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Quid Pro Quo
Schwerer Dunst trieb gemächlich durch Hudson’s Creek. Erste Sonnenstrahlen brachen durch die graue Wolkendecke und tauchten die verschlafene Siedlung in einen märchenhaften, goldenen Schimmer.
Als einer der vielen Vororte Newarks präsentierte sich die überschaubare Gemeinde als Idylle inmitten des hektischen Großstadtdschungels. Ein gewaltiges Netz aus Asphalt unterteilte die grüne Fläche in gleichmäßige Quadrate, deren Eintönigkeit Ruhe und Sicherheit versprach.
Es war kurz nach Sonnenaufgang, als Laura von ihrem Telefon geweckt wurde.
Sie fror und wälzte sich unruhig im Halbschlaf auf dem durchgeschwitzten Laken hin und her. Grausame Bilder des vorangegangenen Albtraums verließen ihr Bewusstsein, wie Ratten das sinkende Schiff. Er war, wie viele andere vor ihm, Pamela gewidmet.
Sie setzte sich benommen an den Rand des Bettes, tapste anschließend wankend ins Bad und begutachtete die tiefen Augenringe, die seit einiger Zeit fester Bestandteil ihres Erscheinungsbildes waren.
Das Verschwinden ihrer Schwester, die Ungewissheit und das langsame Sterben der Hoffnung, hatten die vorangegangenen Wochen zu ihrem persönlichen Martyrium gemacht.
Laura verrichtete abwesend ihre Morgenwäsche und zog sich an. Anschließend ging sie zum Anrufbeantworter und hörte die lange ersehnte Nachricht ab. Es würde bald vorüber sein.
Sie atmete tief ein und musste sich auf dem Küchentisch abstützen. Dabei schob sie achtlos einen Berg unbezahlter Rechnungen vom Küchentisch, unter denen sich zwei Akten ihrer Zöglinge aus dem Erziehungsheim befanden. Sie vermisste die Kinder und die Arbeit mit ihnen, aber sie war aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens vorübergehend beurlaubt worden.
Laura wollte etwas frühstücken, beließ es bei dem Versuch und blätterte lustlos durch die lokale Morgenzeitung. Hier ein Feuer, dort ein verlorengegangener Hund, ein paar Unfälle und eine Scheidung. Nichts Besonderes.
Die Seite mit den Nachrufen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie wollte nicht hinsehen, aber sie musste es einfach tun.
›Pamela Meadows, geliebte Mutter zweier Kinder ... wir vermissen dich ... Albert Meadows, treuer Vater und Ehemann ... in Gott liegt die Kraft ... geachtete Kollegin und Vorbild ... zu früh aus dem Leben gerissen ... möge Dein sinnloser Tod niemals vergeben werden.‹
Die Türklingel erlöste sie schließlich aus ihrer Starre. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, warf einen letzten skeptischen Blick in den Spiegel und verließ mit weichen Knien ihr kleines Haus, vor dem eine schwarze Limousine mit laufendem Motor wartete.
»Miss.« Der Chauffeur nickte verständnisvoll und öffnete eine der Türen für sie.
Während ihrer Fahrt durch den Vorort kämpfte sie ständig mit den nach oben drängenden Erinnerungen der letzten Wochen, die sie auf den Grund ihrer Seele verbannt hatte. Noch gelang ihr dies, aber sie würde sie nicht für immer dort halten können. Bei dem Gedanken stieg Panik in ihr auf. Sie öffnete das abgetönte Fenster einen Spalt und ließ die frische Morgenluft ins Innere strömen.
Nach einer kurzen Fahrt auf dem Jersey Turnpike wechselte der Fahrer den Highway. Zunehmende Fast Food Restaurants, Autohändler und Werbetafeln wiesen auf Newarks nördlichen Randbezirk hin, in dessen Zentrum ihr Ziel lag: das Newark State Prison.
Auf einer Werbetafel war eine Frau mittleren Alters zu sehen, deren Lächeln aufgesetzt wirkte. Darunter stand: Patti Stewart, unser Star im Juli. Vendetta Entertainment.
Laura begann schwer zu schlucken.
Nach einer kleinen Ewigkeit hielt die Limousine vor der Gefängnisanlage. Der ausladende Betonkomplex richtete sich wie ein Mahnmal vor ihr auf.
Sie musste sich an der Tür des Cadillac abstützen, um nicht zu stolpern.
Vor den schwer bewachten Toren hatten sich mehrere lokale Reporter eingefunden, die auseinandersprangen, als eine kleine Delegation die Strafanstalt verließ und direkt auf Laura zuhielt.
Einer der Anzugträger streckte ihr die Hand entgegen, darauf bedacht, den Fotografen gutes Material zu liefern.
»Sie müssen Miss Harris sein. Der Elf-Uhr-Termin?«
Sie nickte.
»Darf ich Laura zu Ihnen sagen? Mein Name ist Andrew Mullins, stellvertretender Direktor.« Ohne auf eine Antwort zu warten, zog er sie mit sich. »Heute ist also Ihr großer Tag?«
»Bitte?«
»Tut mir leid, wie geschmacklos von mir.« Er sah sie verlegen an. »Das ist die Routine.« Dann schritt er zielstrebig durch das Haupttor, wo sich Laura ins Gästebuch eintragen musste.
»Da die Sie betreffenden Umstände als besonders tragisch und verabscheuungswürdig eingestuft worden sind, haben wir uns erlaubt, Ihren Fall ins rechte Licht zu rücken, Sie verstehen?«
Sie verstand kein Wort. Sie hatte Angst vor dem, was heute geschehen würde.
»Der Kerl wird in der Hölle schmoren und ganz Amerika sieht dabei zu. Exklusivübertragung.« Mullins legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Nicht aufregen, bitte. In zwei Stunden ist alles vorbei, dann haben Sie’s überstanden. Vertrauen Sie mir, ja?« Er sah Laura verschwörerisch an, bevor er sie in einen langen, hellgrün gestrichenen Korridor dirigierte.
Sie passierten in die Wand eingelassene Schaufenster, durch die man in kleine, mit weißen Fliesen verkleidete Räume sehen konnte. ›Schlachthof‹, war das Erste, das Laura dazu einfiel.
Als Mullins ihren skeptischen Blick bemerkte, begann er zu schmunzeln.
»Keine Sorge. Das sind Einwegspiegel. Man kann nicht nach draußen sehen.«
Sie hatte das Gefühl, ihren Körper verlassen zu haben. Sie folgte dem stellvertretenden Direktor, ging stumm an Wachen und anderem Gefängnispersonal vorbei, und vermied es, in die kleinen Räume zu blicken. Sie hielt ihren Blick starr auf Mullins' Rücken gerichtet und wich nicht einen Millimeter davon ab.
Schließlich erreichten sie ein Fenster, vor dem schon mehrere Menschen Stellung bezogen hatten. Laura erkannte einen der Vendetta-Produzenten, der mit ihr vor einigen Tagen über die Exklusivrechte verhandelt hatte. Zwei Kamerateams seines Unternehmens nahmen letzte Licht- und Toneinstellungen vor. Außerdem hatten sich ihre Nachbarn und andere Menschen, die Pamela näher gekannt hatten, eingefunden.
Laura bemerkte ihre Blicke nicht, die zwischen tiefer Trauer und ohnmächtiger Wut schwankten.
Mullins schob sie in einen kleinen abgedunkelten Raum neben dem Schaufensterzimmer, setzte sie in einen bequemen Sessel und reichte ihr einen Plastikbecher.
»Trinken Sie das. Sie werden es brauchen.« Dann deutete er mit dem Finger auf eine weiße Schürze aus Plastik, langen Gummihandschuhen und einer Schutzbrille. Daneben hing ein dünner Einweganzug. »Ziehen Sie das bitte an. Ich melde mich, wenn wir soweit sind.«
»Bitte warten Sie, ich ...« Laura wollte nicht alleine sein, doch Mullins hatte noch etwas zu erledigen und vertröstete sie auf den Pastor.
***
Laura saß zusammengekauert in einer Ecke des Vorbereitungsraumes. Ihr verkrampftes Gesicht war nass vor Tränen und ein salziger Geschmack hatte sich auf ihrer Zunge breitgemacht. Das Gespräch mit dem Pastor war die Hölle gewesen. Er hatte ihre verbannten Erinnerungen vollends befreit und sie zufrieden sich selbst überlassen. Seine Worte hallten wie Nadelstiche in ihrem pochenden Schädel nach.
›Malträtierter Körper ... vollständig verstümmelt ... mehrfach vergewaltigt ... zertrümmerte Gelenke ... Fleischerhammer ... tagelanges Martyrium ... unvorstellbare Schmerzen ... achtlos weggeworfen.‹
Sie begann zu schluchzen. Der blasse, geschändete Leib ihrer Schwester wollte nicht mehr vor ihrem inneren Auge verschwinden. Sie starrte sie anklagend an und ihr verlorener Blick bohrte sich tief in Lauras Herz.
Plötzlich breitete sich ein warmes Kribbeln über ihren gesamten Körper aus und sie wurde von einem Gefühl beherrscht, das sonst nicht zu ihrem sanften Wesen gehörte: unbändiger Wut. Das Medikament begann zu wirken.
»Miss Harris, wir sind dann so weit. Er ist fixiert und bei vollem Bewusstsein«, erklang Mullins' elektronisch verzerrte Stimme über einen Lautsprecher.
Laura rappelte sich unbeholfen auf, wischte mit dem Ärmel über die feuchten Augen, zupfte die Schürze zurecht und ging, noch etwas zittrig, zur Sicherheitstüre. Die Wut wuchs mit jedem Schritt.
Draußen wurden ihre geweiteten Pupillen durch grelles Scheinwerferlicht geblendet und sie hielt sich schützend die Hand vor das Gesicht. Stimmen verstummten. Jemand hakte sich bei ihr ein und führte sie weiter zum nächsten Raum.
Plötzlich fühlte sie kaltes Metall zwischen ihren Fingern, das sie vage als kleinen Fleischerhammer identifizieren konnte.
»Keine Angst ...«, erklang dumpf Mullins' Stimme, als er die Türe öffnete, »... und jetzt geben Sie dem Bastard, was er verdient hat!«