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Puzzle
Immanuel Reinschlüssel - Puzzle
Ich kann mich noch an die Gesichter der Kindergärtnerinnen erinnern, wenn ich vor dem Puzzleregal auf dem Boden saß und die grauen und bunten Plättchen auf dem Tisch verteilte. Ich solle nicht immer das 500-Teile-Puzzle nehmen, sondern mit den kleinen beginnen. Ich solle alle Plättchen mit der bunten Seite nach oben drehen, bevor ich anfange. Ich solle zuerst den Rahmen zusammenbauen, dann würde ich mir leichter tun. Ich solle das Puzzle gemeinsam mit den anderen Kindern lösen, dann hätte ich mehr Spaß dabei.
Ich nahm immer das 500-Teile-Puzzle. Ich überließ es dem Zufall, auf welcher Seite die Plättchen auf dem Tisch lagen. Ich begann nie mit dem Rahmen sondern mit dem Stück, das mir zuerst in die Hand fiel. Ich fragte nie eines der anderen Kinder, ob es das Puzzle mit mir lösen möchte und verscheuchte die, die mit ihren klebrigen Fingern nach meinen bunten Plättchen griffen.
Das 500-Teile-Puzzle löste ich nie, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, habe ich in all den Jahren nicht einmal zwei passende Teile gefunden. Oft war ich nah dran, spürte förmlich, dass bald ein Zahn in ein Loch gleiten würde, das nur für diesen einen Zahn, nur für dieses Gegenstück gemacht wurde. Doch immer kamen meine Mutter und mein Vater, packten meine Brotbox und meine Jacke unter den Arm und brachten mich nach Hause, in ein Puzzlefreies Haus, wie ich erwähnen möchte. Und wenn ich am nächsten Tag in den Kindergarten kam, waren alle 500 Teile wieder in ihrer Schachtel und ich begann von vorne.
Die Kindergärtnerinnen erklärten mir wieder, wie ich das Puzzle lösen solle und ich ignorierte sie wie schon an den Tagen zuvor. Irgendwann gaben sie auf und ließen mich einfach machen. Ich würde schon irgendwann aufhören, denn es würde mir bestimmt bald keinen Spaß mehr machen. Es machte mir immer Spaß, bis zum letzten Tag, dem Tag, an dem ich meine Brotbox gegen eine Spitze Tüte mit Süßigkeiten eintauschte. Es machte mir so viel Spaß, dass ich mir nicht sicher bin, ob es nicht vielleicht die schönste Zeit in meinem Leben war.
In der Schule gab es keine Puzzles, auch nicht in der größeren, in die sie mich irgendwann brachten und in der es weniger bunte Bücher, dafür aber mehr Sprachen und Worte gab. Ich dachte auch nicht mehr an die kleinen Plättchen, als mich das Erwachsenenleben in seine zitternden Arme nahm. Bis ich das Pärchen vor der Uni belauschte, eher zufällt als gewollt. „Ich weiß nicht, wie manche Menschen so leben können“, sagte der junge Mann, der viel zu alt für sein pausbäckiges Kindergesicht wirkte. „Wie kann man nur durchs Leben gehen ohne einen Plan zu haben? Zuerst muss man den Rahmen schaffen, sonst macht doch alles keinen Sinn. Wo ist denn ansonsten die Sicherheit, an was kann man sich denn sonst halten?“ Als ich ihn mir genauer anschaute, bemerkte ich erst den stumpfen Ausdruck in seinen kleinen Augen. Es waren die gleichen Augen, die mir im Kindergarten die Decke übers Gesicht zogen, wenn die Zeit für den Mittagsschlaf gekommen war. Es waren die gleichen Augen, die mir aus einem großen Topf lustlos einen braunen Gemüsebrei auf den Teller klatschten. Es waren die gleichen Augen, die sogar Regeln für Puzzles kannten.
In diesem Moment bemerkte ich, dass ich nie aufgehört hatte, Puzzles zu machen, dass ich ein einziges großes Puzzle spielte, jeden Tag aufs Neue. Ein Puzzle aus 6 Milliarden Teilen, von denen viele mit dem Gesicht nach unten liegen, der Zufall wollte es so. Ich drehe sie nicht erst alle nach oben. Ich habe nie jemanden gefragt, ob er mir bei dem Spiel helfen möchte. Ich habe nie zuerst nach dem Rahmen gesucht. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich wirklich ein Stück gefunden hätte, das passt, dass bald eine Hand in eine andere gleiten würde, die nur für diese eine Hand, nur für dieses Gegenstück gemacht wurde, nur, um im letzten Moment zu merken, dass ich mich doch geirrt hatte. Es macht mir immer noch Spaß. So viel Spaß, dass ich mir nicht sicher bin, ob es nicht vielleicht das schönste Spiel überhaupt ist.