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Qual der Angst

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09.08.2002
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Qual der Angst

Qualen der Angst

Ist er wach oder schläft er? Stefan ist sich nicht sicher, ob es qualvolle Träume oder peinigende Gedanken sind, die ihn heute Nacht heim suchen. Er befindet sich wohl in einer Art Vorraum, einem Vorraum zum eigentlichen Schlaf, der die reale Welt mit der Traumwelt zusammenbringt und dessen Durchschreiten uns auf eine harte Probe stellt. Denn gnadenlos werden wir hier mit unseren geheimen Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten konfrontiert, aber auch teilweise mit uns völlig fremden Traumbildern, die keinerlei Beziehung zu unserem realen Leben haben. Wir können uns niemals sicher sein, welche dieser konfrontierenden Begegnungen im Vorraum uns auch im realen Leben beschäftigen sollten, weil sie etwas über uns selbst verraten und welche Bilder wir schnell vergessen können, weil sie absurdes Theater sind. Ein Entkommen vor dieser Unklarheit gibt es nicht. Eine Flucht in die Traumwelt oder in die reale Welt ist nicht möglich. Und somit können die uns ängstigenden und verwirrenden Begegnungen und Bilder weder durch ablenkende Gedanken verdrängt noch durch harmonische Träume versüßt werden.

"Nein, nein, es ist nicht wahr", schreit Stefan immer wieder und wälzt sich fortwährend in seinem Bett hin und her. Er ist nass geschwitzt, hat gar womöglich Fieber. "Es war doch nur eine Berührung, eine kurze Berührung", flüstert er dann vor sich hin, verzweifelt, aber auch beschwörend, als wolle er sich selbst beruhigen. Doch es hämmert immer noch in seinem Kopf und hört nicht auf weh zu tun, dieses eine verfluchte Wort. Es verfolgt ihn, droht ihm. Er kann nicht fliehen, es gibt kein Entkommen. Und Stefan glaubt zu wissen, dass es nicht die Berührung selbst war, die ihm Angst macht, Angst vor sich selbst, vor den Eltern, Arbeitskollegen und Freunden. Sondern es ist die Empfindung, die er bei jener Berührung verspürte, die ihn ängstigt. Doch gab es diese Empfindung in der realen Welt? Gab es überhaupt diese Berührung? Vielleicht sind es nur Traumbilder die vor ihm auftauchen. Aber diese Empfindung schwebt so deutlich vor ihm. Er kann sie jetzt fast atmen.

Eine nie gekannte Wärme stieg während jener Berührung in ihm auf und gleichzeitig hatte er Schwierigkeiten Luft zu bekommen. Doch fühlte er sich keinesfalls unbehaglich in jenem Augenblick, sondern geborgen und aufgehoben, ähnlich dem Gefühl am Strand von Cassis, als er sich sicher war, dass das Meer nur zu ihm sprach, ganz allein zu ihm.
Dieses Gefühl der Geborgenheit jedoch, welches er bei der Berührung verspürte sowie die Schönheit des Moments will er jetzt nicht mehr wahr haben.
Es hört nicht auf in seinem Kopf zu hämmern, dieses eine Wort. Stefan schlägt im Halbschlaf wild um sich. Die Qualen der Angst schmerzen. Doch er wehrt sich, wehrt sich derartig, bis er schließlich doch wieder vollkommen in der realen Welt angekommen ist. Er wacht auf.

Völlig irritiert und entkräftet richtet sich Stefan von seinem Bett auf, um das Licht anzumachen. Im selben Moment klopft es an seiner Zimmertür.
"Ja?"
Sein Vater, ein hagerer, leiser, etwas unscheinbarer Mann tritt ins Zimmer. Er wirkt besorgt. Sein Gesichtsausdruck drückt jedoch gleichzeitig eine immense Hilflosigkeit aus.
"Alles o.k. bei dir, Stefan? Ich habe so komische Geräusche aus deinem Zimmer gehört".
"Ja, alles in Ordnung. Habe nur schlecht geträumt", antwortet Stefan. Doch in Wahrheit ist gar nichts in Ordnung. Überhaupt nicht. Und eigentlich will Stefan, dass sein Vater weiter nachfragt, nachbohrt, bis er schließlich unter der Last der Fragen seines Vaters zusammenbrechen und alles rauslassen muss: die Verwirrungen und Ängste. Sein Vater soll ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass alles in Ordnung kommt und er keine Angst haben muss. So wie früher, als Stefan Angst vor schrecklichen Monstern unter seinem Bett hatte und sein Vater ihn beschützte, ihm die Angst nahm.
'Nimm mich doch einfach in den Arm, denkt Stefan, und sag, dass du mich lieb hast, immer lieben wirst, egal was passiert, egal was mit mir passiert'.
Doch Stefan sagt nichts und sein Vater fragt nicht nach, nimmt ihn nicht in den Arm. Stefan befürchtet, sein Vater ahne etwas, weiß es viellicht sogar, weiß vielleicht mehr als Stefan, doch will es nicht wahr haben. Womöglich hat er selbst Angst.

Als der Vater gerade wieder Stefans Zimmer verlassen will, dreht er sich noch mal um.
"Hast heute übrigens ein gutes Spiel verpasst, Stefan. Die Bayern haben wirklich grandios gespielt".
Stefan lächelt wohlwollend. Doch es fällt ihm schwer. Er muss sich dazu zwingen.
"Wir sollten mal wieder ins Stadion gehen, so wie früher", meint der Vater.
Stefan stößt einen tiefen Seufzer aus. Er versucht noch überzeugender zu lächeln.
"Ist gut, Papa", sagt er.
Stefan hätte ihm statt dessen gerne erzählt, dass er sich schon seit mehr als drei Jahren überhaupt nicht mehr für Fußball interessiert und sich seitdem auch kein Spiel mehr im Fernsehen angeschaut hat. Die Dinge haben sich verändert. Er hat sich verändert.
"Papa?"
"Ja, mein Sohn?"
"Glaubst du, ich werde mal heiraten und eine Familie haben?"
"Natürlich", und er sagt es aus voller Überzeugung, so als ob es keine andere Alternative gäbe.
"Was ist, wenn nicht? Was ist, wenn ich keine Frau treffe, die ich lieben kann? Was dann?"
Stefans Vater wendet seinen Blick von seinem Sohn und schaut auf ein Poster an der Wand, das die Gruppe Depeche Mode zeigt und dessen obere rechte Hälfte nicht mehr an der Wand klebt, sondern herunterhängt. Der Vater geht die zwei Schritte bis zur Wand und streift mit seiner Hand über das Poster, über die rechte obere Hälfte, als würde das Poster allein dadurch wieder normal an der Wand haften bleiben.
"Das Tesafilm klebt hier nicht mehr. Du brauchst einen neuen Streifen Tesafilm. Hast du noch welches?"
Stefan spürt einen starken Drang in sich aufsteigen, zu seinem Vater hinüberzugehen, das Poster vollständig von der Wand zu reißen und ihn anzuschreien; einfach nur anzuschreien. Wobei er ihn zwingen würde, ihm in die Augen zu schauen.
Sein Vater schaut ihn nicht an, blickt geistesabwesend auf das Poster.
"Papa?" Stefan wartet auf eine Antwort. Obgleich er weiß, was sein Vater antworten wird, gibt es doch schon seit einiger Zeit zwischen ihnen keine Überraschungen mehr. Ein festes Korsett zwängt ihre Gespräche in vorgeformte Bahnen.
"Mach dir mal keine Sorgen, du findest schon eine passende Frau. Ich habe deine Mutter auch erst mit 28 kennen gelernt. So, und jetzt versuch' zu schlafen".
"Gute Nacht, Vater".
"Nacht, Stefan".
Als sein Vater die Tür schließt, macht Stefan das Licht aus. Doch er lässt seine Augen offen. Das Wort hämmert und poltert erneut in seinem Kopf. Diemal befindet er sich aber eindeutig in der realen Welt. Seine Angst ist real. In immer schnelleren Abständen taucht es jetzt wieder auf, dieses eine beängstigende Wort: SCHWUL. Für Stefan klingt es widerwärtig und abstoßend. Er hat das Gefühl sich übergeben zu müssen.

 

:-) Schön! Irgendwann begann ich schon zu ahnen, was dieses Wort war...
Den ersten Abschnitt finde ich etwas trocken und sachlich, der hätte meiner Meinung nach ruhig kürzer ausfallen können.

 

Morgen PeterPan,

sehr einfühlsam geschriebener und flüssig zu lesender Text! :)

Ein paar Fragen hätte ich: In welcher Altersklasse hast du Stefan angesiedelt? Er muss sehr jung sein, wenn ihn seine Homosexualität in diesem Ausmaß beängstigt und sehr konservativ erzogen worden sein. Du schreibst ja, dass das Wort „schwul“ für ihn widerwärtig klingt. Er hatte ein schönes Erlebnis – das entnehme ich dem Text – und verdrängt es, warum tut er sich so schwer, dieses als „schön“ zu akzeptieren? Warum empfindet er Abscheu? Das würde ich noch in den Text einarbeiten.

Grüße!

 

Lieber Peter Pan !

Mir gefiel deine Geschichte wirklich gut. Weil sie die eigentliche Sprachlosigkeit zwischen den Menschen, vor allem aber zwischen Eltern und Kindern sehr gut hervorbringt.

Es ist da dieses Gefühl, welches den Jungen, oder auch jungen Mann, bedrängt - aber er kann nicht darüber sprechen. Er hat nicht Angst vor den anderen Menschen und deren Reaktionen, er möchte über seine verwirrenden und ängstlichen Gefühle sprechen - aber er hat nie gelernt wie das geht.
Er möchte in den Arm genommen werden um sich trotz dem Schwul sein angenommen zu fühlen, hofft auf das bereits vorhandene Wissen des Vaters der aber seinerseits gehemmt ist, kann mit Gefühlen nicht umgehen.
Sie führen zwar ein Gespräch, aber es umrundet den Inhalt. Es hat keinen Wert, ist nur ein Alibigespräch. Du kannst fast wahllos seelische Probleme aus der Gefühlswelt von Jugendlichen nehmen und sie statt dem Schwulsein einsetzen.
Das eigentliche Problem ist, wenn junge Menschen nicht erfahren durften, dass man über ALLES reden kann - ohne Ausnahme, ohne Zensur.

Das hast du, finde ich, sehr gut vermittelt, vielleicht ist es auch nur meine Interpretation.

Lieben Gruß schnee.eule

 
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Hallo Peter Pan,

ein gutes Thema - und ein nachvollziehbar beschriebene Angst.

Was mir nicht so gut gefallen hat ist der erste Absatz - sehr distanziert und eine eigenartige perspektive, denn im Rest der Geschichte wird ja aus Stefans Sicht geschrieben. Hier am Anfang aber scheint ein "Erzähler" alggemeingültige Gedanken zu verbreiten. Das passt mE nicht so wirklich gut zusammen. Ich würde versuchen auch den ersten Absatz mit in Stefans eigene Gedankenwelt einzubinden und die Geschichet durchgängig aus seiner Perspektive zu erzählen.

Ich denke es kommt klar genug rüber, warum er sich vor dem Wort "schwul" bzw. einfach vor der Andersartigkeit ekelt - die Beziehung zum Vater und damit das enge Familienbild ist sehr eindrücklich und gut beschrieben. Was ich noch ein wenig vermisse oder was mir vielleicht noch ein bisschen besser gefallen würde, wenn dieser Kontrast zwiwchen dem schönen Gefühl der Berührung und der Angst vor dem was dieses schöne Gefühl bedeutet besser herausgearbeitet wäre. Die Ansgt ist wirklich sehr plastisch und fühlbar dargestellt - bei der Beschreibung des schönen Gefühls wird es dann wieder eher algemein und distanziert. Dadruch kommt meines Erachtens der Zwiespalt der Gefühle nichts so gut raus wie es sein könnte.

Ach ja - und nicht falsch verstehen. Mir hat die Geschichte gut gefallen!!

Lieben Gruß
Kay

PS: Was mir gerade noch einfällt: ich würde dringend den Titel ändern! Viel zu meldodramatisch, passt gar nicht zum Stil der Geschichte. :)

 

Hallo ihr Lieben,

vielen Dank für eure überwiegend positiven Reaktionen auf meine Geschichte.

Für die Geschichte hatte ich bewußt drei Abschnitte geplant, wobei mir schon im Vorfeld klar war, dass der erste nicht so gut ankommt.
Rebeccca, du hast Recht, wenn du findest, dass er zu lang ist und etwas trocken.
Dass er aber nicht hinein passt, ist Ansichtssache, Kay. Dass ein bestimmter Abschnitt in einer Geschichte einen anderen Stil und eine andere Erzählperspektive hat, ist zunächst einmal kein Verbrechen. Gerade den Kontrast fande ich hier interessant. Aber das ist natürlich Geschmackssache.

Liebe Liz, ich dachte daran dass Stefan in etwa 18 ist, obgleich das genaue Alter keine wirkliche Rolle spielt. Mir ging es bei der Geschichte um die Angst selbst. Dass er diese Angst hat, ergibt sich meiner Meinung nach aus unseren gesellschaftlichen Verhältnissen. Wir sind immer noch weit davon entfernt, Homosexualität als "normal" zu empfinden. Ich ertappe mich sogar manchmal selbst - als absolut aufgeschlossene Person -, wie ich im Inneren blöde Vorurteile pflege. Dann kann ich mich selbst nicht ausstehen. Auch deshalb habe ich diese Geschichte geschrieben. Die Sprachlosigkeit des Vaters sollte einen Eindruck davon geben.

Schnee.eule, du hast absolut Recht, dass die Homosexualität nur ein Beispiel unter vielen ist, um die leider oft nicht vorhandene Kommunikation in Familien zu schildern. Danke für deine schönen Worte.

Ich wünsche euch einen sonnigen Tag und kreatives Schaffen

Liebe Grüße

PP

 

Astrein!!

Homosexualität, Drogensucht, psychische Erkrankungen, alles Tabuthemen, alle entstanden durch fest
verankerte gesellschaftliche Normen, dämlichen kleinbürgerlichen Spielregeln.

Kam sehr gut rüber was du da schriebst und wie du die inneren Leiden von Stefan ansprachst.

liebe grüsse Archetyp

 

Hallo PeterPan!

Mir gefällt Deine Geschichte auch sehr gut. :)

Das von Dir beschriebene Gefühl, jemandem etwas sagen zu wollen, es aber nicht rauszubringen, und zu hoffen, daß einem der andere durch gezielte Fragen alles rausquetscht, was man loswerden möchte, hast Du für mein Empfinden sehr gut rübergebracht. Ich kenne dieses Gefühl, diese Angst sehr gut.

Gerade bei solchen immer-noch-Tabuthemen ist das natürlich noch weit schwieriger, als wenn es um "normale" Probleme, Ängste oder Sorgen geht.

Was Du auch gut zeigst, ist, wie sich der Vater zwar interessiert an seinem Sohn gibt, es aber nur oberflächlich ist und die Veränderungen seines Sohnes gar nicht mitbekommt. Das Beispiel mit dem Poster hat mir sehr gut gefallen! :thumbsup:

Wobei mir nicht ganz klar ist, was das Problem Deines Protagonisten ist. Einerseits scheint es, als könnte er seinem Vater nicht sagen, daß er schwul ist oder glaubt, es zu sein. Andererseits wirkt es beim Schlußsatz ganz anders... Aber das kann natürlich grad sein Problem sein: Daß er fühlt, er ist schwul, und es aber abstoßend findet, weil er es so gelernt hat. - Hab ich es jetzt richtig verstanden? ;)

Ein paar kleine Anmerkungen hab ich noch:

»die ihn heute Nacht heim suchen.«
- heimsuchen (zusammen)

»Er ist nass geschwitzt, hat gar womöglich Fieber.«
- würde entweder „hat womöglich Fieber“ oder „hat vielleicht gar Fieber“ schreiben, „gar womöglich“ klingt komisch

»Und Stefan glaubt zu wissen, dass ...«
- wie wärs mit „Stefan ahnt“?

»Doch fühlte er sich keinesfalls unbehaglich in jenem Augenblick, sondern geborgen und aufgehoben, ...«
- würde den ersten Teil umstellen: Doch er fühlte sich in jenem Augenblick keinesfalls unbehaglich, ...

»Es hört nicht auf in seinem Kopf zu hämmern, dieses eine Wort.«
- hier würd ich ebenfalls umstellen: Dieses eine Wort hört nicht auf, in seinem Kopf zu hämmern.

Von »die Verwirrungen und Ängste. Sein Vater ...« bis »ihm die Angst nahm.« hast Du eine leichte Häufung des Wortes „Angst“ – vielleicht hast Du eine Idee, sie zu dezimieren?

»Stefan befürchtet, sein Vater ahne etwas, weiß es viellicht sogar, weiß vielleicht mehr als Stefan, doch will es nicht wahr haben.«
- vielleicht
- da Du den Satz davor mit „Doch“ beginnst, wiederholt es sich hier – vielleicht kannst Du eins beseitigen, eventuell auch eins der beiden „vielleicht“?

»Als der Vater gerade wieder Stefans Zimmer verlassen will, dreht er sich noch mal um.«
- würde „dreht er sich noch einmal um“ schreiben

»Stefan lächelt wohlwollend. Doch es fällt ihm schwer. Er muss sich dazu zwingen.«
- hier ist nochmal ein „Doch“, kurz nach den anderen beiden. Vorschlag: Stefan lächelt wohlwollend, es fällt ihm schwer. Er muss sich dazu zwingen.

»"Das Tesafilm klebt hier nicht mehr. Du brauchst einen neuen Streifen Tesafilm.«
- ich finde es unglücklich, in Geschichten Markennamen für Dinge zu verwenden, die selbst einen Namen haben: Klebeband – Vorschlag: Das Klebeband hält hier nicht mehr. Du brauchst einen neuen Streifen.

»"Gute Nacht, Vater".
"Nacht, Stefan".«
- Vater.“


Trotz der Aufzählung habe ich Deine Geschichte aber sehr gerne gelesen! :)

Alles liebe,
Susi

 

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