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05.11.2012
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Immanuel Reinschlüssel - Puzzle

Ich kann mich noch an die Gesichter der Kindergärtnerinnen erinnern, wenn ich vor dem Puzzleregal auf dem Boden saß und die grauen und bunten Plättchen auf dem Tisch verteilte. Ich solle nicht immer das 500-Teile-Puzzle nehmen, sondern mit den kleinen beginnen. Ich solle alle Plättchen mit der bunten Seite nach oben drehen, bevor ich anfange. Ich solle zuerst den Rahmen zusammenbauen, dann würde ich mir leichter tun. Ich solle das Puzzle gemeinsam mit den anderen Kindern lösen, dann hätte ich mehr Spaß dabei.
Ich nahm immer das 500-Teile-Puzzle. Ich überließ es dem Zufall, auf welcher Seite die Plättchen auf dem Tisch lagen. Ich begann nie mit dem Rahmen sondern mit dem Stück, das mir zuerst in die Hand fiel. Ich fragte nie eines der anderen Kinder, ob es das Puzzle mit mir lösen möchte und verscheuchte die, die mit ihren klebrigen Fingern nach meinen bunten Plättchen griffen.
Das 500-Teile-Puzzle löste ich nie, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, habe ich in all den Jahren nicht einmal zwei passende Teile gefunden. Oft war ich nah dran, spürte förmlich, dass bald ein Zahn in ein Loch gleiten würde, das nur für diesen einen Zahn, nur für dieses Gegenstück gemacht wurde. Doch immer kamen meine Mutter und mein Vater, packten meine Brotbox und meine Jacke unter den Arm und brachten mich nach Hause, in ein Puzzlefreies Haus, wie ich erwähnen möchte. Und wenn ich am nächsten Tag in den Kindergarten kam, waren alle 500 Teile wieder in ihrer Schachtel und ich begann von vorne.
Die Kindergärtnerinnen erklärten mir wieder, wie ich das Puzzle lösen solle und ich ignorierte sie wie schon an den Tagen zuvor. Irgendwann gaben sie auf und ließen mich einfach machen. Ich würde schon irgendwann aufhören, denn es würde mir bestimmt bald keinen Spaß mehr machen. Es machte mir immer Spaß, bis zum letzten Tag, dem Tag, an dem ich meine Brotbox gegen eine Spitze Tüte mit Süßigkeiten eintauschte. Es machte mir so viel Spaß, dass ich mir nicht sicher bin, ob es nicht vielleicht die schönste Zeit in meinem Leben war.
In der Schule gab es keine Puzzles, auch nicht in der größeren, in die sie mich irgendwann brachten und in der es weniger bunte Bücher, dafür aber mehr Sprachen und Worte gab. Ich dachte auch nicht mehr an die kleinen Plättchen, als mich das Erwachsenenleben in seine zitternden Arme nahm. Bis ich das Pärchen vor der Uni belauschte, eher zufällt als gewollt. „Ich weiß nicht, wie manche Menschen so leben können“, sagte der junge Mann, der viel zu alt für sein pausbäckiges Kindergesicht wirkte. „Wie kann man nur durchs Leben gehen ohne einen Plan zu haben? Zuerst muss man den Rahmen schaffen, sonst macht doch alles keinen Sinn. Wo ist denn ansonsten die Sicherheit, an was kann man sich denn sonst halten?“ Als ich ihn mir genauer anschaute, bemerkte ich erst den stumpfen Ausdruck in seinen kleinen Augen. Es waren die gleichen Augen, die mir im Kindergarten die Decke übers Gesicht zogen, wenn die Zeit für den Mittagsschlaf gekommen war. Es waren die gleichen Augen, die mir aus einem großen Topf lustlos einen braunen Gemüsebrei auf den Teller klatschten. Es waren die gleichen Augen, die sogar Regeln für Puzzles kannten.

In diesem Moment bemerkte ich, dass ich nie aufgehört hatte, Puzzles zu machen, dass ich ein einziges großes Puzzle spielte, jeden Tag aufs Neue. Ein Puzzle aus 6 Milliarden Teilen, von denen viele mit dem Gesicht nach unten liegen, der Zufall wollte es so. Ich drehe sie nicht erst alle nach oben. Ich habe nie jemanden gefragt, ob er mir bei dem Spiel helfen möchte. Ich habe nie zuerst nach dem Rahmen gesucht. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich wirklich ein Stück gefunden hätte, das passt, dass bald eine Hand in eine andere gleiten würde, die nur für diese eine Hand, nur für dieses Gegenstück gemacht wurde, nur, um im letzten Moment zu merken, dass ich mich doch geirrt hatte. Es macht mir immer noch Spaß. So viel Spaß, dass ich mir nicht sicher bin, ob es nicht vielleicht das schönste Spiel überhaupt ist.

 

Hallo,

die Geschichte ist sehr schön.
Mir fehlt ein Bruch.
Da wo er das junge Pärchen belauscht, hätte ich mir einen Bruch gewünscht, statt dessen wird in der Geschichte die Figur nur bestätigt, das heißt, es fehlt der Figur ein Konflikt.
Dadurch hat der Text mehr von einem Kodex als von einer Geschichte.
Dass der junge Mann ausgerechnet auch noch sagt: "Es fehlt ein Rahmen"; fand ich ein bisschen konstruiert.

Die Sprache in dem Text ist sehr schön, ich hab das gerne gelesen, mir aber auch erhofft, dass es "los geht", dass der Erzähler mit seiner Idee von den Puzzlen aus dem Tritt gebracht wird und das irgendwas in Unordnung gerät, dass die Geschichte anfängt. In einer Geschichte gibt es eigentlich immer einen Moment, in dem etwas aus dem Gleichgewicht gebracht wird, ein Moment, in dem ein Felsen nach oben gerollt wird und potentielle Energie bekommt - oder was für einen Vergleich man da auch wählen will.
In deiner Geschichte ist das nicht so. In deiner Geschichte ist es ein Lebensentwurf, der dem vermeintlichen Lebensentwurf von "anderen" entgegengesetzt und indirekt als überlegen dargestellt wird (zumindest als individueller). Fertig. Das ist die Geschichte.
Freu mich aber auf jeden Fall auf mehr von dir. Die Sprache gefällt mir gut.

Gruß
Quinn

 

Hallo immanuel
Und willkommen auf kg.de

Auch ich fand deine Geschichte schön. Hier passt das Wort mal, denn letztlich verläuft ja alles in schönen bahnen. Obwohl du hier natürlich schon gesellschaftskritik anbringst, gehört er Text für mich zu den wohlfülgeschichten. So eineArt Bestãtigung, dass man besser dran ist, wenn man anders ist (obwohl das natürlich alle für sich beanspruchen, das Anderssein). Das Leiden des Prots ist ja nur zwischen den Zeilen wahrzunehmen, was mit der glücklicherweise sehr dezenten Kritik (kam bei mir spöttisch augenzwinkernd an) das groß Plus des Textes ist. DasManko sehe ich wie Quinn in dem fehlenden Bruch. Das ist eine Spur zu glatt, das Ganze. Das mit dem Rahmen im belausxhten Gespräch geht für mich einfaches Gemüt durch. ;)
In jedem Fall macht der Text neugierig auf mehr.
Am besten mal umlesen hier und selbst als Leserund Kritiker einbringen.

Grüßlichst
Weltenläufer

 

Hallo ihr beiden,
erst mal danke für die Begrüßung, ich freue mich jetzt schon, dass ich mich angemeldet habe! Eure Kritik und euer Lob nehme ich mir zu Herzen und bin sehr erfreut, wie konstruktiv das ausgefallen ist. Klasse, wirklich!
Das mit dem fehlenden Bruch stimmt auf jeden Fall und ist auch eigentlich gar nciht so meine Art, lustigerweise ist mir das selbst gar nicht aufgefallen beim Schreiben. Aber ihr habt beide recht, dass ich selbst auch eine Entwicklung, einen Twist oder wie man es halt nennen mag in Geschichten sehr begrüße.
Ich werde mich gerne aktiv einbringen, sowohl als "Einsteller" als auch als "Kritiker".
Beste Grüße,
Immanuel

 

Was kann man Konstruktives sagen? Mir ist der Erzähler sehr sympathisch. Die Stimme und seine Ansichten. Es fühlt sich nicht an wie eine richtige Geschichte, finde ich. Dafür ist mir zu wenig Dynamik und Entwicklung drin. Das geht alles so glatt auf. Macht aber nichts, ich mag den Text trotzdem. Er ist gut geschrieben, es gibt einen Haufen Symbolik und so, obwohl der Text so kurz ist, das ist irgendwie sehr abgeklärt geschrieben.

Ich fragte nie eines der anderen Kinder, ob es das Puzzle mit mir lösen möchte und verscheuchte die, die mit ihren klebrigen Fingern nach meinen bunten Plättchen griffen.
Ich mag solche Stellen. Da ist was Sinnliches drin. Das ist die Rettung für mich bzw. für den Text. Hättest du diese paar Stellen nicht drin (Das mit dem Gemüsebrei auch) dann hätte der Text mich nicht erreicht.
Ja, wenn du das Niveau in längeren Texten auch halten kannst, würde ich mich sehr freuen. Jedenfalls guter Einstieg.


Lollek

 

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