Putzzwang
Mein Hang zur Ordnung entwickelte sich im Jugendalter. Vorher war ich ein unordentliches, chaotisches und dreckiges Mädchen. Ich hatte überall meine Kleidung liegen lassen, der Müll türmte sich neben meinem Schreibtisch und es hing ein muffiger Geruch in meinem Zimmer. Staub gesaugt hatte ich nur alle zwei Monate und ich führte mehr als eine Diskussion mit meinen Eltern über meine Unordentlichkeit. Doch mit der beginnenden Pubertät änderte sich dies plötzlich. Tief in meinem Inneren fühlte ich auf einmal eine Unruhe, die sich nur noch durch Ordnung und Sauberkeit besänftigen ließ. Es wurde für mich zu einer Selbstverständlichkeit, dass ich in meinem Zimmer fast täglich staubsaugte, das Fenster putze und alles mit einem Staubtuch abwischte. Zu Anfang reichte dies noch. Doch mit der Zeit musste ich immer mehr Ordnung in mein Leben bringen. Man konnte es mit einem Drogensüchtigen vergleichen, der immer mehr von seinem Stoff brauchte, um High zu werden. Genauso erging es mir.
Damals begann ich meine Kleidung nach Art des Kleidungsstückes und der Farbe zu sortieren und räumte alles systematisch in meinen Kleiderschrank. Meine Bücher ordnete ich nach Größe und Farbe an, Poster hingen bei mir nur in Reih und Glied und meine Bettwäsche wechselte ich täglich. Das erste Mal, dass meine Mutter misstrauisch meinem Verhalten gegenüber wurde, war, als sich mein Dusch-Rhythmus von alle drei Tage auf zwei Mal am Tag steigerte. Es folgte das erste Gespräch mit ihr über meinen Zwang. Mir war bis dato noch gar nicht aufgefallen, wie sehr ich mich verändert hatte und ich wollte es auch nicht einsehen. Im Laufe des Gespräches wurde ich immer wütender über die Anschuldigungen meiner Mutter und ich beschimpfte sie, zertrümmerte eine Vase und flüchtete in das Arbeitszimmer meines Vaters.
Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, fing ich an seine Papiere zu sichten und akribisch wegzuheften. Ich sortierte seine Schubladen, räumte die Arbeitsplatte vom Schreibtisch auf und ordnete seine Bücher nach alphabetischer Reihenfolge an. Als jedoch mein Vater nach Hause kam und meine Mutter ihn von den Ereignissen des Tages berichtete, ging er die Treppe hinauf zu mir ins Arbeitszimmer, wo ich grade damit beschäftigt war, das Fenster zu putzen.
Ich bemerkte seine Anwesenheit. Er sagte kein einziges Wort. Langsam packte ich meine Putzutensilien zusammen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihn. Sein Gesicht färbte sich rot und seine Fäuste waren geballt. Jedoch starrte er ins Leere. Ich wollte mich an ihm vorbei schleichen und in mein Zimmer flüchten. Doch plötzlich blickte er mich an, sein Arm hob sich und er verpasste mir eine Ohrfeige. Es knallte in meinem Kopf und ich musste mich gegen die Wand lehnen, um nicht umzukippen. Mir schossen die Tränen in die Augen. Mein Vater sagte mit zorniger Stimme: „Du bereitest uns nichts als Ärger. Du gehorchst nicht und beschimpfst deine Mutter. Wir haben immer alles für dich getan, doch nun bist du zu weit gegangen.“ Er verließ das Arbeitszimmer. Ich ging in meins, schloss die Tür und weinte hemmungslos in mein Kissen.
Ich hatte danach große Angst vor meinem Vater. Meine Mutter versuchte eine neutrale Rolle einzunehmen, doch es war nie so wie früher. Ich hatte nie mit ihr über diesen Tag gesprochen und zu meinem eigenen Schutz versuchte ich meinen Zwang zu unterdrücken. Solange, bis ich endlich von zu Hause ausziehen konnte.
Es war eine endlose und Nerven zermürbende Zeit des Wartens, doch mit 18 Jahren verdiente ich genug Geld, um mir meine eigene Wohnung leisten zu können.
Nach langer Suche und gefühlten 100 Wohnungsbesichtigungen fand ich endlich eine bezahlbare Wohnung, die meinen Ansprüchen gerecht wurde. Ich wollte, dass meine Wohnung einen ansatzweise symmetrischen Grundriss hatte, um mir späteren Stress zu vermeiden und um mir ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche, Bad und Balkon, in einem abgelegenen Viertel der Stadt, entsprach meinen Wünschen und zwei Monate später konnte ich sie auch beziehen.
Doch durch den Umzug verschlimmerte sich mein Zwang und mein gesundheitlicher Zustand wurde kritisch. Das Packen meines Eigentumes erwies sich noch als unproblematisch, ebenso das Streichen meiner Wohnung. Meine Mutter bot mir Hilfe beim auspacken an, doch ich wies sie zurück. Der Gedanke „Jemand, der nicht ich bin, räumt meine Wohnung ein“, ließ mein Herz schneller schlagen. Und während ich noch überlegte, ob die Aufstellung der Möbel passend für den Raum war, klingelte es an meiner Tür. Mein Vater stand dort und als ich auch die Wohnungstür öffnete, verließ mich all mein Mut. Ich sagte nichts, er starrte mich nur böse an. Er streckte seinen Arm aus. In seiner Hand hielt er eine große Tüte. „Deine Mutter meinte, ich soll dir das hier vorbei bringen“, brummte er. Ich nahm die Tüte entgegen und schaute hinein. Ein großer Plastikbehälter mit irgendwas drin und Post für mich vom heutigen Tag. Noch ehe ich danke sagen konnte, drehte mein Vater sich um und begann die Stufen nach unten zu hetzen. Fassungslos starrte ich ihm hinterher. Wut und Traurigkeit überkamen mich und ich stürmte in meine Wohnung zurück, warf die Tüte in eine Ecke, schnappte mir Eimer und Besen und begann meinen Balkon zu schrubben. Ich konzentrierte meinen Zorn darauf, die Steinfliesen vom Moos zu befreien, das Gras aus dem Fugen zu kratzen und das Geländer zu polieren. Mein Zorn zog sich langsam zurück und ich fühlte eine tiefe Leere in mir. Mein ganzer Körper schmerzte und ich bemerkte erst jetzt, dass es schon fast dunkel war. Ausgelaugt ging ich zurück in meine Wohnung und hob die Tüte vom Boden auf. In dem Plastikbehälter befand sich Eintopf, welchen ich kalt hinunterschlang. Die Post war uninteressant und so duschte ich und legte mich ins Bett. Ich wälzte mich hin und her, konnte aber ich die Ruhe zum Schlafen nicht finden, weil ich die ganze Zeit daran denken musste, wie chaotisch meine Wohnung war. Meine Unruhe zwang mich und so stand ich wieder auf. Es war halb 12 in der Nacht und ich begann, zum dritten Mal an diesen Tag, die Schränke der Einbauküche mit heißen Wasser und Reinigungsmittel zu putzen.
Ich machte die ganze Nacht durch. Ich putze, wischte und sortierte. Als es am nächsten Tag dämmerte, räumte ich grade meine Küchenutensilien ein. Teller, Gläser und Becher waren perfekt einsortiert. Dies waren Gegenstände, die eine einfache Form besaßen und so ging das Einordnen sehr zügig voran. Meine Töpfe wurden der Größe nach angeordnet und mein Kühlschrank mit Desinfektionsspray ausgewischt. Beim Einräumen des Bestecks fiel mir auf, dass ich zehn Gabeln, zehn Messer, aber nur neun Löffel hatte. Nachdem die erste Welle von Panik überwunden war, und ich alle Kartons in der Küche durchsucht hatte, aber keinen zehnten Löffel fand, entsorgte ich kurzer Hand zwei Messer, zwei Gabeln und einen Löffel. Ich konnte mich noch nie mit ungeraden Zahlen anfreunden und neun Bestecksets wären eine Katastrophe für mich.
Als es schon fast Mittag war, überkam mich eine kleine Woge der Zufriedenheit. Die Küche war fertig. Aber dies war sowieso der einfachste Raum, der eingeräumt werden musste. Ich erlaubte mir, die erste Nahrung an diesen Tag zu mir zu nehmen. Doch für ein ausgiebiges Mittagessen reichte es nicht, mein Zwang drängte mich. ES wollte weitermachen und die Unordnung im Wohnzimmer und im Badezimmer beseitigen. Mein Schlafzimmer war schon fertig. Bett und Kleiderschrank hatte ich gestern Morgen schon aufgebaut. Meine Kleidung war innerhalb von zwei Stunden im Schrank eingeräumt und mein Bett schnell gemacht. Darin hatte ich ja schon jahrelange Übung.
Doch im Wohnzimmer lag die größte Herausforderung. Es waren viele verschiedene Möbel und jedes Möbelstück musste fünf Zentimeter von der Wand abstehen. Mein Zwang riet mir dazu. ES meinte, so komme ich später besser hinter das Mobiliar, um dort sauber zu machen.
Die Möbel standen alle schon provisorisch an ihren Plätzen. Das Sofa unter dem Fenster, davor der Couchtisch und an der gegenüberliegenden Wand das Sideboard mit meinem Fernseher obendrauf. An der Längsseite der Stube standen meine beiden Bücherregale. Links neben den Regalen befand sich die Tür zum Flur und rechts neben den Regalen die Tür zum Balkon.
Der Einfachheit halber begann ich mit den Bücherregalen. Ich maß die komplette Wand der Länge nach aus, dann errechnete ich davon die Mitte und kennzeichnete mir diese an der Wand. Ich schob die Bücherregale zu der Markierung, so dass jedes Regal den gleichen Abstand zur nächsten Wand Ecke besaß. Dann maß ich die fünf Zentimeter Abstand zur Wand ab und rückte die Regale dem entsprechend nach vorne. Nach mehrmaliger Kontrolle, dass ich mich auch nicht vermessen hatte, holte ich die Kisten mit meinen Büchern. Beim Einpacken der Bücher hab ich darauf geachtet, dass die Sortierung, die ich zu Hause hatte, nicht durcheinander geriet. Sie waren nach Größe und Farbe geordnet. Schnell waren meine Bücher eingeräumt und ich vermaß alles nochmal, um sicher zu gehen.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon fast 16 Uhr war. Eine Welle der Müdigkeit überkam mich. Ich war jetzt schon seit fast zwei Tagen auf den Beinen, hatte kaum was gegessen und, für mich, schwere körperliche Arbeit verrichtet. Mein Rücken schmerzte, meine Augen brannten und meine Muskeln hatten keine Kraft mehr. Ich ließ mich auf die Couch sinken und trank einen Liter Cola in einem Zug. Draußen hörte ich die Vögel zwitschern und schlief ein.
Ich schreckte aus meinem Schlaf auf, wusste im ersten Moment gar nicht, wo ich mich befand. Nach einigen Augenblicken erinnerte ich mich aber wieder. Ich schaute auf die Uhr. Es war 17:33 Uhr. Ich hatte nur eineinhalb Stunden geschlafen. Ich wollte aufstehen, aber mein ganzer Körper schien mir zu widersprechen. Mit aller Kraft drängte ich mich hochzukommen. „Ich kann hier doch nicht faul rumsitzen, während um mich herum das Chaos herrscht!“, sagte ich zu mir selbst und in meinem Kopf ertönte ein leises triumphierendes Gelächter.
Ich ging ins Badezimmer, um mich frisch zu machen. Es war ein kleines Bad, mit einer Toilette, einem Waschbecken und einer Dusche. Aber es reichte. Bisher hatte ich hier drin nur zwei Mal eine Reinigung mit normalen Putzmittel durchgeführt. Während ich meine Zähne putzte, schien es mir plötzlich, als wenn auf den Armaturen und Oberflächen eine dicke Staubschicht liegen würde. Ich hielt in meiner Bewegung inne und schaute genauer hin. Das war kein Staub, denn es bewegte sich. Es waren kleine schwarze Insekten! Wie Ameisen, nur noch ein Stückchen kleiner. Vor Schreck verschluckte ich mich und hustete den Zahnputzschaum, über den ganzen Spiegel verteilt, aus. Ich schrie und schlug auf die Insekten ein. Es nützte nichts. Sie waren überall. In der Dusche, auf dem Toilettensitz und auf meiner Zahnbürste, die ich beim Husten fallen gelassen hatte. Ich würgte und übergab mich auf dem Fußboden. Verzweifelt kroch ich aus dem Badezimmer und schloss die Tür hinter mir. Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Ich konnte es mir nicht erklären, woher die Insekten stammten, ich hatte doch sauber gemacht. Das konnte nicht sein. Nicht in meiner Wohnung. Oder doch? Ich wusste es nicht. Zitternd und weinend lag ich im Flur. „Hilfe“, stammelte ich vor mich hin. „Hilfe, Hilfe.“
Zu meiner Überraschung bekam ich eine Antwort: „Hol tief Luft und überlege. Waren da wirklich Insekten?“ Ich verstand nicht. „Schau nach“, befahl mir die Stimme. Ich zögerte kurz, kroch dann aber auf allen vieren zu der Badezimmertür. Und tatsächlich. Als ich die Tür öffnete, waren dort keine Insekten mehr. Ich traute meine Augen kaum. Was ist nur los mit mir? Einige Augenblicke starrte ich fassungslos vor mich hin, dann stand ich vom Fußboden auf, ging in die Küche und holte meinen Chlorreiniger. Meine Schlussfolgerung war, dass die Insekten da gewesen waren, weil ich nicht gründlich genug geputzt hatte. Wie sie wieder verschwinden konnten, darüber dachte ich gar nicht nach. Für mich zählte nur, dass sie noch vor ein paar Minuten über meine Zahnbürste krabbelten. Ich verbrachte die nächsten Stunden damit, mein Erbrochenes aufzuwischen, den Spiegel zu desinfizieren und alles im Badezimmer mit dem Chlorreiniger zu reinigen. Mehrmals. Ich schrubbte wie eine Besessene, bis die Flasche mit dem Chlorreiniger leer war. Die ganze Zeit über hörte ich wieder das Lachen, welches von Stunde zu Stunde immer etwas lauter wurde.
Meine Erinnerungen brachen ab, als ich die leere Flasche Chlorreiniger wütend in den Müll warf. Danach ist nur schwarzes Nichts und siegendes Lachen.
Als ich wieder zu mir kam, stand ich auf meinen Balkon. Es war stockfinster und die Sterne leuchteten am Himmel. Ich fror und ging rein. Die Uhr verriet mir, dass es 01:44 Uhr war. Ein Blick auf die automatische Datumsanzeige ließ mich erschaudern. Wenn ich mit meiner Rechnung richtig lag, fehlten mir die Erinnerungen von zwei Tagen. Ich lief durch die Wohnung, auf der Suche nach Hinweisen, was ich an diesen Tagen gemacht hatte. In der Küche fand ich einen halb aufgegessenen Apfel, Brotkrümel, eine offene Wurstpackung und leere Wasserflaschen. Im Flur bemerkte ich, dass jemand eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Ich drückte die Wiedergabetaste, ging jedoch weiter ins Badezimmer. Die Stimme meiner Mutter ertönte: „Hallo Schätzchen! Ich wollte nur hören, wie es dir geht. Du hast dich seit deinem Auszug ja nicht mehr bei uns gemeldet. Wie kommst du mit dem Einrichten deiner Wohnung voran? Brauchst du Hilfe? Ruf mich bitte zurück, sobald du das hier abhörst. Hab dich lieb.“
Die Worte meiner Mutter ließen mich kalt. Ich stand im Badezimmer und schaute mich um. Der Geruch von Chlor lag noch schwer in diesem Raum, war aber der Beweis von Sauberkeit. Verwunderlich war aber, dass meine ganzen Kosmetika, meine Tuben und Cremes, dass alles perfekt und ordentlich eingeräumt war. Die Handtücher lagen sauber gefaltet im Schränkchen unter dem Waschbecken und meine Hygieneartikel befanden sich geordnet in den Schubladen. Genauso hatte ich mir mein Badezimmer immer vorgestellt. Da kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich eilte ins Wohnzimmer, zückte mein Maßband und begann die Abstände von den Möbeln zu den Wänden und von einem Möbelstück zum nächsten abzumessen. Alles war perfekt. Die Couch befand sich mittig unter dem Fenster, der Couchtisch in einem Abstand von 20 Zentimetern davor und ebenfalls mittig zum Sofa. Das Sideboard stand parallel zum Sofa und alle Möbelstücke standen fünf Zentimeter von der Wand ab. Ich konnte es nicht fassen. Das hatte ich alles in zwei Tagen geschafft? Ich fing an zu lachen. Erst aus Freude, dann wurde es aber immer hysterischer. Ich begann zu verstehen. Das war nicht ich. Das bin nicht ich gewesen, die hier die Möbel ausgemessen und verschoben hatte. Ich bin es auch nicht gewesen, die das Badezimmer eingeräumt hatte. Das war ES. Nun begann die Stimme in meinem Kopf wieder zu kichern. Immer lauter und lauter wurde sie. Reflexartig presste ich meine Hände auf die Ohren. Doch es half nichts. Ich schrie und schlug meinen Kopf gegen die nächste Wand. ES lachte weiter und weiter.
„Verschwinde, verschwinde, verschwinde aus meinem Kopf“, schrie ich gegen das Lachen von ES an. Ich kauerte auf den Boden, lehnte mich gegen die Wand an und weinte.
„Lass mich in Ruhe“, flehte ich. Das Lachen verstummte. „In Ruhe?“, fragte die Stimme.
„Das geht nicht. Ich bin du. Du bist Ich. Alles was du willst, will ich auch. Nur ich bin zielstrebiger als du. Ich weiß, was ich tun muss, damit ich meinen Willen bekomme. “ Ich dachte über die Worte von ES nach. Ein kalter Schauer lief meinen Rücken herunter. „Du hast mich diese Insekten sehen lassen?“
„Eine Halluzination“, sagte es freudig. „Aber sie haben ihren Zweck erfüllt.“ Es lachte triumphierend.
Ich kauerte mich zusammen, versuchte mich zu beruhigen. „Es ist nicht echt. Es ist nicht echt. Es ist nicht echt. Es ist nicht echt.“
Tränen liefen meine Wangen hinunter. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich saß dort eine gefühlte Ewigkeit.
Plötzlich verstummte das Lachen und ich schöpfte schon Hoffnung, dass es vorbei war. Doch das war es nicht. Statt des Lachens hörte ich nun einen dumpfen Ton, der immer bedrückender wurde. Außerdem fühlte ich diese Unruhe wieder. Es war genau die Unruhe, mit der mein Zwang begonnen hatte. ES wollte mich zwingen, weiter zu putzen, zu ordnen und zu leiden. Ich wollte der Unruhe nicht nachgeben, also rupfte ich mir einzelne Haare aus, um mich abzulenken.
Auf einmal hörte ich eine zweite Stimme. Sie war vertraut und schien aus dem Flur zu kommen. „Hallo meine Kleine. Ich mache mir langsam Sorgen um dich. Melde dich bitte bei mir. Dein Vater wird auch schon böse auf dich. Außerdem hat dein Chef angerufen. Du bist gestern und heute nicht zur Arbeit erschienen. Was ist los bei dir? Ruf bitte an!“
Es war meine Mutter, wie sie auf den Anrufbeantworter sprach. Ich wünschte, sie wäre bei mir und würde mir helfen. Mir fiel auf, dass sie meine Arbeit erwähnte. Aber ich hatte doch noch Urlaub. Oder? Wie viel Zeit war vergangen? Welcher Tag war heute? Ich wusste es nicht.
Mein Kopf pochte von dem dumpfen Ton, der ununterbrochen sein bestes gab, um mich zu verwirren. Inzwischen lag neben mir schon ein kleiner Haufen von ausgerissenen Haaren und ich hatte das Gefühl, nie mehr aus dieser Hölle zu entkommen.
„Denk nach“, flüsterte ich zu mir selbst. „ES ist nur in deinem Kopf. Du kannst was dagegen unternehmen!“
ES will das, was ich will. Was will ich? Was wollte ich schon immer? Eine perfekte und saubere Wohnung und Ordnung in meinem Leben. War das wirklich mein Wille? Oder war das nur der Wille von ES? Habe ich meine Entscheidungen wirklich getroffen, weil Ich es wollte oder weil ES es wollte?
„Mach doch mal die Augen auf“, sprach ES beschwörend zu mir. Aus blinder Neugier kam ich der Aufforderung nach. Ich erstarrte vor Angst. Insekten, manche so groß wie Katzen, andere so klein wie die aus dem Badezimmer. Schwarz wie die Nacht und bedrohlich befanden Sie sich an der gegenüberliegenden Wand. Jedoch kamen sie auf mich zu. Das Lachen von ES ertönte wieder und ich zog meine Beine dicht an meinen Körper. Obwohl ich wusste, dass diese Kreaturen nicht real waren, hatte ich sehr große Angst vor ihnen. Als die ersten kleinen Insekten meine Zehen berührten, schloss ich meine Augen, um sie nicht mehr sehen zu müssen. Ich spürte das Pochen in meinem Kopf, das Brennen meiner Augen und der prickelnde Schmerz der herausgerissenen Haare auf meiner Kopfhaut. Doch ich spürte kein Krabbeln an meinen Füßen. Ich öffnete meine Augen einen Spalt breit. Dort saß ein Insekt direkt auf meinen Knien und ich fühlte im selben Augenblick auch das Gewicht und die spitzen Beine des Tieres. Schnell kniff ich meine Augen wieder zu. Und ich spürte wieder nur meine eigenen körperlichen Leiden. Nun wusste ich, was zu tun war. Zitternd, und mit geschlossenen Augen, stand ich auf. Ich tastete mich an den Wänden entlang zur Küche. Ich hörte das Gelächter von ES immer noch, ebenso den dumpfen Ton, doch ich hatte nun ein Ziel, auf das ich mich konzentrieren konnte. Schritt für Schritt näherte ich mich der Küchenzeile, suchte nach dem Messerblock. Ich fand es und zog ein kleines Messer heraus. Ich drehte mich um und ging langsamen Schrittes in den Flur Richtung Badezimmer. ES wurde nervös. Der dumpfe Ton wurde nun schrill und sehr laut. Mein Kopf schien zu explodieren. Ich ertastete die Tür zum Bad, ging hinein und positionierte mich vor dem Spiegel. Mit dem Messer in der Hand und einem klopfenden Herzen öffnete ich meine Augen und starrte in den Spiegel. Ich erkannte mich nicht wieder. Die Haut fahl und weiß, die Augen blutunterlaufen und mit dunklen Schatten versehen, die Lippen aufgerissen und auf der rechten Kopfseite kaum noch Haare. Das hatte ES aus mir gemacht. Ich schaute hinter mich. Dort stand ES und… sah aus wie ich. Voller Zorn starrte ES mich an, die Augen schwarz, die Zähne spitz und die Haut grau verfärbt. Ich lächelte ES an und schrie: „Nun ist es vorbei!“
Mit wilder Entschlossenheit rammte ich mir das Messer ins Auge. Warmes Blut lief mein Gesicht hinab und ich spürte den Fremdkörper in mir. Doch fühlte ich keinerlei Schmerzen. Ich zog das Messer mit einem schmatzenden Geräusch wieder heraus, nur um es noch einmal in das Auge zu stechen. Und noch einmal und noch einmal. Mit dem gesunden Auge blickte ich mich im Spiegel an. Dort, wo mal mein Auge war, klaffte nun eine Wunde, die mich an das Aussehen einer Rose in voller Blüte erinnerte. Mit dem wohlwollenden Gedanken an Rosen, stieß ich mir das Messer in das noch gesunde Auge. Auch bei diesem spürte ich keinerlei Schmerzen. Ein Gefühl von Erlösung überkam mich und ich musste grinsen. ES stand hinter mir und kreischte vor Empörung. ES wusste, dass es verloren hatte.
Die Welt um mich herum wurde schwarz und ich sank vor Erschöpfung auf den Fußboden. Ich hockte in meinem eigenen Blut, hatte das Messer noch in der Hand, als ich einen lauten Knall hörte. Das Geräusch von berstenden Holz und scharfen Befehlen drang in meine Ohren. Schwere Stiefel schritten durch die Wohnung und fremde Hände fassten mich bei den Schultern. Ich hörte viele Ausrufe des Schreckens und ich wurde auf etwas Weiches gelegt. Es war mir egal. Mir war nur wichtig, dass diese Entscheidung meine eigene Entscheidung war.