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Putz(t)raum
(Die Wandtür)
Gedankenversunken rieb sie sich ihre rechte Hand. Schon seit Stunden schrubbte sie Fenster, Böden und Türen. Sie ärgerte sich, dass sie beim Streichen der Wände darauf verzichtet hatte, alles abzudecken. Mit einem Holzspieß rückte sie den getrockneten Farbspritzern auf dem unebenen Furnier des Türblattes zu Leibe, als ein stechender Schmerz in der Ferse sie aus den Gedanken riss. Reflexartig schlug sie - ins Leere. Die Bewegung riss sie herum und noch ehe sie begriffen hatte, dass ihr Kater nach seiner Attacke längst in Deckung gegangen war, stolperte sie über den Putzeimer. Sie griff nach der Türklinke, um den Sturz noch abzuwenden. Doch die Tür schwang mit einem Ruck in ihre Richtung, was sie vollends von den Füßen riss.
Mit einem wütenden: “Karl-Friedrich!“, prallte sie zunächst hart auf die angrenzende Wand und landete dann auf dem Hinterteil. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sie sich die Schulter, mit der sie aufgeschlagen war und sah sich nach dem Malheur um. Sie befand sich inmitten einer Pfütze Putzwasser, zwei grüne Augen blitzten unter dem Sofa hervor.
„Du altes Mistvieh, hoffentlich hast du dich genauso erschreckt!“
Schwerfällig raffte sie sich auf, um einen Aufnehmer zu holen. Als sie zurückkam und die Tür schloss, die noch von ihrem Sturz offenstand, hielt sie verdutzt inne. Der Blick war nun frei auf die Zimmerecke. Auf der linken Seite befand sich die Tür, auf der rechten eine bis vor wenigen Minuten unversehrte Wand. Allerdings war dort nun ein dunkler Strich zu sehen. Verärgert ging sie auf die Wand zu, den Lappen achtlos in die Pfütze werfend und untersuchte die Stelle.
Sie war sich sicher, dass sie zwar hart auf die Wand aufgeschlagen war, aber eigentlich hätte sich dort höchstens ein dunkler Schatten von ihrem schwarzen Shirt befinden dürfen. Aber dort war eine Art Riss zu sehen. Genauer betrachtet kam es einem sehr niedrigen Türspalt verdächtig nahe. Die dunkle Linie umrahmte ein Rechteck, etwa einen Meter hoch und fünfzig Zentimeter breit. Sie tastete den Spalt ab und drückte vorsichtig auf die leicht vertiefte Fläche, woraufhin sich die Wandtür langsam einen Spalt öffnete. Sie kniete sich hin, um vorsichtig in die entstandene Öffnung zu blicken und konnte kaum glauben, was sie sah.
Es war ein zusätzliches Zimmer. Mit keinem Wort hatte der Vermieter einen weiteren Raum erwähnt und auch auf den Grundrissen war nichts verzeichnet. Genau genommen hatte sie sogar die Wohnung vollständig vermessen. Es gab keinen Zweifel: Hier durfte nichts außer einer Wand sein. Tatsächlich war dies sogar eine Außenwand, was sie sich, vollends verwirrt, mit einem Blick auf das nahegelegene Fenster in eben dieser Wand selbst bestätigte. Wenn man durch das Fenster blickte, konnte man den kleinen Gemeinschaftsgarten und die umliegenden Häuser sehen; das Gebäude hatte einen einfachen, rechteckigen Grundriss und es gab keinerlei Anbauten. Ausgeschlossen, dass sie sich irrte. Wenn jemand ein Loch in diese Wand geschlagen hätte, er wäre ganz sicher Gefahr gelaufen, vier Stockwerke in die Tiefe zu stürzen.
‚Vielleicht solltest du dich doch eiliger in psychologische Hilfe begeben, als du immer dachtest‘, zweifelte sie an ihrem Verstand. ‚Das kann einfach nicht sein, du spinnst einfach‘, und mit diesem Gedanken griff sie wie benebelt nach dem Aufnehmer und wischte das Wasser vom Boden, zum Schluss holte sie einen weiteren trockenen Lappen. Als sie zurückkam, hatte sich Karl-Friedrich schon wieder aus seinem Versteck hervorgetraut und spazierte nun neugierig auf die Wandöffnung zu.
‚Hm, er sieht sie also auch, verlieren wir jetzt parallel den Verstand?‘ Nachdenklich hockte sie sich neben den Kater. Er zögerte nur kurz und war schon im Türspalt verschwunden, ehe sie ihn zurückhalten konnte. Eilig folgte sie ihm und fand sich in einem großen Raum wieder, beinahe so groß wie ihre gesamte Wohnung. Direkt gegenüber der Tür stand ein einladendes Sofa, davor ein kleiner Tisch. Auf der rechten Seite befand sich ein großer Schreibtisch, wie sie ihn sich immer gewünscht hatte, ein hochwertiger dunkelbrauner Ledersessel direkt davor. Wirklich in den Bann zogen sie allerdings die Wände, die vollständig aus Bücherregalen zu bestehen schienen.
Erst jetzt fiel ihr auch auf, wie weit sich der Raum nach rechts erstreckte. Sicherlich drei oder vier Meter. ‚Müsste dort nicht das Fenster sein?‘ Sie zog den Kopf wieder zurück, blickte an der Wand des Wohnzimmers entlang und auf dieser Seite war das Fenster keine zwei Meter von der Wandtür entfernt. In der Bibliothek hingegen gab es kein einziges Fenster. Sie schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen und wandte sich wieder dem geheimnisvollen Raum zu.
Als sie den Kater endlich erreichte – er hatte an Tempo zugelegt, als er bemerkte, dass sie ihm folgte – griff sie unter seinen Bauch, hob ihn hoch und drückte ihn an ihre Brust. Den Kater streichelnd, wohl mehr um sich selbst, als den Kater, zu beruhigen, sah sie sich nun weiter um.
Zunächst noch etwas unsicher, ließ sie sich dann doch schwer atmend auf das Sofa fallen. Auch an der Wand, die sie bisher nicht hatte sehen können, türmten sich die Bücher in den Regalen. Wie lange hatte sie sich eine solch reich bestückte Bibliothek gewünscht. All ihre Träume schienen hier in Erfüllung zu gehen. Nie im Leben hätte sie sich ein solches Hobbyzimmer mit ihrem mickrigen Gehalt leisten können.
Der Kater hatte inzwischen ebenfalls begonnen, den Raum genauer zu inspizieren. Gleich neben dem Schreibtisch hatte er mit traumwandlerischer Sicherheit einen Fressnapf entdeckt, gefüllt mit seinem Lieblingsfutter.
Was mochte das hier bloß für ein eigenartiger Raum sein, fragte sie sich. Wer hatte ihn angelegt, wie konnte es ihn überhaupt geben, warum hatten sie die Wandtür nicht bei der Renovierung längst entdeckt und warum hatte der Erbauer exakt die gleichen Vorlieben wie sie. Vom Sofa aus konnte sie einige Buchtitel erkennen und es schien, als wären hier all ihre Lieblingsbücher und dazu noch unzählige weitere versammelt, die sie immer vorgehabt hatte zu lesen und doch nie die Zeit gefunden hatte. Ihr war immer noch etwas unheimlich zumute, ihr Puls raste, ihre Hände schwitzten, doch langsam löste sich die Anspannung. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie nicht träumte. Vielleicht hatte sie sich den Kopf und nicht die Schulter an der Wand angeschlagen und lag ohnmächtig im Putzwasser.
Noch eine ganze Weile inspizierte sie den Raum bis in den kleinsten Winkel. Schließlich machte sie es sich mit einem Stapel Bücher auf der Couch gemütlich. Sie blätterte begeistert in den Büchern, den Kater, der es sich mittlerweile neben ihr auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte, kraulend.
Mittlerweile mussten Stunden vergangen sein. Erschrocken bemerkte sie, dass ihr Freund bald von der Arbeit heimkommen musste. Es gab weit und breit keine Uhr und so raffte sie sich widerwillig auf, um in ihre winzige Wohnung zu gehen und dort nachzuschauen. Im Gehen überlegte sie, wie begeistert ihr Freund sein würde, wenn sie ihm von diesem Raum erzählte. Sie malte sich sein verdutztes Gesicht aus, wenn sie ihm die Tür zeigte und seinen Blick, wenn er erst die riesige Bibliothek betrat. Zwar interessierten ihn Bücher nicht besonders, aber diese Entdeckung musste ihn trotzdem begeistern.
Im Wohnzimmer angekommen stockte sie erneut. Elf Uhr. Eigenartig, sie war sich vollkommen sicher, dass sie gegen halb elf begonnen hatte, die Tür zu schrubben. Nun war sie seit Stunden in diesem Zimmer und es waren kaum mehr als ein paar Minuten vergangen. Sie rieb sich die Augen, doch es blieb dabei. Schwankend ging sie ins Badezimmer, das sie nach den vielen Stunden dringend aufsuchen musste. Zurück im Wohnzimmer stellte sie mit einem kurzen Blick auf die Uhr fest, dass sie nur wenige Minuten fort gewesen war. Die eigenartige Lücke in der Zeit schien also nur in der Bibliothek zu existieren.
Mittlerweile war sie sich nicht mehr sicher, ob sie ihrem Freund von dem Raum erzählen wollte. Lieber wäre es ihr, sie könnte das Geheimnis für sich behalten. Also wandte sie sich wieder der neuen Tür zu, die sie in ihr Traumreich zurückbringen sollte.
Doch die Tür war verschwunden. Die Wand vor ihr war unversehrt, wie sie es vor dem kleinen Unfall gewesen war. Panisch begann sie die Wand abzutasten und zu drücken. Zum Schluss kratzte sie verzweifelt mit den Fingernägeln auf der Tapete. Doch es blieb dabei, dort war keine Tür. Plötzlich fiel ihr der Kater ein, der in der Bibliothek geblieben war.
Panisch rief sie: „Karl-Friedrich! Karl-Friedrich, bist du da drin?“
Da fühlte sie etwas Warmes und Weiches. Karl-Friedrich strich ihr wieder einmal um die Beine und sah sie neugierig an. Sie strich ihm über den Rücken, hob ihn hoch und drückte ihn an ihre Brust.
Noch eine Weile stand sie so da, betrachtete die Wand, genoss die Wärme des Katers und fühlte seinen Herzschlag, bis sie sein Zappeln nicht mehr ignorieren konnte. Sie setzte ihn ab und hielt gebückt inne. Direkt vor ihr, bis eben vom Tisch verdeckt, lag das Buch, das sie soeben in dem geheimnisvollen Zimmer gelesen hatte.