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Quarz in Blech
Der Patient mit den roten Spielzeugautos sagt, sein Vater sei eine Zapfsäule gewesen. Ich versuche, mir den Zeugungsvorgang vorzustellen: Hysterische Oktane im Clinch mit der überrumpelten Eizelle, die gerade vom Einkaufen kommt. Kein Wunder, dass das Resultat Insasse einer Nervenklinik ist.
So wie ich.
Als promovierte Prominenz genieße ich Privilegien in diesem Institut: Frau Doktor Giraffe lädt zur persönlichen Sitzung zum Zwecke der Wiederherstellung meiner geistigen Gesundheit sowie zusätzlicher Evidenz für ihre Methoden. »Herr Doktor von Garfunke, bitte in Zimmer Nummero Eins, vielen Dank!«
Die warmstimmige Durchsage klingt, als sei ich hier der Arzt. Dabei bin ich das Opfer, das nunmehr auf Kommando durch den sonnigen Gang trottet, beobachtet von freundlichen Pflegern, die sich darüber freuen, dass sie mich nicht tragen müssen.
Der Fußboden ist mit rotem Musterteppich bedeckt, in die Wände sind auf Kniescheibenhöhe in regelmäßigen Abständen Quarze eingelassen, dazwischen Ornamente aus Kometen und Kanji. Ich komme an einer Batterie Orgonakkumulatorkammern vorbei; einer der ofengroßen Holzboxen entsteigt gerade ein Patient, der, vom freundlichen Pfleger nach seinem Befinden befragt, glasigen Auges »fühle mich schon viel besser« lallt, damit er keine weitere Stunde in die Kiste muss. Ja, so heilen Orgonstrahlen, ohne sich die Mühe geben zu müssen, in irgendeiner Form physikalisch mess- oder nachweisbar zu sein.
Ich stehe schließlich vor Raum Numero Eins – genau dies verkündet das polierte Messingschild – und muss aus irgendeinem Grund an Ratten denken. Während ich klopfe, nehme ich mir vor, etwaiges Nagegetier mit bloßen Händen zu erwürgen, Frau Giraffe aber nur argumentativ zu vernichten. Gewalt wäre die deutlich einfachere Lösung, aber ich bin kein Kerl, der Herausforderungen aus dem Weg geht.
»Hereinspaziert!«
Ich stürme in den Raum, lehne mich von innen an die gepolsterte Tür und würdige das geblümte Sofa keines Blickes. Den Raum beherrscht ein rosa Schreibtisch, auf dem Sandhäufchen in der Sonne glitzern. Über ihre Halbmondgläser hinweg blitzen noch heller die Augen der Frau Doktor, und mir fällt auf, dass sie deutlich intelligenter aussieht als ich ihr zugetraut habe. Sie ist gefährlich – gefährlicher als ein Schwarm hungriger Ratten. Sie hungert nicht nach meinem Fleisch, sie wird Säure auf meine Überzeugung spucken.
»Guten Tag, Herr Doktor von Garfunke«, wärmt mich ihre Stimme. »Nehmen Sie doch Platz.«
»Ich habe bereits einige Stunden in meiner Einzelzelle gesessen und ziehe es daher vor zu stehen.«
»Natürlich, Herr Doktor von Garfunke.« Giraffe streicht eine Strähne ihres braunen Haars zur Seite, dann liest sie von dem Pad vor ihr ab: »Sie leiden an einer Verstandesaufweichung, aufgrund derer Sie von Ihrer Arbeit freigestellt wurden.« Bedächtig nimmt sie die Brille ab, hält das Gestell in der Rechten und gestikuliert damit: »Nichts, das man nicht mit ein paar Orgonstrahlern in den Griff kriegen würde.«
»Frau, äh... Giraffe...«
Sie unterbricht: »Herr Doktor von Garfunke, würde es Ihnen etwas ausmachen, mich mit meinem Titel anzureden? Das wäre wirklich überaus respektvoll.«
»Ja, es macht mir etwas aus«, entfährt es mir. »Ein großes Magazin hat letztens berichtet, Ihr Doktortitel sei gekauft!«
Giraffe verzieht schmerzvoll das Gesicht. »Unter dem Verlagshaus verläuft eine gräääßliche Wasserader. Wussten Sie, dass die Redakteure permanent unter Kopfschmerzen leiden? Übrigens ist es ein Ehrendoktortitel...«
»Ja, verliehen von der Wirtschaftsuniversität auf Haiti.«
»Als Dank für die Orgonbestrahlung Verzweifelter nach dem Großen Beben. Ich habe den Menschen wieder Mut und Zuversicht gegeben.«
»Sie verteilten Schokoriegel in der Warteschlange vor Ihrem sinnlosen Strahler!«
»Es ist wirklich eine grotesk teuflische Wasserader. Vermutlich muss das ganze Verlagsgebäude abgerissen werden.«
Ich schnaufe. »Es geht nicht um Ihren Titel, es geht um Ihre Beziehungen zu Pharmaindustrie und Politik.«
»Als unabhängige Beraterin mit einschlägiger Expertise vermittle ich nebenberuflich zwischen beiden Seiten. Das war auch mal Ihr Job, bis Ihre Verstandesaufweichung die reguläre Ausübung verbot.«
Ich mache einen Schritt vorwärts. »Welchen Teil dieses Satzes soll ich zuerst in der Luft zerreißen?«
»Es ist eine Tatsache«, sagt Giraffe unbeeindruckt, »dass Sie Ihre Stellung als Vorsitzender des Instituts zur Beurteilung der Wirksamkeit medizinischer Maßnahmen nicht weiter ausüben können, wenn Ihr Verstand...«
Grob gehe ich dazwischen: »Meinem Verstand geht es hervorragend. Im Gegensatz zu jenem der Pharmabosse, die entdeckt haben, dass man mit Orgonstrahlern und ähnlichem Zeug viel mehr Geld machen kann als mit medizinisch mehr oder weniger wirksamen Zäpfchen, Pillen und Tropfen! Die Herstellung ist viel billiger, man kann Personal abbauen... das ist ekelerregend!«
»Sehen Sie?« Giraffe zeigt mit der eingeklappten Brille auf meinen Bauchnabel. »Es geht Ihnen nur um die Diffamierung einer Industrie, welche auf das Wohlergehen der Bevölkerung bedacht ist. Im Gegensatz zu Ihnen, der in praktisch allen Prüfberichten die Alternativmedizin als wirkungslos bezeichnet hat.«
»Weil sie es ist! Orgonstrahler sind nichts anderes als ein paar Quarze in einer Blechröhre!«
»Sollen wir ein paar Patienten dieses Hauses befragen?«, lächelt Frau Giraffe breit. »Wer heilt, hat Recht.«
Ich bohre mir mit dem Finger im Ohr herum, um diesen billigen Satz rauszukratzen. Habe ihn zu oft gehört. »Können Sie mir erklären«, versuche ich einen Flankenangriff, »warum Sie gleichzeitig meine behandelnde Ärztin und meine designierte Nachfolgerin sind?«
»Weil ich die beste für den Job bin«, zuckt Giraffe die Schultern. »Was dachten Sie? Dass ich mit dem Gesundheitsminister schlafe?«
»Fassen wir zusammen...« Ich bemühe mich, nicht an nackte Tatsachen zu denken. »Ich wurde als Leiter des Instituts unter einem billigen Vorwand abgesetzt, damit die Pharmaindustrie ungestört wirkungslosen Quarz in Blech als von den Krankenkassen geförderte Medizinprodukte verticken kann.«
»Natürlich nicht!«, erschrickt Frau Giraffe. »Das wäre ja eine bösartige Intrige. Sie wurden lediglich Ihres Postens enthoben, weil Ihre unglückselige Krankheit Ihre Urteilsfähigkeit einschränkt.«
Sie windet sich wie ein Schwarm Ratten, der von einer altersschwachen Katze aufgemischt wird. Sie bietet keinen Angriffspunkt. Langsam frage ich mich, warm ich überhaupt Hoffnung in dieses Gespräch gesetzt habe. Ich benötige eine neue Strategie. Vielleicht ist Gewalt doch eine Lösung. Eine... Schrotflinte vielleicht?
Ärgerlicherweise bin ich Pazifist. »Ist die Sitzung nicht langsam beendet? Ich bin sicher, Sie haben noch wichtige Termine. Mit Politikern oder Industrievertreten. Oder Sie müssen noch ein wirkungsloses neues Präparat durchwinken. Vielleicht Liebesbalsam auf Basis von verdünntem Rattenkot?«
»Sie können jederzeit zurück in Ihr Zimmer gehen«, zeigt Frau Giraffe auf die Tür. »Nur die Station können Sie nicht verlassen. Wir haben zwar keine Gitterstäbe, aber Panzerglas.«
»Wie lange wollen Sie mich hier festhalten?«
Giraffe setzt ihre Brille auf und bedient ihr Pad. »Üblicherweise dauert eine Behandlung bis zur Heilung.«
Ich balle eine Faust. »Orgonstrahler können mich nicht von einer Krankheit heilen, die ich nichtmal habe!«
»Das werden wir ja sehen«, ruft Giraffe mir hinterher, während ich zur Tür hinausrausche.
Irgendwo auf dem Gang zwischen den Orgonakkumulatorkammern, aus deren Innerem leise Kratzgeräusche dringen, und dem Mann mit den roten Spielzeugautos bleibe ich stehen, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand geprallt.
Es ist die Wand der Erkenntnis. Aufgemalt die teuflische Zwickmühle: Entweder lasse ich mich von Frau Giraffes Quarz im Blech heilen – und gestehe der Orgonstrahlung damit Existenz und Wirkung zu.
Oder ich bleibe hier und spiele mit roten Autos. Mit Modellen der schwarzen und roten Nobelflitzer, in denen draußen, auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe, Politiker und Pharmabosse vor alles versprechenden Plakatwänden spazierenfahren; betankt aus den Geldbörsen der menschlichen Zapfsäulen, die auf Glück und Heilung hoffen.
Und nur Lügen bekommen.
Thema des Monats März 2010: Was mich aufregt.
Inspiriert durch den Artikel »Operation Hippokrates« über die Absetzung des Medizinprüfers Sawicki durch die Schwarzgelbe Regierung, SPIEGEL 11/2010, Seite 82.