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Pustekuchen!
Die Stadt ist leer und grau wie der Bauch eines hungrigen Elefanten. Die Menschen haben keine Körper mehr, sie bestehen aus einem Kopf und einem Hals und einem Stück Brust. Man sieht sie an den Fenstern, ihren Kopf, ihren Hals, und einen Teil ihrer Brust. Es sind Passbildmenschen.
Es sind Hasen, sie fürchten sich. Vor dem Wind fürchten sie sich. Das ist kein normaler Wind, ein Mordswind ist das. Wusch – und weg bist du. Er weht alle weg.
Nur mich nicht. Ich bin zu dick und zu schwer. Zu schwer für den Wind, er kann mich nicht wegpusten. Iss, hat die Mutter immer gesagt. Damals wollte ich nicht, aber heute weiß ich, dass sie recht hatte, dass ich ihr eine Menge verdanke. Leider kann ich ihr das nicht mehr sagen. Gleich am ersten Tag, als der Sturm gerade erst anfing, hat es sie erwischt. Die Luft hat sie gepackt und herumgewirbelt. Dann ist sie wieder runtergefallen auf das Pflaster und der Wind hat den Knall verschluckt. Die Luft ist schuld, das hört sich falsch an, aber ich weiß nicht, wem ich sonst die Schuld geben soll.
Man kann im Sturm nicht weinen, die Tränen werden weggeblasen, noch ehe sie die Augen verlassen haben. Es ist sowieso besser, die Augen geschlossen zu halten, sie gar nicht erst aufzumachen.
Vom Park drüben kommen Blätter angeweht, haufenweise Blätter, rote, grüne, gelbe. Auch Menschen fliegen durch die Luft, zusammen mit den Blättern. Die Leute sind selbst schuld, sie sind unvorsichtig, sie essen zuwenig, sie sind nicht dick genug. Sie drehen sich in der Luft, machen Saltos und Pirouetten. Es ist ein Spektakel. Und zudem schön anzusehen. Weil sie bunt sind. Und weil man ihre Schreie nicht hört.
Gerade saust wieder ein Hund vorbei, die Tiere haben es besonders schwer. Die Klugen verkriechen sich in Ecken, wo der Wind nicht hinkommt. Die anderen werden früher oder später weggeweht. Windhunde, sagen die Leute. Eigentlich soll man keine Witze darüber machen.
Wenn ich einen Stein finde, stecke ich ihn mir in die Tasche. Für alle Fälle. Ich habe viele Steine. Irgendwann platzt die Tasche auf und alle Steine fallen raus. Dann wird es gefährlich, dann kann ich mich nur so flach es geht auf den Boden legen und warten. Warten. Warten. Die im Fernsehen sagen, der Sturm wird noch stärker. Wann, sagen sie nicht.
Weil ich ein vorsichtiger Mensch bin, laufe ich am Fluss entlang, direkt am Ufer, ganz unten, wo der Wind einfach drüber wegbläst. Der Kies reibt an meinen Sohlen. Der Kies knirscht, er sagt mir, dass ich schwer bin. Ich mag den Kies.
Auf der anderen Seite geht ein junges Mädchen. Sie trägt einen gelben Anorak und leuchtet wie ein Lampion. Ich warte darauf, dass der Wind sie mit sich nimmt, sie hoch hinaus bis in die Wolken wirbelt. Aber der Wind tut ihr nichts, sie ist dick wie ich. Schwer wie ein Stein. Nur ihre Haare bewegen sich, sie hat langes, schönes Haar, wie die Frauen in der Shampoowerbung. Haare, die sich lang machen, wenn der Wind hineinfährt, Haare, die man einmal anfassen will, um zu sehen, ob sie weich sind, und ob man den Glanz greifen kann.
Sie hat mich auch entdeckt, wir gehen nebeneinander am Fluss entlang, jeder auf seiner Seite, Seite an Seite. Wir sehen uns an und lächeln dabei. Wir tun ungeheuer kitschige Dinge. Der Wind macht, dass unsere Kusshände irgendwo flussaufwärts landen, dort fliegen sie komischen Leuten zu, für die sie gar nicht gedacht sind.
Unsere Arme sind zu kurz, um damit über den Fluss greifen zu können, aber wir versuchen es trotzdem. Vorne ist die Brücke. Wären wir nicht so dick, würden wir rennen, schnell wie Rennpferde. Aber es geht nicht schneller. Wir sind keine Rennpferde.
Die Brücke streckt sich unter unseren Füßen, wir sind außer Rand und Band, mit offenen Armen laufen wir uns entgegen, wie zwei, die sich gefunden haben. Wie zwei, die keine Ohren haben, um zu hören, was die Leute sagen: Liebe auf den ersten Blick, das gibt es nur bei Blinden. Und wenn schon, denke ich, und wenn schon.
Dann sind wir eben blind vor Liebe.
Der Wind trägt unser Lachen fort, es macht nichts, wir werfen unser Lachen in den Wind, in die offenen Arme des anderen. Ich strecke mich soweit ich kann, mache Sprünge, die ich mir vorher selbst nicht zugetraut hätte. Ich hopse ihr entgegen.
Sie hört auf zu hopsen, ihr Gesicht verkrampft sich, ihr Lachen zerbröselt. Ich erkenne: Wir sind zu dick. Zu schwer. Ich verfluche meine Mutter.
Die Brücke schwankt, sie hebt und senkt sich wie der Rücken eines großen grauen Wals.
Der Wal beginnt zu tauchen.
Die Betonträger knicken wie Streichhölzer, die Brücke bricht zusammen, wir purzeln in die Tiefe. Wir gucken uns an. Sie ist gelb und ich bin rot. Und dann ist da nur noch Wind. Hinter dem Wind sitzen die Leute. Sie müssen uns für Blätter halten. Oder auch für Pusteblumen. Wenn die wüssten...