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Quellennacht
Alles ist so ruhig hier und so dunkel. Bin ich tot? Mein Hinterkopf pocht rhythmisch und es erscheinen kleine Blitze auf meiner Netzhaut, wenn ich ihn zu schnell bewege. So lange ich Schmerz fühle, kann ich nicht tot sein.
Was ist passiert? Wir waren auf Peters Schiff, bis auf einmal der Sturm aufkam. Die Wellen waren höher als die Häuser in unserem Dorf und schlugen gegen das kleine Holzboot. Plötzlich stieß etwas gegen meinen Kopf und anscheinend fiel ich daraufhin ins Wasser. So tief kann das doch gar nicht sein. 20 Züge schaffe ich locker, bevor ich Luft holen muss.
Wie es wohl den Anderen geht? Der kleine John war das erste Mal mit uns auf See hinaus gefahren, er wird doch nicht...? Ach was, das ist Unsinn! John und den anderen geht es gut. Wahrscheinlich warten sie oben auf mich und starren wie die Ochsen ins Wasser, darauf wartend, dass ich auftauche. 4 Züge.
Erstmal muss ich hier rauskommen, wenn ich doch nur besser sehen könnte, und diese entsetzliche Kälte bringt mich schier um den Verstand. Es fühlt sich an wie damals, als wir im Winter Schlittschuh gefahren sind, der See unter uns einbrach und wir allesamt in das eiskalte Wasser fielen. Mein Vater hatte mich aus dem Wasser gezogen und nach Hause getragen, damit ich mich vor dem Kamin wärmen konnte. Woher wusste er eigentlich davon? Ich habe ihn nie danach gefragt, er war einfach da. Diesmal muss ich mich selber retten. Ich schaff das. 9 Züge.
Wenn nur der Druck auf meiner Lunge nicht wäre. Es fühlt sich an, als ob das Meer mich eigenhändig zerquetschen wolle. Ich darf nicht nachgeben! Wer sonst soll Lucas morgen zum Baseball bringen und wer der kleinen Emily ihre Gutenachtgeschichte erzählen? Ich muss es schaffen und ich werde es schaffen! Ein Zug nach dem Anderen, irgendwie werde ich schon wieder nach oben kommen. 14 Züge.
Bloß nicht nervös werden. Immer weiter. Im Grunde ist es wie damals, als wir bei den Wasserfällen tauchen waren, und Peter und Ich von der Strömung erfasst und nach unten gesogen wurden. Wir blieben so lange unter Wasser, dass die anderen bereits dachten, dass wir tot wären. Wir brachen jedoch kurze Zeit später mit hochroten Kopf und lachend aus den Fluten hervor. Verdammt, langsam muss ich doch auftauchen. 19 Züge.
Wie tief bin ich nach dem Sturz gesunken? Ich kann immer noch nicht die Wasseroberfläche erkennen. Was ist, wenn ich nicht mehr auftauche? Was ist, wenn ich nie wieder die frische Luft einatmen kann. Nie wieder Lucas und Emily in meinen Armen halten kann. Ich will noch einmal meine Frau sehen, ihr noch einmal sagen, dass ich sie liebe. Oh mein Gott. Ich glaube, ich schaffe es nicht. 25 Züge.
Wie lange kann ich noch dem Verlangen widerstehen den Mund aufzumachen und Luft zu holen? Meine Kleidung zieht mich hinunter, ich habe das Gefühl zu ersticken. Da, Ozean, nimm meine Jacke, ich brauche sie nicht mehr.
Nur einmal Luft holen. Nur einmal atmen. Eine Luftblase löst sich von meinen Lippen. Sie streift über mein Gesicht und schwebt hinter meinen Kopf hinweg. Mein Blick wird trübe.
Das Meer ist so ruhig heute Nacht und so dunkel.