosophische Debatte ist meiner Ansicht nach misslungen, weil sie in krassem Widerspruch zu der vorangegangenen Passage steht. Erst weist du darauf hin, dass der alte Mann nicht einmal mehr weiß, wo er den indianischen "magic stick" erstanden hat, um dem verdutzten Leser nur wenige Augenblicke später von seinen philosophischen Höhenflügen zu erzählen, bei denen er sich sogar an Platon zu erinnern vermag. Daher solltest du überlegen, ob du diese Stelle nicht besser ändern oder gar ganz weglassen solltest (das ist der große Vorteil von Prosa - da kann man in der Regel viel unnötigen Ballast abwerfen und nach Herzenslust streichen... :))

...welches zu Beginn von Allem...
allem (klein!)

man könnte ein ferne Musik wahrnehmen
"Melodie" würde mir etwas besser gefallen.


Insgesamt halte ich deine Kurzgeschichte für gelungen. Für meinen Geschmack ist sie jedoch zu überladen mit unnötigen Adjektiven und einer zum Teil zu pathetischen Sprache. Du schreibst zu kompliziert, baust zu viele Schnörkel ein, die zwar von Kunstfertigkeit zeugen, die Grundaussage jedoch nicht befördern, sondern die Geschichte nur unnötig in die Länge ziehen. Trotzdem hat dein Text seine Wirkung nicht verfehlt und mich zum Nachdenken gezwungen - mehr denn je bin ich nun der Ansicht, dass Kurt Cobains Behauptung gar nicht einmal so unbegründet sein könnte: "It`s better to burn out than fade away."

Herzliche Grüße von
Toby

 

Hallo, Toby!

Vielen Dank für deine zahlreichen Korrekturen (sind schon integriert worden)!

Bei deiner Kritik der philosophischen "Debatte" muss ich dir allerdings leider widersprechen. Ich denke, ich kann (seltsamerweise genauso wie du als ehemaliger Zivildienstleistender) beurteilen, in welchem Stadium Alzheimer einen Menschen geistig komplett außer Kraft setzt, und wann zwar das Kurzzeitgedächtnis ruiniert ist, aber das Langzeitgedächtnis inklusive die bekannte Großvaterfunktion als Geschichtenerzähler noch in vollem Gange ist. Das meine Ausführungen reichlich trivial erscheinen mögen, will ich nicht bestreiten, verweise jedoch auf den weiter in der Geschichte vorfindbaren Kommentar dazu. Immerhin kann er noch über die Trivialität seiner Gedanken lachen.

Best regards,
Marco

 

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