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Purgatorium

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10.07.2007
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Purgatorium

Wir hatten alle damit gerechnet, dass mein Vater nur noch wenige Tage zu leben hatte. Aber als der Anruf kam, hatte ich für einen Moment diese absurde Hoffnung, dass alles ein Irrtum gewesen war und sie anriefen, um zu sagen er werde entlassen. Es war so schrecklich unfair. Er war sechsundfünfzig und hatte ausgerechnet eine der drei Sorten Krebs, die sie noch nicht heilen können.
Das Telefon lag neben mir, aber ich wartete, bis die Mailbox ansprang.
„Frau Hartwig“, sagte eine bekannte Stimme. „Hier ist Schwester Johanna Singer vom Sankt-Katharinen-Hospiz. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass Ihr Vater seine irdische Hülle verlassen hat.“
Schön ausgedrückt, dachte ich.
Ich rief das Hospiz zurück und fragte nach, wer das Conservatio-Sakrament ausgeführt hatte. Ich machte ein paar erste Anrufe zur Vorbereitung der Beerdigung – die Liste mit den Nummern hatte ich schon vor Wochen geschrieben. Dann rief ich nach und nach den Rest der Familie an. Ich war ruhig und gefasst, wir waren darauf vorbereitet gewesen. Seit Monaten sagten wir uns, dass er bald an einem besseren Ort sein würde.
Irgendwann begann es draußen zu dämmern, und ich brauchte eine Pause. Ich machte Kaffee, und dann musste ich daran denken, wie Papa uns die teure Maschine geschenkt und gesagt hatte, wir könnten ja nicht unser Leben lang Katzenpisse trinken. Das war der Moment, in dem ich doch anfing zu weinen, und damit machte ich weiter, bis Julius nach Hause kam.
Wir wissen, dass der Tod nicht das Ende ist – für die meisten ist er das nicht. Trotzdem tut es weh, wenn einem klar wird, dass man nie wieder die Hand eines geliebten Menschen halten oder seine Stimme hören wird. Agnes würde sagen, das liegt daran, dass es kein echtes Leben nach dem Tod gibt. In dem Punkt ist sie eben verbohrt.

Aus: „Die Todesfalle“ von Agnes Bachmann
Als Paxton und McAllister 2038 nachwiesen, dass der Tod eines Menschen das unwiderrufliche Ende seines Bewusstseins bedeutet, dass ein „Jenseits“ physikalisch unmöglich ist, sagten Experten bereits das Ende der Religion voraus. Sie verglichen die Erschütterungen, die Paxtons Erkenntnisse auslösten, mit Galileo und Darwin, und übersahen dabei, dass keine dieser wissenschaftlichen Revolutionen dem Glauben wirklich geschadet hat.
Experimentelle Technologie, um das Bewusstsein einer Person zu digitalisieren, existierte bereits. Nach der Veröffentlichung von Paxtons ersten Artikeln erhielten diese Forschungen plötzlich großzügige finanzielle Unterstützung aus religiösen Kreisen, allen voran dem Vatikan. Der Rest ist Religionsgeschichte. Zum ersten Mal gab es die Möglichkeit, das Wunschdenken aus Jahrtausenden Wirklichkeit werden zu lassen.
Die theologischen Begründungen variierten – die einen sahen in den mythischen Jenseitsvorstellungen ihrer heiligen Schriften eine Prophezeiung, die diese Technologie vorausgesagt hatte. Die anderen sagten, ihre Offenbarungen seien von Anfang an als moralisches Leitbild gedacht gewesen, wie das Leben nach dem Tod aussehen sollte, nicht als Beschreibung der Realität.
Eins hatten sie alle gemeinsam: Ihre Anhänger hörten nicht auf zu glauben, dass ihre Seelen nach dem Tod weiter existieren würden. Sie bekamen Gewissheit.

Pater Laske kennt unsere Familie schon sehr lange. Agnes und ich hatten Kommunionsunterricht bei ihm. Er hat mich und Julius getraut und unsere drei Kinder getauft. Er würde bei der Beerdigung meines Vaters die Predigt halten, und natürlich war er es auch gewesen, der die letzte Conservatio für ihn durchgeführt hatte. Ein freundlicher, mitfühlender Mann. Es tat mir gut, ihn zu sehen.
„Es muss sehr schwer für Sie gewesen sein“, sagte er. „Diese lange Zeit im Krankenhaus und dann im Hospiz.“
Ich musste schlucken. „Es war schwer. Aber er hat es hinter sich. Er kommt an einen besseren Ort.“
„Ja …“, sagte Laske.
Die Pause nach dem Wort gefiel mir nicht. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als sei ihm etwas unangenehm.
„Sophie“, sagte er schließlich. „Hat Ihr Vater Ihnen gegenüber einmal eine Corinna erwähnt?“
„Ich glaube nicht. Eine der Schwestern im Hospiz vielleicht?“
Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte. Sein Gesicht war gerötet, und dauernd fummelte er an seinem Kragen herum, als wäre der zu eng. Es machte mich richtig nervös.
„Nein, nicht vom Sankt Katharina. Er hat sie bei der Arbeit kennengelernt. Vor etwa acht Jahren, als Ihre Mutter noch lebte.“
Ich zuckte die Achseln. „Über seine Arbeit haben wir nicht viel geredet. Ich kenne ein paar seiner Kollegen vom Sehen, aber eine Corinna war nicht dabei.“
„Also, er …“, der Priester atmete tief durch, wie um neuen Anlauf zu nehmen. „Er hatte eine Affäre mit dieser Frau. Und das hat er nie gebeichtet.“
„Das kann nicht sein“, sagte ich automatisch. „Das ist bestimmt ein Fehler.“
Ich hatte nicht vor, mich vor irgendetwas zu drücken, aber ich konnte mir das einfach nicht vorstellen. Mein Vater und eine Frau, von der ich noch nie gehört hatte.
Laske schüttelte den Kopf. „Das Examinatio-Sakrament ist ein Algorithmus. Alle gespeicherten Erinnerungen werden automatisch geprüft. Ich hätte das auch nicht für möglich gehalten.“
„Was heißt das jetzt?“, fragte ich. Ich glaubte noch immer, dass ein Fehler vorlag, den ich aufklären könnte. Mein Vater hatte Krebs gehabt und keine Affären.
„Er wird eine Läuterung durchlaufen müssen, bevor er Zugang zum Paradies erhalten kann“, sagte der Priester.
Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen.
„Sie meinen, das Fegefeuer?“ Ich hatte schon seit gestern nicht mehr geweint, aber jetzt spürte ich, wie sich neue Tränen versammelten. Ich war ausgelaugt und müde, und ich hatte geglaubt, dass Papas Leiden zu Ende war.
„Das Purgatorium, ja.“ Laske reichte mir ein Taschentuch, und dann nahm er eins für sich, um sich Schweiß von der Stirn zu wischen. „Es ist notwendig, um ihn von dieser Sünde reinzuwaschen.“
„Das geht doch nicht“, sagte ich. „Ich … will das nicht verteidigen, wenn er eine andere Frau … aber er hat so viel gelitten! Gibt es keine Alternativen?“

Aus: „Die Todesfalle“ von Agnes Bachmann
Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurde aus der Vorstellung, dass das Bewusstsein nach dem Tod weiterexistiert, Realität. Der Vorwurf, dass sie nur Illusionen verkaufen, trifft nicht mehr zu, aber anderen Nachteile organisierter Religion existieren nach wie vor. Dogmatismus und rückwärtsgewandte Ideologien blieben bestehen, aber jetzt wirken sie über den Tod hinaus. Die Weltreligionen haben immer mit dem Versprechen jenseitiger Belohnungen und mit der Androhung von Strafen gearbeitet. Aber erst heute haben sie die Macht, all das in gewisser Weise wahr werden zu lassen.
Das Paxton-Experiment und die anschließende rasante Entwicklung digitaler Bewusstseinsspeicher führten nicht zu der Befreiung von Religion, die Humanisten sich ausgemalt hatten. Es war eher so, als hätte man einem Bankräuber, dem vorher nur eine Spielzeugpistole zur Verfügung stand, eine scharfe Waffe in die Hand gegeben.

Der Tag der Beerdigung war schnell gekommen. Ich versuchte, Laskes Predigt zuzuhören, und zumindest bei den Liedern mitzusingen, die Papa gemocht hatte, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Julius half mir auch nicht gerade dabei. „Wo bleibt deine Schwester?“, flüsterte er dauernd. Er kann so flüstern, dass man es zwei Reihen weiter noch hört, echt peinlich. „Sie wird noch kommen, oder? Es ist auch ihr Vater!“
„Natürlich kommt sie. Nur nicht in die Kirche.“ Das kannst du dir doch denken, hätte ich noch hinzugefügt, aber ich war müde und wollte keinen Streit. Heute Abend würde ich eine Schulter brauchen, an der ich weinen konnte.
„Du musst gleich mit ihr reden!“, flüsterte Julius. „Wir können uns das nicht leisten, neben dem Kredit und dem Schulgeld für die Mädchen.“
„Ich weiß“, flüsterte ich.
Agnes stand schon am Grab, als die Prozession mit den Sargträgern an der Spitze dort eintraf. Sie sah blasser und älter aus, als ich sie in Erinnerung hatte. War es wirklich zwei Monate her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten?
Wir umarmten uns zur Begrüßung. Man kann seiner Schwester ja schlecht die Hand schütteln, auch wenn man sich auseinandergelebt hat. Sie roch nach Zigaretten, die sie angeblich aufgegeben hatte. Das war seltsam tröstlich - ich hatte in den letzten Wochen auch wieder angefangen, heimlich zu rauchen.
„Tut mir leid, dass ich nicht reingekommen bin“, flüsterte sie. Warum flüsterten die Leute bei Beerdigungen immer? „Ich halte den verlogenen Scheiß nicht aus.“
„Ich bin froh, dich zu sehen“, sagte ich. Ich würde nicht darauf eingehen und etwas darüber sagen, dass der „verlogene Scheiß“ mir und vielen anderen Leuten Trost spendete. Meine Schwester und ich streiten nicht mehr über Religion, hauptsächlich, weil ich nicht mehr widerspreche.
Viele Leute, die Agnes nicht gut kennen, werfen ihr vor, sie hätte von Anfang an vorgehabt, aus ihrem Atheismus eine Karriere zu machen, als sie die Kirche verließ. Aber das stimmt einfach nicht. Ich bin natürlich auch nicht gerade glücklich, wenn ich sie in diesen Talkshows sehe, wo sie über unseren Glauben herzieht – wenn ihr „katholisches Elternhaus“ erwähnt wird, klingt das immer so, als wäre das ein Handicap, das sie überwinden musste. Aber ich weiß, dass sie alles aus Überzeugung tut. In gewisser Weise ist sie religiöser als ich, aber sie wird echt sauer, wenn man so was sagt.
Agnes ist einer der wenigen Menschen die ich kenne, die keine Backups machen lassen. Es gibt keine digitalen Kopien ihres Bewusstseins. Sie hat keine Seele. Wenn Sie einmal stirbt, dann wird sie für immer tot sein. Weil sie das so will.
Als sie damals die Kirche verließ, hatte sie eine kurze Phase, in der sie die konfessionslosen Jenseitsangebote studiert hat – Gamer, die nach ihrem Tod in ihren Lieblingsvideospielen weiterleben wollen, und solche Leute – aber jetzt lehnt sie auch das ab. Sie ist bereit, für ihre Überzeugungen zu sterben und nie wieder aufzuerstehen.

Aus: „Leben ohne Backup“ von Agnes Bachmann
Die Fakten sprechen gegen einen Dualismus von Körper und Geist. Wir müssen uns abgewöhnen, unser Bewusstsein und unseren Körper als separate Entitäten zu betrachten, die unabhängig voneinander existieren können.
Wenn mein Körper stirbt, dann existiert kein „ich“ mehr. Es ist technisch möglich, die Inhalte meines Gehirns zu kopieren, um Erinnerungen und Persönlichkeitsmerkmale später noch einmal abzurufen, aber diese Kopie wäre nicht ich. Ihre Existenz würde nichts daran ändern, dass die Augen, mit denen ich gesehen, die Hände, mit denen ich meine Ideen niedergeschrieben habe, und das Gehirn, das meine Emotionen gefühlt und meine Gedanken gedacht hat, sich allmählich in ihre Bestandteile auflösen.
„Seelen“ wissen wahrscheinlich nicht, dass sie keine echten Menschen sind. Aber es gibt Anhaltspunkte, dass selbst ein simuliertes Bewusstsein erkennt, dass etwas nicht stimmt. Die bekannten Langzeituntersuchungen der Universität Montreal haben gezeigt, dass über die Dauer der körperlosen Existenz Depressionen und andere mentale Probleme in extremem Maße zunehmen. Wir sind nicht für die Ewigkeit gemacht.

All das machte es mir natürlich nicht gerade leichter, meine Schwester um Geld zu bitten, um unserem Vater das Purgatorium zu ersparen.
Agnes verdient gut. Sie schreibt regelmäßig für große Magazine, sie tritt in Talkshows auf, sie hält Vorträge, und ihre Bücher und ihr Blog haben eine erstaunliche Zahl von Fans. Sie ist großzügig, wenn es um Geburtstagsgeschenke oder Spendenaktionen geht. Aber wenn es auch nur den geringsten Verdacht gibt, die Kirche könnte von etwas profitieren, dann könnte man sie genauso gut fragen, ob sie sich die Nase abschneiden möchte.
Wir mussten uns ungefähr tausend Beileidsbekundungen anhören. Die Hälfte der Leute kannte ich gar nicht, aber die meisten redeten länger mit mir als mit Agnes. Sie wollten gern sagen, dass Papa jetzt an einen besseren Ort kommen würde, und das fiel ihnen wohl leichter, wenn sie mit mir sprachen. Agnes sagte nichts dazu, aber man konnte ihr ansehen, was sie dachte.
Endlich hatten sich alle zerstreut. Ich wusste immer noch nicht recht, wie ich anfangen sollte.
„Kommst du mit?“, fragte ich schließlich.
„Ja, klar“, sagte Agnes. Sie sah gequält aus. „Weißt du noch, wie wir uns als Kinder bei der Beerdigung von Mamas Großtante über das Wort Leichenschmaus kaputt gelacht haben, weil es so sehr nach Zombieapokalypse klingt? Ich muss die ganze Zeit daran denken, und irgendwann werde ich anfangen zu lachen, und alle werden denken, ich bin komplett verrückt.“
„Das tun sie sowieso“, sagte ich. „Aber ich musste vorhin auch daran denken. Wenn du einen Lachanfall bekommst, halt dir einfach ein Taschentuch davor, dann glauben alle, du weinst.“
Julius warf mir einen ungeduldigen Blick zu, auf den ich gut hätte verzichten können.
„Wie lange bis du in der Stadt?“, fragte ich.
„Bis Dienstag noch. Ich hab mir ein Hotelzimmer genommen.“
„Wir hätten ein Gästebett für dich“, sagte ich. „Du kannst gerne …“
„Das Hotel ist okay“, sagte sie. „Das Netz dort ist besser.“
„Aber … können wir uns heute Abend zusammen setzen? Ein paar organisatorische Sachen klären?“
„Die Beerdigungskosten und so. Ja. Das wollte ich dir auch schon vorschlagen.“

Das hatte mir ein bisschen Hoffnung gemacht, dass es vielleicht nicht so schwierig werden würde. Aber ich bin schon immer zu optimistisch gewesen.
„Hör zu, ich übernehme den Bestatter, die Blumen und alles“, sagte Agnes. „Ich kümmere mich um den Papierkram. Alles was du willst. Aber mit Ablasshandel will ich nichts zu tun haben.“
Es ist eindrucksvoll, wie viel Wut meine Schwester in ein einziges Wort legen kann.
„Aber dann wird Papa …“
„Papa ist tot“, sagte sie. „Ich weiß, dass du darunter etwas anderes verstehst als ich. Aber wenn ich nach deiner Definition gehe, dann ist alles noch viel schlimmer. Verstehst du das nicht? Wenn das Backup – seine Seele – wirklich Papa wäre, dann wäre das Geiselnahme und Erpressung. Sie fordern Geld von uns, damit ihm nichts Schlimmes zustößt.“
„Und du willst zulassen, dass sie das mit ihm machen?“ Die philosophischen Argumente waren mir schon lange ausgegangen. Wir drehten uns im Kreis.
„Dass eine Simulation meines Vaters einem simulierten Fegefeuer ausgesetzt wird, um ihn von angeblichen Sünden zu reinigen? Ich halte das für widerlich und geschmacklos, aber ich lasse mich damit ganz bestimmt nicht erpressen.“
Agnes zündete sich eine neue Zigarette an. Seit heute Abend war unser Haus nicht mehr rauchfrei, wir hatten zu zweit den Aschenbecher gefüllt. Zum Glück passten Julius’ Eltern auf die Kinder auf.
„Was werfen sie ihm denn überhaupt vor? Er war doch ein Musterkatholik. Er ist jeden Sonntag in die Kirche gegangen, solange er noch die Kraft hatte.“
„Er hatte eine Affäre, sagt Laske. Mit einer Frau namens Corinna.“
„Was, deshalb?“ Agnes starrte mich entgeistert an. „Ist das sein Ernst?“
„Du wusstest das?“
Absurderweise fühlte ich einen Stich von Eifersucht. Agnes war immer das Papakind. Er hat ihr alles erzählt, selbst als sie in eine andere Stadt gezogen ist und wir nur ein paar Straßen weiter wohnten und uns um ihn gekümmert haben, als er krank wurde.
„Herrgott! Affäre … Er hat einmal auf einer Dienstreise einen Ausrutscher gehabt, und sich hinterher Riesenvorwürfe gemacht. Er hätte fast gekündigt, um von der Frau weg zu sein, aber sie hat dann sowieso geheiratet und ist weggezogen oder was weiß ich. Er wollte Mama nie weh tun. Ich hätte es dir erzählt, aber ich hatte ihm versprochen, den Mund zu halten, wenn er nicht selbst darüber spricht. Er hat es nie jemandem gesagt.“
„Außer dir“, sagte ich.
„Ich hab ihn eben gefragt, warum er so schlecht drauf war.“
Ich schwieg eine Weile. Wenn ich ehrlich war, wäre es mir ja auch lieber gewesen, nie von dieser Geschichte erfahren zu haben, aber trotzdem war ich sauer, dass Agnes davon gewusst hatte.
„Es gibt ein paar Fälle, wo Leute geklagt haben“, sagte sie schließlich. „Ich hab darüber geschrieben. Aber gewonnen hat keiner von denen. Mitgliedschaft in der Kirche heißt, deine Seele gehört denen. Da ist juristisch nichts zu machen.“
„Das ist ja auch bescheuert. Wenn man das Geld für einen Anwalt hat, der so eine Klage führt, dann kann man doch einfach den Ablass bezahlen.“
„Denen ging es ums Prinzip“, sagte Agnes. „Anwälte sind manchmal das kleinere Übel, ethisch gesehen.“
Ich lachte widerwillig. „Trotzdem, so was käme für mich nie infrage. Ich finde es richtig, dass die Kirche die Seelen prüft, bevor man ins Paradies kann, und dass … für Sünden bezahlt werden muss. Ich will Laske das Geld geben - wir können es uns nur im Moment nicht leisten. Ich würde es dir zurückzahlen, wenn du …“
„Die bekommen kein Geld von mir, auch nicht indirekt. Aber ich lasse mir etwas einfallen.“
„Was denn?“, fragte ich.
„Ich muss nachdenken. Ich glaube zwar nicht daran, dass Papa jetzt auf einem USB-Stick weiterlebt, aber ich werde sie nicht diese Mafianummer durchziehen lassen. Nicht mit meinem Vater.“

Aus: „Leben ohne Backup“ von Agnes Bachmann
Die Angst der Menschen vor einem eindeutigen Ende bringt wirklich perfide Geschäftsmodelle hervor. Man redet ihnen ein, dass gute Menschen es verdienen, ewig zu leben. Aber wie wird man ein guter Mensch? Selbst zu denken und dem eigenen Gewissen zu folgen ist schwer, aber es ist leicht, sich Regeln vorschreiben und beim Verstoß dagegen bestrafen zu lassen. Und wenn man der Strafe entgehen will? Auch dafür gibt es eine Lösung. Das ewige Leben, die Strafe für Verfehlungen und der Erlass der Strafe – alles ist aus einer Hand zu haben, solange man willens ist, dafür zu zahlen.
Es ist nicht einfach, diesen Sirenengesängen zu widerstehen. Sterblich zu sein ist nichts für Feiglinge. Ich nehme den Tod nicht auf die leichte Schulter. Und ich lasse mir von Menschen, die unsere Realität als Wartesaal begreifen, nicht an den Kopf werfen, dass mein Leben bedeutungslos ist oder dass ich keinen moralischen Kompass habe. Ich brauche kein künstliches Jenseits, um mich anständig zu verhalten. Gerade weil ich sterblich bin, gebe ich mich nicht mit Versprechungen zufrieden, dass später alles gut wird, und übernehme Verantwortung für mein Handeln im Hier und Jetzt.

Das Gebäude hob sich schwarz gegen den Abendhimmel ab, und es sah aus, als wäre der Vollmond auf der Turmspitze aufgespießt worden. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich beim Anblick unserer Kirche ein mulmiges Gefühl.
„Ganz ruhig, du musst bloß Schmiere stehen“, sagte Agnes.
Sie hatte leicht reden – als Journalistin ist sie es eben gewohnt, an Orte zu gehen, wo sie unerwünscht ist. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Aber als sie mich fragte, ob ich lieber nach Hause gehen wollte, sagte ich nein.
Der Chor probte an diesem Abend, Laske würde für einige Stunden in der Kirche sein und sein Büro unbesetzt lassen. Die Tür war nicht verschlossen, aber das sorgte nur dafür, dass ich mich noch schlechter fühlte.
Er vertraute seiner Gemeinde, und wir … wir kamen hierher, um die Kirche zu bestehlen. Vielleicht hatten die Leute ja Recht. Meine gottlose Schwester hatte offensichtlich einen schlechten Einfluss auf mich.
„Warte hier“, sagte Agnes. „Ich suche es.“
Ich blieb im Korridor und wanderte unruhig auf und ab, bis mir die Füße wehtaten. Als die Uhr im Kirchturm schlug, zuckte ich zusammen. So ungefähr muss sich Petrus gefühlt haben, als der Hahn krähte. Wie lange war Agnes schon da drin?
Ich sah zum Fenster hinaus und zählte die Schläge, und als ich mich umdrehte, stand Laske hinter mir. Ich bin schrecklich nutzlos als Schmieresteherin. Die Schläge der Uhr waren hier drin so laut, dass ich seine Schritte einfach nicht gehört hatte.
„Sophie!“, sagte er. „Guten Abend! Sie hätten anrufen sollen, dann hätte ich einen Termin mit Ihnen ausgemacht.“
„Oh – ich … ich wollte nur … ich muss wirklich ganz dringend mit Ihnen sprechen. Wegen meines Vaters.“ Ich stammelte weniger herum, als ich befürchtet hatte, aber mein Gesicht war heiß und vermutlich knallrot. Hoffentlich konnte er das im Halbdunkel nicht sehen.
„Natürlich, gern. Es ist nur, dass wir heute Chorprobe hatten, ich wäre normalerweise noch gar nicht zurück. Ich hoffe, Sie haben nicht allzu lange gewartet. Kommen Sie in mein Büro!“
Es brach mir das Herz, wie nett er zu mir war. Ich schämte mich so sehr, dass mir partout nichts einfiel, wie ich Agnes vorwarnen könnte. Ich konnte nur hoffen, dass sie uns gehört hatte und dass es in Laskes Büro irgendwo ein Versteck gab.
Als wir eintraten und er das Licht einschaltete, konnte ich sie nicht sehen. Für den Moment war ich erleichtert, bis mir auffiel, dass es nur einen möglichen Ort gab, wo sie sein konnte. Die Ecke neben der Tür.
„Möchten Sie eine Tasse Tee?“, fragte der Pater auf dem Weg zu seinem Schreibtisch. Er sah nicht durchsucht aus – Agnes war erschreckend gut in solchen Dingen.
Trotzdem rechnete ich jeden Moment damit, dass ihm etwas auffallen würde. Stattdessen sagte er: „Seien Sie so lieb und schließen Sie die Tür. Es zieht hier sonst wie Hechtsuppe.“
„Oh, aber ich bleibe nicht lang“, sagte ich verzweifelt. Wenn er mir kurz den Rücken zuwendete, hätte Agnes genug Zeit zu verschwinden, ohne dass er etwas bemerkte? Konnte ich ihn irgendwie ablenken?
„Trotzdem, bitte“, sagte er. „Glauben Sie mir, nach fünf Minuten bekommt man einen steifen Hals.“
Mir fiel nichts mehr ein. Ich bin auch furchtbar schlecht im Improvisieren. Ihm war bestimmt schon aufgefallen, dass ich mich merkwürdig benahm, aber wahrscheinlich dachte er, es wäre die Trauer. Bevor ich die Tür schloss, machte ich unwillkürlich die Augen zu – vielleicht glaubte das Kind in mir, wenn ich Agnes nicht sähe, würde sie unsichtbar sein.
„Mann“, sagte Agnes. „Das ist ziemlich peinlich.“ In Wahrheit lehnte sie mit verschränkten Armen an der Wand und wirkte kein bisschen verlegen.
Laske riss die Augen auf. „Sie sind auch hier? Warum …?“
Als sich das Verstehen auf seinem Gesicht abzeichnete, wollte ich am liebsten im Boden versinken. „Es tut mir so leid! Wir … ich … ich wollte den Ablass bezahlen, aber sie sagt, das ist …“
„Erpressung, ich weiß. Ich habe ihre Artikel gelesen.“
Der Pater schien nicht besonders aufgebracht zu sein. Er ging zu dem Aktenschrank in der Ecke des Raums, öffnete ihn und zog einen Ordner hervor. Er blätterte bis zum Ende, wo eine Klarsichthülle eingeheftet war, die einen silbernen Stick enthielt, und stellte die Akte zurück.
„Ihr Vater ist noch hier“, stellte er fest.
Agnes verdrehte die Augen.
„Ich kann Sie verstehen“, fuhr Laske fort. Er nahm meine Hand. „Sie sind in Trauer, und es war zweifellos ein Schock, von seiner Affäre zu erfahren. Menschen unter solcher Belastung … reagieren oft auf diese Weise. Ich werde nicht die Polizei rufen. Wir können darüber sprechen, wenn Sie das nächste Mal zur Beichte kommen. Und wenn ich Ihnen sonst irgendwie helfen kann, können Sie mich jederzeit anrufen.
Was Sie betrifft“, wandte er sich an Agnes, „Ihnen kann ich leider nicht mehr helfen.“
„Ihre Art von Hilfe brauche ich nicht.“
Ich seufzte insgeheim. Laske ließ uns so leicht davonkommen, musste sie wirklich so pampig reagieren? Ich griff nach ihrem Arm. „Lass uns gehen. Ich danke Ihnen, Pater. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was wir uns dabei gedacht haben.“
Ich rannte die Treppe runter, und zog Agnes hinter mir her, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Erst als wir den Schatten des Kirchturms hinter uns gelassen hatten, hielt ich kurz an, weil ich außer Atem war.
„Tut mir wirklich leid, ich weiß gar nicht, was wir uns dabei gedacht haben“, sagte Agnes mit sarkastischer Kleinmädchenstimme. Ich hasse es, wenn sie das macht.
Trotzdem sagte ich: „Hör zu, es tut mir leid.“
„Hör auf, dich zu entschuldigen. Es war Pech, dass er so früh zurückgekommen ist.“
„Nein“, sagte ich. „Ich will damit sagen, ich hätte dich nicht mit reinziehen sollen. Du glaubst nicht an Seelen und ans Fegefeuer und ans Paradies … für dich ist Papa für immer fort. Das ist nicht deine Sache. Ich treibe irgendwie das Geld auf. Es war falsch von mir, das umgehen zu wollen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Was die tun, ist falsch. Und das macht es zu meiner Sache.“
„Was hast du vor?“, fragte ich.
„Mal sehen“, sagte sie. „Zumindest weiß ich jetzt, wo er das Back- … die Seele aufbewahrt.“

Zweifel
Blogeintrag von Agnes Bachmann
Vier Tage nach der Beerdigung von Walther Bachmann
Ich habe immer die Ansicht vertreten, dass das, was Religionen und andere Geschäftemacher als „Leben nach dem Tod“ verkaufen, nicht echt ist. Der wirkliche Mensch, die eigentliche Person, hört auf zu existieren, wenn das Gehirn stirbt. Aber macht das wirklich einen Unterschied, für diejenigen, die sich solchen Praktiken ausliefern?
Wie ihr wisst, ist mein Vater gestorben. Das, was er für seine Seele gehalten hat, gehört jetzt der neokatholischen Kirche. Er hat geglaubt, dass seine Kirche ihn für seine sogenannten Sünden bestrafen muss, bevor er sein Leben nach dem Tod genießen darf. Sie können seine schlimmsten Schuldgefühle und seine tiefsten Ängste simulieren, und das künstliche Bewusstsein, das dem ausgesetzt ist, wird glauben, mein Vater zu sein.
Vielleicht machen wir Humanisten es uns zu einfach, wenn wir Seelen nicht als menschlich betrachten. Wenn wir sie einfach nur als das digitale Eigentum der jeweiligen Religionsgemeinschaft sehen, dann geht uns dieses ganze Geschäft nichts an, wir kümmern uns um die Wirklichkeit, in der es schon genug Menschenrechtsverletzungen zu beklagen gibt. Aber können wir es wirklich hinnehmen, was mit einem denkenden und fühlenden Bewusstsein in all den Höllen und Purgatorien passiert?
Ich danke allen Lesern für die Beileidswünsche und für eure Geduld. Mit meinen üblichen Postings geht es nächsten Freitag weiter. In der Zwischenzeit hat BlackRabbit sich freundlicherweise bereit erklärt, mich als Gastblogger zu vertreten. Seid nett zu ihm!

In den Tagen nach unserem erfolglosen Einbruch gab es viel zu tun, und obwohl Agnes in der Stadt geblieben war, sahen wir uns kaum, jedenfalls nicht unter vier Augen. Sie traf sich mit Leuten, die sie von früher kannte, oder telefonierte, oder tat beides gleichzeitig, und ich ging ihr ein bisschen aus dem Weg. Ich wurde auch ohne ihr Zutun schon dauernd daran erinnert, dass mein Vater nicht mehr unter uns war, oder daran, wo er jetzt sein musste – als würde man immer wieder über denselben Stein stolpern, und immer wieder dieselbe Wunde aufreißen.
Es war Lena, unsere Jüngste, die mich als erste auf die Nachricht aufmerksam machte.
„In der Schule haben sie gesagt, das Fegefeuer ist kaputt gegangen.“
Ich hätte es vielleicht als eine dieser merkwürdigen Kinder-Äußerungen abgetan, die aus falsch verstandenen mitgehörten Gesprächsfetzen und zuviel Phantasie entstehen, aber das Wort Fegefeuer ließ mich natürlich aufhorchen.
Es war überall die erste Meldung.
„In einem der schwersten Hackerangriffe der jüngeren Geschichte sind die Server der neokatholischen Kirche in Europa attackiert und schwere Schäden verursacht worden. Insbesondere ist das sogenannte Purgatorium, eine Simulation, die der Läuterung der Seelen Verstorbener dient, durch eingeschleuste Schadsoftware korrumpiert worden … Nach aktuellem Stand könnte der Datenverlust bis zu siebzigtausend Seelen allein in Deutschland betreffen.“
Ich war wie vor den Kopf geschlagen.
Eine dunkle Ahnung ließ mich Agnes’ Blog aufrufen, aber da war nur ein Typ namens BlackRabbit, der irgendwas über Giordano Bruno schrieb. Ihr Telefon war ständig besetzt.

Sie hatte mich den ganzen Tag nicht zurückgerufen, aber am Abend stand sie einfach vor unserer Tür. Zu diesem Zeitpunkt war ich möglicherweise schon ein wenig hysterisch. Statt einer Begrüßung hielt ich ihr mein Tablet mit den neuesten Nachrichten über die Attacke vors Gesicht und schrie sie an.
„Hast du das getan? Bist du völlig durchgedreht?“
Sie schob es zur Seite. „Ich bitte dich. Seit wann kann ich denn hacken?“
„Du hast Freunde, die das können.“
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. „Ich habe vielleicht eine Ahnung, wer dahinter steckt. Aber ich hab nichts damit zu tun. Ich heiße es übrigens auch nicht gut. Ich arbeite an einem Artikel über die ganze Sache, geht morgen online. Deswegen bin ich aber nicht hier.“
„Wenn du etwas darüber weißt, musst du zur Polizei gehen!“, sagte ich, immer noch aufgebracht. „Das war Massenmord!“
„Setz dich mal“, sagte sie. „Ich weiß nichts, ich habe eine Vermutung. Außerdem waren die Leute tot, und wenn es zutrifft, was über das Purgatorium gesagt wird, dann war es eher so was wie eine Massenerlösung.“
„Aber jetzt ist er ganz weg! Sie haben das Letzte zerstört, was von ihm noch da war. Er existiert einfach nicht mehr!“ Meine Augen brannten. Wenn ich aufhörte, wütend zu sein, würde ich wieder anfangen zu weinen.
„Das ist so, wenn jemand stirbt“, sagte Agnes. „Und die Welt wäre besser dran, wenn wir das einfach alle einsehen könnten. Trotzdem, ich habe dir was mitgebracht.“
Sie zog etwas aus ihrer Tasche und drückte es mir in die Hand. Es war silbern, hatte auf der Vorderseite ein Kreuz und auf der Rückseite ein Datum und einen Namen.
Ich las es mehrmals, ohne dass es in meinem Verstand einrastete.
„Ist das …?“
Agnes seufzte. „Ich bin mir nicht mehr sicher, was es ist, ehrlich gesagt. Ich hoffe, es ist ein Trost für dich. In der Altstadt gibt es so eine … ein Medium, nennt die sich glaube ich. Die hat die Software, um Backups abzurufen und dich mit ihnen reden zu lassen. Vielleicht … willst du dich so verabschieden. Ist billiger als die Kirche, und für Papa auch angenehmer, schätze ich.“
Ich starrte auf das kleine Gerät. Ich spürte sein Gewicht in meiner Hand und konnte trotzdem kaum glauben, dass es da war.
„Du bist noch mal bei Laske eingebrochen“, sagte ich schließlich.
„Das würde ich vor Gericht abstreiten“, sagte Agnes. „Nur dass du es weißt.“ Sie lächelte schief, und wischte sich schnell über die Augen. „Mann, ich vermisse ihn. Ich würde gerne glauben, dass noch etwas da ist, aber das ist so, als ob man versucht, sich selbst zu kitzeln. Ich kann mir nicht einreden, dass eine Datei das gleiche ist. Wenn sie damit anfangen, die Backups auf künstliche Körper zu überspielen, wird sich das immer noch beschissen anfühlen.“
Ich schwieg. Ich wollte ihr danken, ihr sagen, dass wir uns öfter sehen sollten, weil dieses Leben das einzige war, in dem wir Zeit miteinander verbringen konnten. Aber ich bekam keinen Ton raus.
Sie sah auf die Uhr. „Ich geh besser ins Hotel, ich muss morgen früh nach Berlin zurück. Mittagessen mit Chefredakteur und so.“
„Willst du … kommst du zu meinem Geburtstag?“, fragte ich.
„Weiß noch nicht, ob ich Zeit habe. Zumindest hast du jetzt schon eine Art Geschenk.“
Ich sah ihr lange nach.
In den Tagen darauf wollte ich sie oft anrufen, aber ich habe es nicht getan. Ich kann noch immer nicht in Worte fassen, was mir durch den Kopf geht.
Bei der Beerdigung haben mir so viele gesagt, dass unser Glaube uns hilft, besser mit dem Tod umzugehen. Ist das wirklich so?
Ich weiß es nicht mehr.
Und wenn wir nicht wissen, bleibt uns nur übrig zu glauben.

 
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Servus Perdita,

das wird jetzt keine umfassende Rezension, sondern nur ein - zwar kurzes - aber sehr großes Lob zu einer ganz tollen Geschichte.
Für mein Gefühl ist dir hier nämlich eine wirklich spannende Dystopie mit einem originellen und hochinteressanten Plot gelungen. Die Idee, ein menschliches Bewusstsein über den physischen Tod hinaus in digitalisierter Form zu erhalten um es dann, jeglichem eigenen Einfluss entzogen, den schrecklichsten (virtuellen = realen?) Qualen auszusetzen, ist eine furchtbar abstruse Vorstellung, aber sie macht einem einmal mehr bewusst, wie haarsträubend inhuman das Weltbild speziell der Katholischen Kirche eigentlich ist. Und so abwegig erscheint es mir nicht, dass, wie schon seit Jahrhunderten, auch in Zukunft es diesen Halsabschneidern in erster Linie nur um Machterhalt und vor allem um Geld gehen wird. Und wie schon seit Jahrhunderten wird sich wohl auch weiterhin eine erschreckend große Schafherde finden, die den erstunken und erlogenen Versprechungen dämlich blökend nachlaufen wird.
Als Mensch, dem jegliche Form von Religiosität genauso anachronistisch und, äh, infantil erscheint wie all der andere esoterische Hokuspokus, gehörte meine Sympathie natürlich von Anfang an der Antagonistin Agnes und ich kann sie nur bedauern, weil ihr Kampf gegen diese bizarren Auswüchse wahrscheinlich erfolglos bleiben wird, zeigt uns doch schon die reale Gegenwart, auf welch wackeligen Beinen der Geist der Aufklärung in Wahrheit steht, verglichen mit der weltweit gespenstisch wachsenden Religiosität, gleich welcher Glaubensrichtung. Ich getraue mich nicht zu hoffen, dass es in hundert Jahren viel besser ausschauen wird.

Toller Inhalt, tolle Dramaturgie, toll geschrieben, tolle Geschichte, Perdita.

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Hallo Perdita,

eine sehr spannende Geschichte zu einem fast aktuellen und fasziniernden Thema. Ich habe sie gerne und schnell gelesen.

Ich denke aber, auf einer Art USB-Stick wird man die vielfätigen Informationsmuster eines Gehirns nie abspeichern können. Bei mir wären es künstliche neuronale Zellinien in Petrischalen, die in komplexen Nährmedien bei konstantem pH-Wert und 37 Grad Celsius unter Kohlendioxidatmosphäre gehalten werden müssen. Die könnte man dann leider nicht ganz so einfach stehlen und wären nicht beim Pfarrer untergebracht. Aber die Zellen liessen sich leicht quälen, z. B. mit Temperatur- und pH-Schwankungen, Zugabe oder Wegnahme bestimmter Neurotransmittern und Hormonen, etc. Das würde aber am Inhalt Deiner Geschichte nichts ändern. Der Wahrheitsgehalt wäre aber höher.

Viele Grüsse
Fugusan

 

Moin Perdita,

da bin ich, Dein Kritiker ;)

Mich haben einige Dinge berührt: Mein eigener Vater ist mit 56 gestorben, was für ein Zufall … Weiterhin das Thema: Digitalisiere das Wissen eines Menschen und erhalte es für alle Zeit“ ist ein Thema, welches mich schon immer erhitzt hat (und das ich in Chraim ebenfalls bringe).

Deine Geschichte erinnert mich sehr stark an eine KG von Ballard oder Huxley oder …, nee, Bradbury war es, glaube ich. Dort wird ein Verstorbener konserviert und darf nach zig Jahren wieder auferstehen, für ein paar Stunden, und dann noch mal und dann noch mal, alle paar Jahre, um ihm zu ermöglichen, Wachstum und Vita seiner Kinder, Enkel und Urenkel zu verfolgen. Dabei baut sein Restkörper aber entsetzlich ab – er beginnt, komische Geräusche und Gerüche abzusondern usw. Am Ende sind alle froh, das er endlich für immer weg ist. Da gibt es auch Geschichten, in denen man mit eingefrorenen Patienten sprechen kann über die akustisch hörbar gemachten Aktivitäten der Großhirnrinde, oder mit Kranken wie in A.I.

Der Kniff mit den eingeschobenen Agnes-Werken gefällt mir ausnehmend gut. Du hast da auch einen anderen Ton, Sachbuch eben, verwendet, ist gut gemacht.

Das Gespräch mit Laske gefällt mir, eine lebendige Person für mich, der Pfarrer.

Der Tag der Beerdigung war schnell gekommen.

Das sind so marginale ... ich nenn es mal Fehler, wo ich glaube, dass Du das besser schreiben kannst. Ist ein Allerweltssatz, versuche ich immer zu vermeiden, so was und hätte vermutlich: „Der Tag der Beerdigung, Punkt“ geschrieben.

„In der Schule haben sie gesagt, das Fegefeuer ist kaputt gegangen.“

Geht schon mal in die Wertung ein für den KG-Satz des Jahres 2013 ;)

Was mir vielleicht grundsätzlich ein wenig das Vergnügen geraubt hat ist: Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine technologisch hoch entwickelte Zukunft besonders gläubig sein wird. Klar, es können immer wieder komische Dinge passieren, aber mal ehrlich, ein technisch hoch entwickeltes Land, nehmen wir Deutschland, Staaten, Japan, wird sich doch nicht durch die Kirche reinreden lassen. Außer eben, es ist eine Dystopie, dann hättest Du diese aber genauer zeichnen müssen.

Hat mir gefallen, danke, nastro.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Leute,

Vielen Dank für euer Feedback. Als ich den Text fertig hatte, war ich eine Weile sehr überzeugt davon, dass es der beste ist, den ich bis jetzt geschrieben habe. Aber gestern, als ich ihn gepostet habe, war ich schon wieder total verunsichert. Wenn die Phase der ersten Verliebheit erst mal vorbei ist, dann fallen einem nach und nach all die nervigen kleinen Schwächen auf - da merkt man dann plötzlich, wie die Geschichte schnarcht und immer das Klopapier falsch herum aufhängt ...
Deshalb haben mich die positiven Kommentare natürlich sehr gefreut.

Hallo ernst, besonders dein Kommentar hat meine Mittagspause sehr verschönert!

ernst offshore schrieb:
Die Idee, ein menschliches Bewusstsein über den physischen Tod hinaus in digitalisierter Form zu erhalten um es dann, jeglichem eigenen Einfluss entzogen, den schrecklichsten (virtuellen = realen?) Qualen auszusetzen, ist eine furchtbar abstruse Vorstellung, aber sie macht einem einmal mehr bewusst, wie haarsträubend inhuman das Weltbild speziell der Katholischen Kirche eigentlich ist.
Es ging mir nicht darum, eine spezielle Religion zu bashen ... aber der Katholizismus bot sich schon irgendwie an für die Geschichte. :) Solche ausgefeilten Jenseitsvorstellungen, mit solchen fast strafgesetzbuchmäßigen Prinzipien gibt es halt nicht in jeder Religion, zumindest nicht das ich wüsste.
Der Ausgangspunkt war ganz allgemein die Frage: Wie würden sich die heute verbreiteten religiösen Vorstellungen verändern, wenn es ein künstliches Leben nach dem Tod gäbe? Und da kam ganz schnell die Idee mit diesem Ablasshandel 2.0. Mich hat das immer fasziniert, dass das im Mittelalter so ein Riesengeschäft war, und die Leute der Kirche so viel Geld gegeben haben, nur für dieses Versprechen: dafür müssen eure Verstorbenen nicht so lange leiden, bevor sie in den Himmel kommen. Deshalb hat es mich echt gereizt, das in einen modernen Kontext zu übersetzen.

ernst offshore schrieb:
Und so abwegig erscheint es mir nicht, dass, wie schon seit Jahrhunderten, auch in Zukunft es diesen Halsabschneidern in erster Linie nur um Machterhalt und vor allem um Geld gehen wird. Und wie schon seit Jahrhunderten wird sich wohl auch weiterhin eine erschreckend große Schafherde finden, die den erstunken und erlogenen Versprechungen dämlich blökend nachlaufen wird.
Es ist merkwürdig, je länger ich an der Geschichte geschrieben habe, desto milder habe ich angefangen, das zu betrachten. Nicht diese Verquickungen mit Macht und Geld, darüber kann ich mich furchtbar aufregen.
Aber den Impuls, an diese Versprechungen glauben zu wollen, den verstehe ich schon. Erst vor kurzem hat mir ein kleines Kind erzählt, dass seine Oma gestorben ist und dass es sie später im Himmel wiedersieht. In so einer Situation würde ich es nie übers Herz bringen zu sagen: Höchstwahrscheinlich nicht. Und viele bringen es halt nicht mal übers Herz, das zu sich selbst zu sagen. Ich will da keinem einen Vorwurf draus machen, außer denen, die diese menschlichen Regungen benutzen, um Kapital draus zu schlagen.

ernst offshore schrieb:
Als Mensch, dem jegliche Form von Religiosität genauso anachronistisch und, äh, infantil erscheint wie all der andere esoterische Hokuspokus, gehörte meine Sympathie natürlich von Anfang an der Antagonistin Agnes und ich kann sie nur bedauern, weil ihr Kampf gegen diese bizarren Auswüchse wahrscheinlich erfolglos bleiben wird
Ich würde sie nicht als Antagonistin bezeichnen. Sie vertritt auf jeden Fall meinen Standpunkt in der Geschichte :). Aber ich dachte mir, wenn ich sie als Erzählerin nehme, wird die Geschichte vielleicht zu einseitig. Als jemand, der das Ganze von einer Außenseiterperspektive betrachtet, war sie sehr gut geeignet, um die Hintergründe zu beleuchten und so, aber ich wollte auch die "Innensicht", also jemanden, der daran glaubt.

ernst offshore schrieb:
Toller Inhalt, tolle Dramaturgie, toll geschrieben, tolle Geschichte, Perdita.
Vielen Dank für die Blumen :)

Hallo Fugusan!

Fugusan schrieb:
Ich denke aber, auf einer Art USB-Stick wird man die vielfätigen Informationsmuster eines Gehirns nie abspeichern können.
Ja, aus wissenschaftlicher Sicht gibt es in der Geschichte etliche Schwachstellen. Das geht schon los damit, dass man eine negative Tatsache (es gibt kein Leben nach dem Tod, außer man programmiert eins) gar nicht beweisen kann. Und ein menschliches Bewusstsein auf einem USB-Stick abspeichern - ich hab geahnt, dass richtige SciFi-Puristen mich dafür verhauen würden. :)
Aber ich selber gehe da auch nie so puristisch ran. Zeitreisen und Flüge mit Überlichtgeschwindigkeit sind wahrscheinlich auch nicht möglich. Aber man kann so schön damit spielen!

Fugusan schrieb:
Aber die Zellen liessen sich leicht quälen, z. B. mit Temperatur- und pH-Schwankungen, Zugabe oder Wegnahme bestimmter Neurotransmittern und Hormonen, etc. Das würde aber am Inhalt Deiner Geschichte nichts ändern. Der Wahrheitsgehalt wäre aber höher.
Es wäre vielleicht realitätsnäher, aber die "Wahrheit" die drin steckt, wäre die gleiche, behaupte ich.
Es geht ja nicht um Quälerei. Die Kirche spielt da nicht spanische Inquisition in der Geschichte. Die spielt Gott. Es geht denen darum, die Seelen der Leute zu bestrafen. Dieser Mensch, der in seinem Leben Verfehlungen begangen hat, der muss das jetzt einsehen, und dafür büßen.
Deshalb muss es schon das Bewusstsein sein, mit allen Erinnerungen. Ich stelle mir das auch nicht so vor, dass das Purgatorium da aus körperlichen Qualen besteht, Körper haben die ja gar nicht mehr. Das ist psychologische Folter.
Es wird ja auch so ein bisschen angedeutet, dass diese Bewusstseinskopien die "Ewigkeit" und die Erfahrung der Köperlosigkeit auf die Dauer nicht aushalten, selbst ohne Purgatorium. Das war einer der Hintergedanken: Das ewiges Leben vielleicht gar nicht so erstrebenswert ist. Der andere Hintergedanke ist, dass auch die Gewissheit, dass der Tod nicht das Ende sein muss, nicht notwendigerweise über den Schmerz hinweghilft, wenn man einen geliebten Menschen verliert.
Klar ist das sehr simplifiziert, mit dem USB-Stick. Aber der eignet sich so gut als Symbol! Vor allem den Schluss könnte ich mir ohne den ganz schlecht vorstellen, und auf den Schluss lege ich sehr viel Wert.

Hallo nastro!

Freut mich sehr, dass du kommentiert hast, gerade weil du das Thema des körperlosen Bewusstseins und des "ewigen Lebens" in diesem Zustand auch gerade bearbeitet hast. :)

nastroazzurro schrieb:
Da gibt es auch Geschichten, in denen man mit eingefrorenen Patienten sprechen kann
Ja, ich glaube in "Ubik" von Philip K. Dick gab es das, dass die Toten eingefroren werden, und man kann dann noch eine Weile mit ihnen reden. Die Vorstellung fand ich ganz schrecklich, "Halbleben", heißt das da glaube ich - aber wenigstens ist es zeitlich begrenzt.

nastroazzurro schrieb:
Der Kniff mit den eingeschobenen Agnes-Werken gefällt mir ausnehmend gut. Du hast da auch einen anderen Ton, Sachbuch eben, verwendet, ist gut gemacht.
Da bin ich sehr sehr froh, dass das funktioniert. Als ich zum ersten Mal jemandem von der Idee erzählt habe, war die Reaktion: Das ist ja Stoff für einen Roman. Also das war gleich klar, dass ich da ein Riesenfass aufmache, was gewisse Ähnlichkeit mit der Büchse der Pandora hat. :)
Deshalb habe ich gleich beschlossen: Ich mache das nur ganz kurz auf, ziehe eine Kurzgeschichte raus, und mach den Deckel wieder drauf. Ich hab mich gleich festgelegt, dass es nur sehr wenige zentrale Figuren geben wird, und dass ich die ganzen historischen und philosophischen Hintergründe nur ganz knapp beschreibe, so dass es grade ausreicht, um die Geschichte nachzuvollziehen. Die Texte von Agnes waren der beste Weg, der mir einfiel, um das sehr kompakt, aber auf sinnvolle Art und Weise in die Geschichte reinzubringen. Ich war mir aber überhaupt nicht sicher, wie sich das auf den Lesefluss auswirkt.

nastroazzurro schrieb:
Das Gespräch mit Laske gefällt mir, eine lebendige Person für mich, der Pfarrer.
Auch das hat mich sehr froh gestimmt. Es war mir wichtig, dass es keine Feindbilder in der Geschichte gibt. Als Institutionen sind mir Kirchen unsympathisch, aber es ist ja keineswegs so, dass dort nur fiese geldgierige Zyniker arbeiten. Es gibt auch ein reales Vorbild für den Pater Laske. :)

nastroazzurro schrieb:
Das sind so marginale ... ich nenn es mal Fehler, wo ich glaube, dass Du das besser schreiben kannst. Ist ein Allerweltssatz, versuche ich immer zu vermeiden, so was und hätte vermutlich: „Der Tag der Beerdigung, Punkt“ geschrieben.
Hmm ... mir sind so ganz generell vollständige Sätze lieber. Ich versteh dich schon, das ist recht 08/15 formuliert, aber das ist inhaltlich keine besonders herausragende Stelle, deshalb denke ich, die muss jetzt auch sprachlich nicht besonders herausragen ... ich denke mal nach, ob ich das irgendwie verschönern kann, und trotzdem als ganzen Satz behalten.

nastroazzurro schrieb:
Was mir vielleicht grundsätzlich ein wenig das Vergnügen geraubt hat ist: Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine technologisch hoch entwickelte Zukunft besonders gläubig sein wird. Klar, es können immer wieder komische Dinge passieren, aber mal ehrlich, ein technisch hoch entwickeltes Land, nehmen wir Deutschland, Staaten, Japan, wird sich doch nicht durch die Kirche reinreden lassen. Außer eben, es ist eine Dystopie, dann hättest Du diese aber genauer zeichnen müssen.
Na ja, die USA sind ein technisch hoch entwickeltes Land ... allerdings in vieler Hinsicht ein Sonderfall.
Ich habe mir das auch nicht so vorgestellt, dass die Kirche da jetzt ungeheuer an Bedeutung zugelegt hat. Die Geschichte legt halt den Fokus auf diese eine Familie, die nun mal katholisch ist. Es wird so nebenbei erwähnt, dass es auch zahlreiche andere "Jenseitsangebote" gibt - auch nichtreligiöse. Dass das viele Leute nutzen würden, denke ich schon. Wenn man genug Geld hat, kriegt man halt ein maßgeschneidertes virtuelles Paradies, und die Leute mit kleinerem Geldbeutel gehen halt zu einem Medium und reden dort mit den Verstorbenen ... mit Séance-Software :)

Die Leute, die diesen ganzen Extra-Deal mitmachen, von wegen: Wenn du dich an alle unsere Regeln gehalten hast, kommst du ins Paradies, anderenfalls müssen wir dich zuerst einer Läuterung unterziehen - das ist eine Minderheit. Man kann sich natürlich fragen, warum würde sich das jemand antun, wenn er auch ein Angebot ohne solche Haken in Anspruch nehmen könnte - aber ich denke, da gibt es einige Erklärungsmechanismen. Man fühlt sich vielleicht moralisch überlegen ("wir müssen uns unsere Belohnung nach dem Tod verdienen, und erkaufen sie nicht einfach"), oder beruft sich auf die Tradition ("unsere Familie ist immer katholisch gewesen") und beschäftigt sich nicht groß damit, was das eigentlich bedeutet, niemand denkt ja gerne über seinen eigenen Tod nach.

Ich habe eine ganze Weile darüber nachgedacht, Walther, den verstorbenen Vater, auch in der Geschichte zu Wort kommen zu lassen, und seine Erfahrungen im Purgatorium zu beschreiben. Dann hätte ich das noch mehr beleuchtet, wie der Glaube dieser Leute aussieht, und warum die das glauben, und da wäre noch mehr Familiengeschichte drin gewesen und und und. Aber ich will mir das abgewöhnen, immer alle Gedanken, die ich mir zu einer Geschichte mache, in den Text zu stopfen und so lange Geschichten mit zwanzig Seiten zu schreiben.
Außerdem gefällt es mir auch ganz gut, dass das Leben nach dem Tod in der Geschichte so eine quasi mystische Qualität behält, obwohl es künstlich erzeugt ist - niemand hat genaue Vorstellungen davon, wie es eigentlich aussieht, das wird nie im Detail diskutiert, und es gibt immer noch geteilte Meinungen darüber, ob es denn eigentlich "real" ist.

 

Wow, das war der Hammer. Für mich die Geschichte des Jahres! Es gab nichts, was mich gestört hätte, tolles Thema, tolle Idee, tolle Ausarbeitung, uneingeschränkt schön zu lesen.

 

Hallo Perdita,

Du bringst meinen ganzen Tag durcheinander ;). Habe mich heute morgen – statt die Gewinne meiner Firma zu maximieren – mit Ablasshandel und Fegefeuer beschäftigt. Weiß jetzt darüber (ein bissel) Bescheid – außerdem über Himmel und Hölle und Limbus (den kannte ich bisher nur aus Inception). Hab vor zehn Jahren mal diesen Lutherfilm mit Joseph Fiennes gesehen, der ist nicht komplett hängen geblieben, den muss ich mal wieder hervorkramen.

... aber der Katholizismus bot sich schon irgendwie an für die Geschichte. Solche ausgefeilten Jenseitsvorstellungen, mit solchen fast strafgesetzbuchmäßigen Prinzipien gibt es halt nicht in jeder Religion …

Ich hatte das erste Mal Weihnachten 1989 mit dem Katholizismus zu tun – in einer württembergischen Kirche. Die Abläufe der heiligen Messe an diesem Abend waren mir nicht weniger fremd als es Jahre später Gottesdienste in Russland und Istanbul waren.
Freilich, wenn man damit aufgewachsen ist, ist das alles okay, hilfreich, gnadenbringend. Hab ich nix dagegen, wenn’s hilft. Für Deine Geschichte eignet es sich jedenfalls wie Mehl zum Brotbacken.

Und so abwegig erscheint es mir nicht, dass, wie schon seit Jahrhunderten, auch in Zukunft es diesen Halsabschneidern in erster Linie nur um Machterhalt und vor allem um Geld gehen wird. Und wie schon seit Jahrhunderten wird sich wohl auch weiterhin eine erschreckend große Schafherde finden, die den erstunken und erlogenen Versprechungen dämlich blökend nachlaufen wird.

… meint Ernst und ja, da hat er wohl Recht, aber das trifft im weiteren Sinne ja auch auf Apple und McDonalds und Pro7 zu.

Erst vor kurzem hat mir ein kleines Kind erzählt, dass seine Oma gestorben ist und dass es sie später im Himmel wiedersieht.

Hab meinen Kindern da immer, dem Alter angemessen, die Wahrheit erzählt.
Ganz schlimm finde ich ja diese Scheiße mit dem Weihnachtsmann. Darf man seinem Kind nicht einfach sagen: „Wir beide schenken uns was, weil wir uns mögen und ich freue mich, das Du dieses Jahr so lieb warst?“ Muss dem armen Balg immer noch Angst vor einem rutenschwingenden Knecht Ruprecht gemacht werden?

Zeitreisen … sind wahrscheinlich auch nicht möglich.

Was? Da bin ich jetzt aber verwirrt … :confused:

Ja, ich glaube in "Ubik" von Philip K. Dick

Richtig, da steht es ja, direkt vor mir. Dick ist gut, ne?

Das ist ja Stoff für einen Roman.

Und ich würde Dir raten, einen zu schreiben. Wenn man schon mal so eine Idee hat, sollte man das nutzen – mit dem Nachteil, dass wir Dich dann hier kaum noch sehen.

Leben ohne Backup.

Tolle Idee, die Du hattest. Wenn man’s so nimmt, sind wir ja die erste Generation Menschen, welche digitale und damit unzerstörbare, niemals ausbleichende oder in ihrer Qualität nachlassende Bild- und Ton aufnahmen hinterlassen. Das dürfte besonders gruselig werden, für jene, die jetzt gleich mal nackig posieren, da stell ich mir dann 2065 die entsetzte Enkelin beim Betrachten von Omas Videos vor …

Was vom Leben bleibt.

Ist für mich wahrscheinlich einer der Gründe, zu Schreiben. Weil vielleicht mal etwas qualitativ so gutes dabei herauskommt, das es meine Kinder den Enkeln vererben.
Ein reines Backup meiner Gedanken – das ist natürlich eine eitle Sache.

Noch eine Kleinigkeit:

„Das Hotel ist okay“, sagte sie. „Das WLAN dort ist besser.“

Würde ich „Netz“ oder irgendwie anders benennen, denn WLAN ist ganz eindeutig ein Begriff der Jahre 1995-2020.

Ciao, nastro.

 

Hallo perdita,

eine starke Geschichte hast du da abgeliefert. Verschiedene Autoren wie Dick, Bradbury usw. wurden hier schon genannt, und ich denke in diesem Umfeld braucht sich deine Geschichte auch nicht verstecken.

Das Bewusstsein als Backup abzuspeichern, damit die Kirche einen neuen Ablasshandel aufzieht - Das ist einfach eine herrlich erfrischende (Und auf positive Weise beunruhigende Idee)

Zunächst noch ein paar Kleinigkeiten:

Aber als der Anruf kam, hatte ich für einen Moment diese absurde Hoffnung, dass alles ein Irrtum gewesen war und sie anriefen, um zu sagen er werde entlassen.

Puh, was für ein Ungetüm! Ich meine, ich will dir keinen Schreibstil aufdrängen, geht ja eh nicht. Aber im weiteren Verlauf hältst du dich satzmäßig knapper, vielleicht könnte man den dann auch noch aufdröseln?

„Ich bin froh dich zu sehen“

Ganz sicher bin ich nicht, aber mein Gefühl sagt mir, da gehört ein Komma hinter froh.

Talkshows sehe, wo sie unseren Glauben herzieht

Da fehlt "über"

ein klein wenig hysterisch.

Bischen viel. Ein wenig hysterisch würde auch reichen.

Aber ich kriegte keinen Ton raus.

Finde ich ein bischen arg umgangssprachlich. Vielleicht "bekam" statt "kriegte".

Und wenn wir nicht wissen, bleibt uns nur übrig zu glauben.

Wenn man übrig streicht, kommt die Poesie im Satz stärker durch.

Jetzt allgemein:

Die Geschichte gefällt mir, wie gesagt, gut. Zwei Dinge haben mich allerdings gestört:

1. Agnes:

Ich fand die Charakterisierung an manchen Stellen nicht ganz schlüssig. Klar, sie ist Journalistin und wehrt sich gegen die Machenschaften der Kirche. Aber dann ist sie mir immer noch ein wenig zu tough. Manchmal, wie beispielsweise beim Einbruch, benimmt sie sich wie fast wie eine Geheimagentin. Das passte irgendwie nicht so recht...

2. Die Gegenaktion:

Hängt mit Punkt 1 zusammen. Die Kirche hat diese Backups, treibt Handel mit der Erlösung. Und dann kann man einfach so in das Büro des Pfarrers spazieren, wo die Sticks in einem Ordner aufbewahrt werden? Das finde ich nicht logisch. Bei einer derartigen Dimension würden sie die Sticks wie Gold hüten. Die wären sicher in Safes verräumt, Wachen würden patroullieren etc. Die Kirche war im Mittelalter auch sehr gut darin, ihre expandierende Macht durch Ritterorden abzusichern (Man denke nur an die Templer).

Du schreibst selbst:

als hätte man einem Bankräuber, dem vorher nur eine Spielzeugpistole zur Verfügung stand, eine scharfe Waffe in die Hand gegeben.

Das ist richtig. Aber ich bin mir sicher, die Kirche würde diese scharfe Waffe auch mit echten scharfen Waffen verteidigen. Das müsste sie sogar.

Den Hackerangriff finde ich dagegen plausibel. Schließlich wurden auch schon tausende Daten aus dem Pentagon gestohlen usw.

Nur: Wenn dass jetzt so einfach ging, - innerhalb von ein paar Tagen - warum hat Agnes, als schärfste Kritikerin und beinahe Freiheitskämpferin das nicht früher angeleiert?
Wollte sie die ganze Zeit auf den richtigen Moment warten?
Natürlich kann man anführen, dass sie durch den Tod ihres Vaters jetzt zum äußersten schreiten wollte.
Das kann sein, aber mir ging dieser Riesenangriff am Schluss einfach zu schnell.

Du hast selbst gesagt, du möchtest dich kürzer fassen. Ich frage mich aber, ob das bei einer derart komplexen Story so angebracht ist.

Und was sind schon 20 Seiten? Viele Geschichten, die hier gepostet werden, haben zwar weniger (auch meine). Aber seien wir ehrlich: Bei einem Verlag in einer KG-Sammlung würden die auf keinen Fall veröffentlicht werden.

Wenn ich eine durchschnittliche Kurzgeschichte von Stephen King hier reinposten würde, hätte die auf jeden Fall 25 DinA4 Seiten.

Also ich plädiere für Mut zur Länge! Wenn die Geschichte gut ist, soll sie lang sein ;)

Oh gott, das hört sich jetzt nach furchtbar viel Gemäkel an. Dabei find ich deine Geschichte doch gut! Wirklich! Sind nur die Gedanken, die mir so gekommen sind...

Liebe Grüße
Unbeliever

 
Zuletzt bearbeitet:

Guten Abend!

Ich habe mich darauf gefreut, über die Geschichte diskutieren zu können, aber die Kommentare sind sogar noch spannender, als ich erwartet habe. Ich bin ganz begeistert! Vielen Dank dafür, und für die Detailanmerkungen zum Text. Ich habe schon mal ein paar kleine Reparaturen vorgenommen.

Hallo RichardB!

RichardB schrieb:
Wow, das war der Hammer. Für mich die Geschichte des Jahres! Es gab nichts, was mich gestört hätte, tolles Thema, tolle Idee, tolle Ausarbeitung, uneingeschränkt schön zu lesen.
Also, ich komme ja hierher für die kritische Auseinandersetzung mit meinen Texten, aber es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass mich so ein Kommentar nicht glücklich macht. :D
Die Geschichte des Jahres ist für mich aber die Alabasterlüge. :)

Hallo nastro!

Vielen Dank für die Empfehlung. Das ist ein unerwartet tolles Gefühl, den Titel meiner Geschichte auf der Startseite zu sehen. :)

nastroazzurro schrieb:
Habe mich heute morgen – statt die Gewinne meiner Firma zu maximieren – mit Ablasshandel und Fegefeuer beschäftigt.
Es sei dir vergeben :D.

nastroazzurro schrieb:
Hab meinen Kindern da immer, dem Alter angemessen, die Wahrheit erzählt.
Bei eigenen Kindern würde ich das auch tun. Aber bei den Kindern anderer Leute, die religiös erzogen werden, hätte ich kein gutes Gefühl dabei.

nastroazzurro schrieb:
Dick ist gut, ne?
Ja! Was Auseinandersetzung mit religiösen Ideen in Science Fiction angeht, hat er glaube ich die besten Sachen überhaupt geschrieben, zumindest von dem, was ich bis jetzt gelesen habe.

nastroazzurro schrieb:
Und ich würde Dir raten, einen zu schreiben. Wenn man schon mal so eine Idee hat, sollte man das nutzen – mit dem Nachteil, dass wir Dich dann hier kaum noch sehen.
Ich hab jetzt gerade noch mehrere Ideen in Arbeit, die sich alle ziemlich gut für Kurzgeschichten eignen. Aber vielleicht versuche ich dieses Jahr wirklich mal, NaNoWriMo durchzuhalten ... :)

nastroazzurro schrieb:
Würde ich „Netz“ oder irgendwie anders benennen, denn WLAN ist ganz eindeutig ein Begriff der Jahre 1995-2020.
Danke, das hab ich gemacht. WLAN hat mir gleich nicht so gefallen, weil es ja eigentlich kein richtiges Wort ist, aber die Alternativen, die mir eingefallen sind, wie "Netzqualität" oder so, waren alle zu sperrig. Manchmal kommt man alleine nicht auf die naheliegendsten Dinge!

Hallo Unbeliever!

Unbeliever schrieb:
Oh gott, das hört sich jetzt nach furchtbar viel Gemäkel an. Dabei find ich deine Geschichte doch gut!
Ich habe mich sehr gefreut über das Gemäkel! Wenn jemand so gründlich liest und einem so viel dazu einfällt, das spricht doch für den Text, finde ich. Deine Verbesserungsvorschläge habe ich alle umgesetzt, bis auf den sperrigen Satz am Anfang. Da gebe ich dir auch Recht, der ist wirklich sperrig, aber mir ist noch keine gute Lösung eingefallen.

Unbeliever schrieb:
Ich fand die Charakterisierung an manchen Stellen nicht ganz schlüssig. Klar, sie ist Journalistin und wehrt sich gegen die Machenschaften der Kirche. Aber dann ist sie mir immer noch ein wenig zu tough. Manchmal, wie beispielsweise beim Einbruch, benimmt sie sich wie fast wie eine Geheimagentin. Das passte irgendwie nicht so recht...
Ich glaube, dieser Eindruck hängt damit zusammen, dass du dir von der Kirche eine andere Vorstellung gemacht hast als ich. :) Sie könnte natürlich durchaus Ärger bekommen, für das unbefugte Eindringen und den Versuch, zu klauen - aber halt ganz normalen juristischen Ärger. In Sachen Leben nach dem Tod kann die Kirche ihr nichts mehr anhaben, weil sie ja keine Backups machen lässt und nicht mehr Mitglied ist. Außerdem kennt sie denn Pater Laske auch gut, ich denke sie hat durchaus damit gerechnet, dass er sie nicht anzeigen würde, wenn er sie erwischt. Also so tough ist die Aktion gar nicht aus meiner Sicht. :)

Unbeliever schrieb:
Hängt mit Punkt 1 zusammen. Die Kirche hat diese Backups, treibt Handel mit der Erlösung. Und dann kann man einfach so in das Büro des Pfarrers spazieren, wo die Sticks in einem Ordner aufbewahrt werden? Das finde ich nicht logisch. Bei einer derartigen Dimension würden sie die Sticks wie Gold hüten. Die wären sicher in Safes verräumt, Wachen würden patroullieren etc. Die Kirche war im Mittelalter auch sehr gut darin, ihre expandierende Macht durch Ritterorden abzusichern (Man denke nur an die Templer).
Das finde ich sehr interessant, das ist auch so etwas, wo die Interpretationen in eine andere Richtung gehen, als meine ursprüngliche Vorstellung beim Schreiben, oder vielleicht nicht in eine andere Richtung, aber deutlich weiter nach oben auf der Dystopie-Skala.
Ich habe mir nämlich gar nicht vorgestellt, dass die Kirche da sehr viel mächtiger geworden ist. Ich bin von der aktuellen Situation ausgegangen und habe versucht mir vorzustellen, was sich ändern würde, wenn es diese Möglichkeiten der Bewusstseinsspeicherung gäbe. Also die Kirche hat da rechtlich und gesellschaftlich einen ganz ähnlichen Status wie hier und heute. Wenn da etwas wichtiges passiert - Papstwahl oder Hackerangriff - dann wird das schon von der Öffentlichkeit wahrgenommen, und es gibt auch relativ zahlreiche Anhänger, die sich mehr oder weniger an die Vorschriften halten - aber die Kirche hat da jetzt keinen weltlichen Machtapparat wie im Mittelalter. Wenn denen einer was klaut, müssen die das ganz normal bei der Polizei anzeigen und hoffen, dass bei den Ermittlungen etwas rauskommt.
Deshalb funktioniert die Verwaltung auch so wie beschrieben - da gibt es Akten für jedes Mitglied, mit Taufscheinen, Eheurkunden, und was es da halt so alles gibt, und zusätzlich eben einem Datenträger mit dem aktuellen Backup. Dafür gibt es extra ein neues Sakrament - die Conservatio - wo regelmäßig eine neue Version abgespeichert wird.
Und insgeheim habe ich mir noch etwas gedacht, was aber in der Geschichte nicht offen gesagt wird - dass der Pater möglicherweise ein Auge zudrückt und den Diebstahl von Walthers Seele zulässt. Es wird ja angedeutet, dass er nicht ganz glücklich ist mit dieser Notwendigkeit, ihn bestrafen zu müssen. Der liest auch die Artikel von Agnes, was ein überzeugter Anhänger der reinen Lehre vermutlich nicht tun würde. Und der hat die beiden Schwestern in seinem Büro ertappt, ohne anschließend die Akte woanders hinzuräumen oder bessere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen ...
Ich muss jetzt überlegen, ob ich meine Intention eindeutiger machen kann, bzw. ob das nötig ist. Ich finde es eigentlich schön, wenn verschiedene Interpretationen möglich sind, aber wenn sich dann Logiklöcher auftun, ist das natürlich nicht so gut.

Unbeliever schrieb:
Aber ich bin mir sicher, die Kirche würde diese scharfe Waffe auch mit echten scharfen Waffen verteidigen. Das müsste sie sogar.
Na ja, das mit dem Bankräuber ist eine Metapher, und sehr zugespitzt. Ich hab bei diesen Ausschnitten aus Agnes' Büchern versucht, diesen Ton zu treffen, den Richard Dawkins und Christopher Hitchens gerne anschlagen (bzw. angeschlagen haben).
Das soll halt aussagen: Vorher war es nicht echt, jetzt ist es das schon - zumindest wenn man philosophisch auf dem Standpunkt steht, dass eine Kopie des Bewusstseins wirklich das gleiche ist wie das Originalbewusstsein des Menschen, und nicht bloß eine Simulation...

Unbeliever schrieb:
Wenn dass jetzt so einfach ging, - innerhalb von ein paar Tagen - warum hat Agnes, als schärfste Kritikerin und beinahe Freiheitskämpferin das nicht früher angeleiert?
Das ist auch so etwas, wo ich anders gedacht habe. Meine Idee war nämlich, dass Agnes wirklich nichts mit dem Hackerangriff zu tun hatte. Sie kennt natürlich viele antikirchliche Gruppierungen, deshalb ahnt sie auch, wer dahinter steckt. Aber sie würde sie nicht dazu aufstacheln. Es würde ihren Ruf als seriöse Religionskritikerin gefährden, wenn sie mit radikalen und illegalen Aktionen wie dieser in Verbindung gebracht würde.
Außerdem war ihr Standpunkt ja immer: Seelen sind nicht "real", und das virtuelle Jenseit ist nicht echt, das sind alles Simulationen. Ihr Hauptproblem damit war, dass es benutzt wird, um Leute zu manipulieren und ihnen Geld aus der Tasche zu ziehen. Sie fängt erst an zu zweifeln, als ihr Vater stirbt: Dieses kopierte Bewusstsein ist vielleicht nicht mein echter Vater - aber das weiß es selbst nicht. Für die Seele macht es keinen Unterschied, ob sie in Wahrheit nur ein Haufen Bytes ist, die leidet trotzdem.
Also sie klaut die Seele, und dann passiert der Hackerangriff. Jetzt im Nachhinein seh ich auch, dass das ein ziemlich großer, unglaubwürdiger Zufall ist :D. Das ist auch so etwas, wo mehrere Interpretationen möglich sind, und ich mir jetzt Gedanken machen muss, ob ich diese Interpretationsmöglichkeiten einschränken sollte.

Unbeliever schrieb:
Du hast selbst gesagt, du möchtest dich kürzer fassen. Ich frage mich aber, ob das bei einer derart komplexen Story so angebracht ist.

Und was sind schon 20 Seiten?

Ich habe ja schon öfter sehr lange Kurzgeschichten geschrieben. Und ich bin ganz stolz darauf, dass ich das jetzt besser kontrollieren kann als früher, wo mir die Geschichten manchmal einfach aus dem Ruder gelaufen sind und ich dann nicht mehr wusste, wie ich die kürzer machen könnte.
Aber in dieser Idee steckt natürlich wirklich Potenzial für etwas Längeres. Da denke ich auch intensiv drüber nach, vor allem weil das in mehreren Kommentaren gesagt wurde.

Vielen Dank euch allen, das macht mir sehr viel Spaß!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo,

Er hat Agnes und mir Kommunionsunterricht gegeben, mich und Julius getraut, und unsere drei Kinder getauft.
Das ist nicht gut. Das muss irgendwie anders gehen. Das mit dem „Kommunionsunterricht gegeben“ geht nicht mit diesem Dreiklang zusammen, weil das kein klares Verb ist. Die Idee ist hier: gekommuniert, getraut, getauft. Nur ist „kommuniert“ kein Verb und das killt dir hier die sprachliche Idee. Dann muss man das aufbrechen und mit Scharnierstellen machen.
Ich kenne ihn seit er mir und Agnes damals Kommunionsunterricht gegeben hat. Später hat er mich mit Julius vermählt. Noch ein bisschen später unsere drei Kinder getauft. (Das ist auch nicht toll, weil es klingt als hätte er die drei auf einmal getauft, aber das sind ja auch nicht meine Probleme, sondern deine. )
Aber so bei sprachlichen Ideen – da ist das Sprachgefühl der Leute sensibel, denke ich. Auch wenn es nicht jeder benennen kann, aber das ist wichtig.

Ich musste hart schlucken.
Verbrauchte Floskeln – mit dem Adverb „stark“ noch – find ich nicht gut. Text ist sonst so gut, da legt man auch sprachlich höhere Maßstäbe dann an.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurde aus der Vorstellung, dass das Bewusstsein nach dem Tod weiterexistiert, Realität. Der Vorwurf, dass sie nur Illusionen verkaufen, trifft nicht mehr zu, aber anderen Nachteile organisierter Religion existieren nach wie vor. Dogmatismus und rückwärtsgewandte Ideologien blieben bestehen, aber jetzt wirken sie über den Tod hinaus. Die Weltreligionen haben immer mit dem Versprechen jenseitiger Belohnungen und mit der Androhung von Strafen gearbeitet. Aber erst heute haben sie die Macht, all das in gewisser Weise wahr werden zu lassen.
Das Paxton-Experiment und die anschließende rasante Entwicklung digitaler Bewusstseinsspeicher führten nicht zu der Befreiung von Religion, die Humanisten sich ausgemalt hatten. Es war eher so, als hätte man einem Bankräuber, dem vorher nur eine Spielzeugpistole zur Verfügung stand, eine scharfe Waffe in die Hand gegeben.
Das ist extrem schwierig, das hier zu machen. Ich hab da die Zitate-Stimme aus Sid Meier's Alpha Centauri im Ohr, das ist ein Computerspiuel vielleicht 15 Jahre alt (ich bin alt, ich weiß) – und da gab es auch immer solche Texte in diesem Duktus – pointierte Fremdquellen-Zitate, die das unterfüttern.
Die müssen, wenn man das macht, haarscharf geschnitten sein und passen. Die dürfen nicht zerlaufen. Das hier zerläuft ein bisschen.
Bei Dune ist das auch so.
Wenn man das macht, dann müssen die nochmal besser sein als der Rest-Text. Nicht nur „anders“, sondern noch pointierter, noch präziser, noch mehr Energie in die Formulierungen.
Hier ist es grad so, dass diese Hammer-idee sich rausschält: Die Religion erlebt eine große Blütezeit durch eine technologische Neuerung – das ist ja eine Hammer-Idee. Und dann kommt sofort die zweite hinterher: Und diese Blütezeit nutzt sie schamlos aus. Das reicht.

Da diese Kursiv-Erklärbär-Sache … es ist so schwer, so zu klingen wie eine Fremdquelle. Dann am besten nur zugespitzte Sätze. Hier die beiden letzten aus dem ersten Absatz – das nehmen. Diese Spielzeugpistole und so – nee.

Aus: „Leben ohne Backup“ von Agnes Bachmann
Die Fakten sprechen gegen einen Dualismus von Körper und Geist. Wir müssen uns abgewöhnen, unser Bewusstsein und unseren Körper als separate Entitäten zu betrachten, die unabhängig voneinander existieren können.
Wenn mein Körper stirbt, dann existiert kein „ich“ mehr. Es ist technisch möglich, die Inhalte meines Gehirns zu kopieren, um Erinnerungen und Persönlichkeitsmerkmale später noch einmal abzurufen, aber diese Kopie wäre nicht ich. Ihre Existenz würde nichts daran ändern, dass die Augen, mit denen ich gesehen, die Hände, mit denen ich meine Ideen niedergeschrieben habe, und das Gehirn, das meine Emotionen gefühlt und meine Gedanken gedacht hat, sich allmählich in ihre Bestandteile auflösen.
„Seelen“ wissen wahrscheinlich nicht, dass sie keine echten Menschen sind. Aber es gibt Anhaltspunkte, dass selbst ein simuliertes Bewusstsein erkennt, dass etwas nicht stimmt. Die bekannten Langzeituntersuchungen der Universität Montreal haben gezeigt, dass über die Dauer der körperlosen Existenz Depressionen und andere mentale Probleme in extremem Maße zunehmen. Wir sind nicht für die Ewigkeit gemacht.
Nach „dann existiert kein „ich“ mehr“ - würde ich raus gehen.
Kill your darlings. Nicht mit Sekundärtexten im Primärtext sicherstellen, dass der Leser das auch genau so versteht wie man es meint. Spielraum lassen, nur Anstöße geben. Diese Fremdquellen in Texten - - das sind keine Zwischengänge, sondern Gaumenkitzler.

All das machte es mir natürlich nicht gerade leichter, meine Schwester um Geld zu bitten, um unserem Vater das Purgatorium zu ersparen.
Doppelter Finalsatz mit „um .. zu“, kann man leicht vermeiden, indem man das zweite zu einem „damit“ macht: „, damit wir unserem Vater das Purgatorium ersparen können.“

Wir mussten uns gefühlte tausend Beileidsbekundungen anhören.
Nicht dieses „gefühlte“ - das ist eine Modewendung, weil man das englische „literally“ irgendwie ins Deutsche kriegen wollte. Das „gefühlte“ sagt im Deutschen, dass eine übertriebene Behauptung übertrieben ist. Das ist wie diese Anführungszeichen um einzelne Wörter – so ein Ironiezeichen. Es waren ja nicht wirklich tausend, es hat sich nur so angefühlt – einem Leser ist es zuzumuten, den Gedankenschritt alleine zu machen. Man kann sich als Autor nicht gegen jedes Missverständnis absichern.

Mir schlug das Herz bis zu Hals.
Verbrauchte Floskel. (fehlt auch ein „m“)

So ungefähr musste sich Petrus gefühlt haben, als der Hahn krähte.
Boah. Das ist Grammatik 3.01 oder so. So ungefähr muss sich Petrus gefühlt haben, als er den Hahn hörte/als der Hahn krähte.
Das mit dem „musste“ macht immer ein Tor auf in ganz gruselige Grammatik-Fragen. Wenn du es mit dem „muss“ machst, dann ist das Gedankenrede und da spielt das keine Rolle, weil Gedankenrede im Präsens ist. Wenn du es im „musste“ machst, dann ist das noch im Erzähltext und der Erzähler gibt die Gedanken der Protagonistin indirekt wieder und es muss das dann erzähltheoretisch korrekt in die Vorzeitigkeit gesetzt werden und das führt dich direkt in den Abgrund, weil man dann anfängt mit Tempuswechseln mitten im Satz und die können grammatikalisch viermal richtig sein, jeder Leser schreckt hoch und denkt „huch, war das so richtig?“ - und das will man als Autor nie.

Wenn man da mal tiefer einsteigen will. Käthe Hamburger: http://de.wikipedia.org/wiki/Episches_Präteritum.
Mit dem berühmten Beispiel:
Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachten.

Ich warne davor, sich damit zu beschäftigen, weil das Autoren verunsichert und zu einem schlechteren Stil führt.

Als wir eintraten und er das Licht einschaltete, konnte ich sie nicht sehen. Für den Moment war ich erleichtert, bis mir auffiel, dass es nur einen möglichen Ort gab, wo sie sein konnte.
Ich war da total verwirrt, weil für mich die einzig richtige Antwort war: Unterm Schreibtisch. Nicht „hinter der Tür“.

Hm. Der 3. Akt ist enttäuschend, find ich. Ich hab neulich von Stephen King gehlesen, der meinte das Problem mit den episodischen Fernsehserien ist es, dass sie einen Anfang haben und eine Mitte und eine Mitte und eine Mitte. Hier dem Text fehlt ein logisches Ende, ein 3. Kapitel. Das ist dann aus dem Nichts – also der Klimax bei dem Aufbau hier ist der Einbruch in das Büro des Priesters, bis dahin ist es logisch aufgebaut. Und dann kommt aber wie im Theater der Rest als Botenbericht, als Sache, die in die Geschichte von außen eingreift, und sie beendet. Das ist gehackt worden, das war's. Das hat die Geschichte eigentlich nicht verdient, das ist für mich kein gutes Ende.

Die Stärke der Geschichte ist hier die Konsequenz diese Dystopie bis in den 4. oder 5. Schritt zu denken. Wenn – dann. Wenn es möglich wäre, das Bewußtsein von Menschen zu speichern, dann könnte die Kirche das in Anspruch nehmen, sagen das sei das ewige Leben, das man versprochen habe, und eine Renaissance erleben. Wenn die Kirche wieder an Bedeutung gewinnt, dann möchte sie auch wieder stärker ins Leben der Menschen eingreifen und aus dem Mittelalter bekannte Ideen wieder einführen wie die Beichte, den Ablasshandel usw. Und dann ist das wirklich konsequent noch gedacht mit: Dann erhebt sich wer usw. Nur: Die Geschichte ist beschränkt auf diesen kleinen Einzelfall, auf die Frau, die ihren Vater verliert. Dann will die Geschichte aber ständig ins Übergroße driften, ins Globale, ins Nationale, dazu hat man die Schwester. Das ist eine schwierige Balance, die die Geschichte noch hält, bis dann am Ende das Globale das Private wegwischt. Im letzten Drittel kommen die Ideen dann nur noch als Schlagzeile. Das ist nicht gut gemacht, finde ich. Wenn das so heimelig und ein bisschen provinziell eingeführt wird mit der gesitteten Mutti, die rote Backen kriegt, wenn sie mal den Priester belügen muss, und die sich dann in dieser Krise der Schwester wieder näher fühlt und so: Das sind wirklich tolle Bestandteile. Die erden so eine Geschichte. Da wäre es gut gewesen, weiter zu gehen. Diese Drift ins Globale muss hier in der Geschichte bisschen gezügelt werden.

Davon ab: Die Geistesleistung, dieses Szenario hier zu entwerfen und in Ansätzen umzusetzen, ist großartig und sehr zu loben. Sprachlich ist der Text auch solide, fand ich. Das ist für so Texte mit einem starken Plot auch oft gut. Bisschen mehr Würze würd ich mir wünschen, bisschen sexier könnte so ein Text schon sein. Bisschen zugespitzter, bisschen mehr Herz, bisschen mehr Mutterwitz.

Ich fänd's gut, wenn du den Text nimmst, das letzte Drittel löschst, die Blog-Einträge und Fremdquellen auf jeweils ein drittel zusammenkürzt, und dann fragst du dich, wie du die Geschichte innerhalb der engen Grenzen dieser Welt zu einem Ende führen kannst. Mir ist das schon klar, dass Agnes da hinter dem Hacker-angriff steckt und das es letztlich ihre Geschichte ist, die hier indirekt erzählt wird, oder so: Aber das ändert für mich nichts an der Enttäuschung über das Ende.
Du entwirfst ein Szenario auf ganz kleiner Ebene, du baust im Sandkasten eine ganz kleine Ecke, und dann schwappt aber das Globale rein mit großer Welle und macht den Einzelfall letztlich bedeutungslos, und sagt: Ich hab das hier eh nur genommen, um meine Ideen loszuwerden. Das ist schade einfach. Den meisten Autoren fällt das Ende am schwersten.
Viele können tolle Anfänge schreiben, im Mittelteil zerläuft es dann bei den meisten und das Ende kriegen nur die wenigsten hin, dabei ist grade das so wichtig für den Gesamteindruck. Oft ist das Problem mit dem Ende dann iurgendwo im Mittelteil oder so, aber so als Idee einfach: Wirklich versuchen, einen Text in den Grenzen des Textes zu einem Ende zu bringen. Das ist gutes Erzählen.

Ansonsten: Das ist ja viel Gemecker, - nach meiner Ansicht - ist das trotzdem ein riesiger Sprung im Vergleich mit den Texten von dir, die ich sonst so gelesen und kommentiert habe. Der ist wesentlich besser. Die Ideen sind toll.

Das ist jetzt nur meine Wertung von außen, ohne dass ich mich hier als Punktrichter bei kg.des next top-Autor aufspielen will. E
s ist sehr gut, aber hier ist eine Geschichte, bei der ich denke, es ist klar zu erkennen, wie sie mit ein wenig Mühe nochmal in eine andere Liga aufsteigen könnte. Hier liegt's ja nicht an grundlegenden Sachen, dass man sagen müsste: Grab den Text nochmal aus und mach was an Sprache, Plot, Fundament, sondern das hier ist nur: Schneid mal den obersten Teil ab und mach neu.

Gruß
Quinn

 

Hallo Perdita

Mir gefällt an deinem Text besonders gut, dass er neben dem eigentlichen Unterhaltungswert noch weitergeht und philosophische und ethische Fragen aufwirft, über die man auch nach der Lektüre des Textes noch nachdenken kann. Ich habe neulich Beim Leben meiner Schwester gelesen, da war es ähnlich. Da kommt man dann schonmal ins Grübeln, wenn ich in dieser Situation wäre - wie würde ich reagieren? Und man findet Argumente für beide Seiten, das sind ganz schwierige Entscheidungen, aber genau solche Fragestellungen faszinieren mich auch und ich diskutiere die gerne, wenn man sie aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann, aus Sicht der Religion, aus Sicht der Gesellschaft, aus Sicht der Wissenschaft und der Philosophie.

Dein Text wirft auch solche Fragen auf, das möchte ich ausdrücklich loben. Die Idee, das Bewusstsein nach dem Tod zu konservieren, ist wirklich interessant. Schon allein das wirft komplizierte Fragen auf - würde man so etwas wirklich wollen? Wenn ja, warum? Wo liegen die Gefahren, wo findet sich Potential für den Missbrauch? Wenn das Bewusstsein auf einem USB-Stick liegt - was passiert eigentlich mit Kopien? Gibt es "mich" dann plötzlich mehrfach?

Die zweite spannende Frage fand ich den Ansatz, dass die Kirche das Bewusstsein nach dem Tod scannt, um zu entscheiden, ob die Seele ins Fegefeuer gehört oder direkt ins Paradies darf. Das ist eine unheimlich gruselige Vorstellung, dass nach dem Tod jemand Zugriff auf alle Erinnerungen eines Menschen bekommt - sei es nun die Kirche, der Staat oder sonst eine Institution. Eine Wahnsinnsvorstellung, die eine Tür zu einer schrecklichen Welt öffnet. Will man überhaupt in die Gedankenwelt eines anderen Menschen eintauchen? Was würde man dort nicht alles Schreckliche zutage fördern?

Der Witz ist, dass in deiner Geschichte beide Punkte, die ich jetzt genannt habe, eher eine untergeordnete Rolle spielen. Du fokussierst dich ja auf den Standpunkt der Kirche - das ist genauso wichtig, genauso interessant. Ich möchte damit nur sagen, wie gross das Feld der Fragestellungen ist, die dein Text aufwirft - und dass man natürlich nicht jeden Aspekt in einer Kurzgeschichte in aller Tiefe behandeln kann. Dass es dir aber gelingt, viele dieser Aspekte aufzuzeigen - und dem Leser dann eigene Schlüsse zu überlassen - und das ganze noch in eine kompakte Geschichte zu transportieren, mit glaubhaften Figuren, das ist eine tolle Leistung.

Wir hatten alle damit gerechnet, dass mein Vater nur noch wenige Tage zu leben hatte.

Ich finde das doppelte "hatte" hier nicht so glücklich, weil es auch der erste Satz ist. Ich bin da immer zwiegespalten - grammatikalisch mag es so stimmen, die Vorvergangenheit, weil im zweiten Satz der Anruf als Bezugspunkt kommt - aber es klingt einfach nicht gut. Wenn da jetzt stünde: "Wir wussten, dass mein Vater nicht mehr lange leben würde" - wäre das ein Grund zu stolpern, weil: falsche Zeitform? Vielleicht. Ich weiss auch nicht so recht, entscheide du :)

„Frau Hartwig“, sagte eine bekannte Stimme. „Hier ist Schwester Johanna Singer vom Sankt-Katharinen-Hospiz. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass Ihr Vater seine irdische Hülle verlassen hat.“

Die Nachricht vom Tod des Vaters auf der Mailbox? Hat mich gewundert, würde man so etwas nicht persönlich mitteilen?

Die Pause nach dem Wort gefiel mir nicht, aber ich wusste nicht warum.

Die Aufmerksamkeit des Lesers soll hier ja auf den ersten Teil gelenkt werden. Den zweiten finde ich nicht entscheidend, aber seine Anwesenheit schwächt den ersten Teil ab, lenkt davon ab. Ich fände den Satz besser, wenn der Teil nach dem Komma weg wäre.

Es machte mich richtig nervös.

Einige Formulierungen sind umgangssprachlich, finde ich auch ok beim Ich-Erzähler, es soll ja authentisch klingen, hier aber hat mich das "richtig" gestört. Auch der Satz wäre besser, wenn er knapper wäre.

Das Examinatio-Sakrament ist ein Algorithmus.

Schön, wie sehr du ins Detail gehst. Auch zuvor schon, mit dem Conservatio-Sakrament. Man sieht, wie intensiv du dich mit dem Thema beschäftigt hast, aber das drängt sich nie auf, man spürt es aber oft an solchen Kleinigkeiten. Auch ein Aspekt des Textes, den ich gelungen finde und der für seine Qualität spricht.

„Er wird eine Läuterung durchlaufen müssen, bevor er Zugang zum Paradies erhalten kann“, sagte der Priester.*
Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen.*
„Sie meinen, das Fegefeuer?“

Hier prallen wirklich zwei Welten aufeinander - die der Wissenschaft und die der Religion. Ich weiss nicht, ob es so ablaufen würde, aber ich kann mir das gut vorstellen. Dass du den Ablasshandel aus vergangenen Tagen in eine fiktive Zukunft transportierst, finde ich eine tolle Idee. Da stecken natürlich sehr pragmatische Interessen dahinter: es geht ums Geld, wie auch schon im Mittelalter. Aufgrund von Massenaustritten und einer Bevölkerung, die zunehmend kritisch auf die Arbeit und die Rolle der Kirche schaut, muss diese natürlich schauen, wo sie bleibt. Dass sie dann neue Technologien nutzt, um längst vergangene Zahlungen wieder einzuführen - ja, das kann ich mir schon vorstellen.

Sie wollten gern sagen, dass Papa jetzt an einem besseren Ort kommen würde,

einen

Ich finde dann auch die beiden Figuren gut, die du einführst - Sophie und Agnes mit ihren unterschiedlichen Meinungen und ihrem Konflikt. An der einen oder anderen Stelle hättest du die heftiger gegeneinander prallen lassen können, finde ich. Gerade diese Konstellation ermöglicht es dir ja, die verschiedenen Aspekte dieses Themas in einer Diskussion direkt gegenüberzustellen. Du machst das zwar, aber für meinen Geschmack hättest du da noch weiter gehen dürfen. Einmal schreibst du zum Beispiel:

Die philosophischen Argumente waren mir schon lange ausgegangen. Wir drehten uns im Kreis.

Und das, nachdem beide vielleicht zehn Zeilen diskutiert haben. Das ging mir dann zu schnell an der Stelle. Gerade die Position von Agnes, die in den eingeschobenen Artikeln und Blog-Einträgen darstellt wurde, hättest du auch in einer lebendigen Diskussion mit der Schwester unterbringen können. Hätte mir vermutlich besser gefallen.

„Das letzte Mal, als Sie versucht haben mir zu helfen, habe ich Ihnen gebeichtet, dass ich in ein Mädchen verliebt war, und Sie haben meinen Eltern geraten, mich therapieren zu lassen. Auf diese Art Hilfe kann ich verzichten.“

Mir gefällt am Text, dass er sich mit Kritik zurückhält und viele Schlussfolgerungen dem Leser überlässt. Die Kirche wird nicht als das Böse verdammt, zu dem sie manchmal gemacht wird. Hier allerdings, an dieser Stelle, formulierst du ein etwas plumpes Klischee. Der verbohrte Pfarrer, der dem naiven Mädchen in den Rücken fällt und dafür sogar das Beichtgeheimnis bricht - das passt nicht zu Pfarrer Laske, finde ich, es stellt ihn dann auch zu deutlich in eine Ecke, wo der Leser über ihn nur noch eine Meinung haben kann. Gerade weil der Text das an anderen Stellen vermeidet - zumindest empfand ich das so - fällt es hier auf. Ich würde das komplett streichen. Dieses "Ihnen kann ich leider nicht mehr helfen" ist klar - Agnes verfasst kritische Artikel, und das muss der Pfarrer nicht mögen, aber dann würde ich weitermachen mit "Ich seufzte insgeheim".

Das Ende fand ich zu sehr eine Wohlfühl-Lösung. Die Seelen werden befreit (die Kirche hat natürlich kein Backup des Fegefeuers und der Seelen?), das Bewusstsein des Vaters auf dem Stick ist aber gesichert. Das kann man ja fast schon als Happy-End bezeichnen, und ich finde, eine Geschichte, die in einer solch verstörenden Welt spielt, hätte ein verstörenderes Ende verdient. Vielleicht könnten die Schwestern nochmal aufeinanderprasseln, weil letzten Endes Agnes ja den Willen des Vaters mit Füssen getreten hat. Ich weiss auch nicht, da müsste man sich nochmal was überlegen, jetzt in der Form hat es mir nicht so gut gefallen.

Trotzdem - insgesamt eine tolle Geschichte. Ich kann mich den guten Kritiken der Vorredner da nur anschliessen. Für mich leistet sie wie ich eingangs sagte mehr als nur Unterhaltung - das ist ein Stoff, über den ich auch nach dem Lesen noch nachdenke, und wenn eine Geschichte das leistet, ist sie immer was besonderes.

Grüsse,
Schwups

 

Hallo Perdita,

hübsche Geschichte. Manchmal ein bisschen schleppend. Ich kann dir aber leider nicht gerade erklären, warum ich dies zum Teil so empfand.

Betrachten wir ein paar Punkte, die noch nicht angesprochen wurden:

... dass ein „Jenseits“ physikalisch unmöglich ist, ...

Hier begehst du einen Fehler. Das Jenseits ist so definiert, dass es jenseits der Naturwirklichkeit befindet. Es ist daher unmöglich, egal mit welcher Naturwissenschaft, die Existenz oder Nichtexistenz des Jenseits zu beweisen. Reine Definitionssache.

Das Bewusstsein ist nicht klar definiert, im Gegensatz zu den Bewusstseinszuständen. Seele ist auch nicht Bewusstsein! Ob es Seele überhaupt gibt, bzw. ob diese überhaupt mit dem Bewusstsein zusammenhängt ist eine ganz andere Diskussion und muss in der KG auch nicht erklärt werden. Die Menschen glauben halt was sie glauben.

... Bewusstsein einer Person zu digitalisieren ...
strenggenommen falsch. Die Digitalisierung beschreibt die Überführung, Umwandlung von analogen in diskrete Werte. Es bezieht sich daher nicht auf einen Messvorgang (kopieren heißt messen und speichern), der hier gemeint ist. Ich würde hier einfach speichern benützten.

Es ist fraglich, ob mit einer Digitalisierung das Bewusstsein kopiert, oder festgehalten werden kann. Denn damit werden nur Information gespeichert. Daraus könnte man vielleicht einen Bewusstseinszustand simulieren. Eine Simulation ist aber nur eine Vorhersage, verbunden mit einer Wahrscheinlichkeit. Für die Geschichte eigentlich nicht relevant, aber man sieht, dass es hier viele Fallstricke gibt. Du bist denen aber sehr gut ausgewichen und erlaubst es dem Leser eigentlich gar nicht, dass er auf die Idee kommt, darüber wirklich nachzudenken.

Aufpassen mit den nächsten beiden Aussagen.

nachwiesen, dass der Tod eines Menschen das unwiderrufliche Ende seines Bewusstseins bedeutet

Experimentelle Technologie, um das Bewusstsein einer Person zu digitalisieren, existierte bereits.
Nimmt man die Sätze und ihre Konsequenzen genauer auseinander, so schließen sich diese Aussagen gegenseitig aus. Ist der Mensch tot, so ist das Bewusstsein weg. Es ist also nicht möglich, das „aktuellste, oder letzte“ Bewusstsein zu kopieren. Das aktuellste unterscheidet sich aber von den Kopien, da diese nicht die gesamte Lebensdauer umfassen. Ein Bewusstsein, was vor 5 Jahren gemacht wurde, kann sich erheblich vom Aktuellen unterschieden. Aber eigentlich zählt schon die Millisekunde. Das Bewusstsein was kopiert wird ist daher als ein eigenes anzusehen. Dies wiederum bedeutet, dass wir keine Bewusstseins von Personen kopieren können, sondern nur durch deren Bewusstseins Neue erschaffen.

Wird kompliziert? Man könnte noch viele Fragen aufwerfen, z.B. wie das mit der Seele ist. Wird die auch kopiert, oder geteilt? Hängen die Bewusstseins zusammen (dann beachte man Aussage eins)? Was bedeutet Ende des Bewusstseins, wenn Bewusstsein nicht klar definiert ist? Und so weiter …

Du könntest dies aber einfach umgehen, wenn du die erste Aussage weglässt. Für deine Geschichte ist diese auch nicht relevant. Die Feststellung, dass man Bewusstsein „speichern“ kann und so ein ewiges Leben „garantiert“ reicht vollkommen aus. Damit vereinfachst du auch die Geschichte, weil du das Jenseits immer noch hast. Viele Fragen fallen dann weg, z.B. warum gibt es überhaupt noch ein Fegefeuer, wenn es das Jenseits nicht mehr gibt.

Viele Grüße
Kroko

 

Hallo zusammen!

Nachdem ich meine Bürgerpflicht getan habe, und das Internet meinen ersten Versuch gefressen hat :mad:, versuche ich noch mal, euch zu antworten. Mal sehen, ob ich es trotzdem in einem Anlauf schaffe.

Es ist gut, dass nach dem ganzen Lob ein paar Kritiken kommen, die in den Schwachstellen herumbohren und ein bisschen Luft herauslassen, bevor mein schriftstellerisches Selbstbewusstsein die Stratosphäre erreicht. :)

Hallo Quinn!

Ich überspringe mal die Sprachsachen und sage einfach pauschal vielen Dank für die intensive Auseinandersetzung mit dem Text, ich gebe dir größtenteils recht und bemühe mich, diese Stellen zu verbessern.

Quinn schrieb:
Da diese Kursiv-Erklärbär-Sache … es ist so schwer, so zu klingen wie eine Fremdquelle. Dann am besten nur zugespitzte Sätze.
Die Entscheidung für diese Sekundärtexte und das Abwägen, wie viel es davon geben sollte, sind mir sehr schwer gefallen. Ohne die hätte ich viel, viel weiter ausholen müssen und wäre möglicherweise nicht zum Ende gekommen. Aber als sie einmal drin waren, war die Versuchung sehr groß, einfach alles, was zum Hintergrund gehört und dem Leser sonst vielleicht nicht ohne Weiteres klar werden würde, dort hinein zu stopfen.
Außerdem ist so was immer sehr riskant, von einer Figur zu behaupten: das ist jemand, der professionell schreibt, und dann in die Verlegenheit zu kommen, etwas liefern zu müssen, was dieser Behauptung halbwegs standhält. Das war mir auch nicht ganz geheuer.
Ich bin froh, dass dieses Mittel überwiegend gut angekommen ist, aber ich setze deine Empfehlung, die Sekundärtexte einzudampfen, auf meine Überarbeitungsliste.

Quinn schrieb:
Der 3. Akt ist enttäuschend, find ich.
Ja, der dritte Akt hat ein Problem, das mir immer klarer wird. Ich habe mich noch nicht entschieden, wie ich das löse. Deine Empfehlung ist, den dritten Akt neu schreiben, aber versuchen, das ganze in den Grenzen einer Kurzgeschichte ordentlich zu lösen. Die Alternative ist, wirklich noch mal etwas deutlich längeres auf der Basis der Ideen zu schreiben, die hier drin stecken. Puh, das klingt beides nicht nach einem Spaziergang im Park. :shy:

Quinn schrieb:
Mir ist das schon klar, dass Agnes da hinter dem Hacker-angriff steckt und das es letztlich ihre Geschichte ist, die hier indirekt erzählt wird, oder so: Aber das ändert für mich nichts an der Enttäuschung über das Ende.
Es war eigentlich nicht meine Absicht, dass Agnes hinter dem Hackerangriff steckt, nicht bei dieser Fassung der Geschichte. Ich glaube, hier liegt mein Problem. Ursprünglich war das die Idee, dass sie das ganze Purgatorium zerstören lässt. Aber dann hatte ich das Gefühl, das wäre sozusagen out of character für sie.
Sie glaubt ja am Anfang nicht, dass diese Jenseitssachen echt sind. Sie denkt, wenn ein Mensch tot ist, bleibt nichts von ihm, und der bekommt auch nichts mehr mit von dem, was mit seinem „Backup“ passiert, das sind bloß teure digitale Spielchen, die die Gläubigen treiben, weil sie es nicht akzeptieren können, dass der Tod das Ende ist. Daran zweifelt sie erst, als ihr Vater stirbt. Und Sophie denkt, wenn Menschen gesündigt haben, dann verdienen sie das Purgatorium, und sie fängt auch erst an zu zweifeln, als ihr Vater stirbt. Und ich fand die Symmetrie gut, dass die Überzeugungen von beiden Töchtern durch diesen Verlust erschüttert werden, und dass sie ihn beide eigentlich entgegen ihrer Überzeugung vor dem Fegefeuer bewahren.
Aber du hast recht: Dafür braucht es diese globale Geschichte mit dem Hackerangriff gar nicht. Den habe ich dann irgendeiner nebulösen, radikal antikirchlichen Organisation in die Schuhe geschoben. Ich wollte die Szene, in der Sophie denkt, ihr Vater wäre dabei gelöscht worden, und dann erfährt, dass Agnes das Backup gerettet hat, gern drin behalten, weil ich das halt emotional ganz stark fand. Aber das war geschummelt, und das ist dem Schluss der Geschichte auf die Füße gefallen, fürchte ich.

Also ich überlege jetzt, entweder die Sache mit dem Hackerangriff komplett zu streichen, oder es bleibt halt dabei, dass Agnes das in die Wege geleitet hat, aber sie ist dann nicht konsequent genug, auch ihren Vater löschen zu lassen. Wenn jemand von euch eine Meinung dazu hat, welches Ende besser funktionieren könnte, wäre ich da sehr dran interessiert.

Quinn schrieb:
Ansonsten: Das ist ja viel Gemecker, - nach meiner Ansicht - ist das trotzdem ein riesiger Sprung im Vergleich mit den Texten von dir, die ich sonst so gelesen und kommentiert habe. Der ist wesentlich besser. Die Ideen sind toll.
Danke, danke. Ich fand auch, dass er besser ist, aber das ist halt keine unabhängige Meinung. :)

So, und jetzt geht mir doch langsam die Zeit aus.
@Schwups und Kroko: Ich komme später auf euch zurück!

 

Da bin ich wieder!

Hallo Schwups!

Schwups schrieb:
Ich möchte damit nur sagen, wie gross das Feld der Fragestellungen ist, die dein Text aufwirft - und dass man natürlich nicht jeden Aspekt in einer Kurzgeschichte in aller Tiefe behandeln kann. Dass es dir aber gelingt, viele dieser Aspekte aufzuzeigen - und dem Leser dann eigene Schlüsse zu überlassen - und das ganze noch in eine kompakte Geschichte zu transportieren, mit glaubhaften Figuren, das ist eine tolle Leistung.
Das ist beruhigend zu hören – ich hatte ein bisschen Sorge, ob die Geschichte nicht zu viele Themen anschneidet, ohne in die Tiefe zu gehen. Auf der anderen Seite wollte ich auch, dass der Text offen ist für verschiedene Sichtweisen. Das Schreiben war wirklich in vieler Hinsicht ein Balanceakt. :)

Schwups schrieb:
Die Nachricht vom Tod des Vaters auf der Mailbox? Hat mich gewundert, würde man so etwas nicht persönlich mitteilen?
Da hatte ich auch überlegt. Wäre der Tod unerwartet, würde man das bestimmt nicht tun. Aber hier ist schon seit einiger Zeit klar, dass der Vater bald stirbt, es war nicht mehr die Frage, ob das passiert, sondern nur wann, und die Angehörigen haben sich schon darauf eingestellt. Und ich dachte, das kann ich vielleicht ganz gut dadurch zeigen, dass sie eben nur eine Mailboxnachricht hinterlässt.

Schwups schrieb:
Und das, nachdem beide vielleicht zehn Zeilen diskutiert haben. Das ging mir dann zu schnell an der Stelle. Gerade die Position von Agnes, die in den eingeschobenen Artikeln und Blog-Einträgen darstellt wurde, hättest du auch in einer lebendigen Diskussion mit der Schwester unterbringen können. Hätte mir vermutlich besser gefallen.
Das war auch eine schwierige Entscheidung. Ich finde es immer sehr schwer, realistische Dialoge zu schreiben, und gerade wenn es um die Diskussion von solchen philosophischen Themen geht. Die eingeschobenen Artikel sind ja nicht nur die Darstellung von Agnes’ Position, die dienen auch dazu, dem Leser Infos zu geben. Und wenn man das in einem Dialog macht, dann hat man ganz schnell dieses „As you know, Bob“-Problem, dass eine Figur einer anderen Figur Sachen erzählt, die beide wissen, damit der Leser die auch erfährt. Mal sehen, ich denke intensiv darüber nach, die Artikel zu kürzen und entsprechend mehr Dialog einzubauen.

Schwups schrieb:
Mir gefällt am Text, dass er sich mit Kritik zurückhält und viele Schlussfolgerungen dem Leser überlässt. Die Kirche wird nicht als das Böse verdammt, zu dem sie manchmal gemacht wird. Hier allerdings, an dieser Stelle, formulierst du ein etwas plumpes Klischee. Der verbohrte Pfarrer, der dem naiven Mädchen in den Rücken fällt und dafür sogar das Beichtgeheimnis bricht - das passt nicht zu Pfarrer Laske, finde ich, es stellt ihn dann auch zu deutlich in eine Ecke, wo der Leser über ihn nur noch eine Meinung haben kann.
Über die Stelle hatte ich auch lange nachgedacht, aber am Ende habe ich hier wohl die falsche Entscheidung getroffen. Das gehört zu den Dingen, wo ich viel mehr im Kopf hatte, als letzten Endes in der Geschichte angekommen ist. Was ich gern zeigen wollte, war dass Agnes sich nicht aus rein intellektuellen Motiven vom Glauben abgewandt hat, und dass sie noch ziemlich viel Wut in sich hat. In meiner Vorstellung hat Laske sein Beichtgeheimnis nicht gebrochen, der ist zu den Eltern gegangen und hat gesagt: Hört mal, die Agnes macht gerade eine schwere Zeit durch und ich mache mir Sorgen, dass sie vom Glauben abfallen könnte, ihr solltet etwas unternehmen. Sie ist da nicht ganz fair zu ihm, aber aus ihrer Sicht finde ich das auch verständlich. Ich habe schon befürchtet, dass zu der Stelle jemand sagt, dass ich da ein Klischee als Abkürzung nehme, und an deinem Kommentar sehe ich, dass es wohl so rüber kommt oder zumindest ohne weiteres so gelesen werden kann. Das werde ich auf jeden Fall ändern.

Schwups schrieb:
Das Ende fand ich zu sehr eine Wohlfühl-Lösung. Die Seelen werden befreit (die Kirche hat natürlich kein Backup des Fegefeuers und der Seelen?), das Bewusstsein des Vaters auf dem Stick ist aber gesichert.
Ja, als ich mit der Geschichte fertig war, war ich ehrlich gesagt auch überrascht, dass das Ende so versöhnlich geworden ist. :)
Ich habe die Geschichte mit einer recht aggressiven Grundhaltung angefangen, aber beim Schreiben sehr viel nachgedacht, und bin dann immer mehr zu dem Gedanken gekommen, dass organisierte Religion zwar viele üble Auswüchse hat, aber dass der Ursprung wahrscheinlich in sehr universellen Ideen liegt, die man den Menschen nicht vorwerfen kann. Der Tod ist furchteinflößend. Und es ist Mist, dass es im Leben oft keine Gerechtigkeit gibt, dass gute Menschen leiden und böse Taten nicht immer angemessen bestraft werden. Der Wunsch, das alles korrigieren zu wollen, ist nur natürlich.
Aber es ist durchaus möglich, dass jetzt am Ende der Geschichte zuviel Friede, Freude, Eierkuchen herrscht, also dass es aus dramaturgischer Sicht abkackt. An dem Schluss muss ich ja sowieso noch arbeiten. :)

Vielen Dank auch für deine stilistischen Anmerkungen, die schaue ich mir auch noch mal ganz genau an, wenn ich Zeit zur Überarbeitung habe.

Hallo Kroko!

Kroko schrieb:
Hier begehst du einen Fehler. Das Jenseits ist so definiert, dass es jenseits der Naturwirklichkeit befindet. Es ist daher unmöglich, egal mit welcher Naturwissenschaft, die Existenz oder Nichtexistenz des Jenseits zu beweisen. Reine Definitionssache.
Das ist richtig, und wenn du meine Antwort an Fugusan weiter oben anschaust, wirst du sehen, dass ich das schon selbst angesprochen habe :D
Egal, was der Paxton gemacht hat, um zu seiner Schlussfolgerung zu kommen, es würde letzten Endes immer noch die Möglichkeit offen lassen, dass es doch ein „echtes“ Jenseits gibt. In dem Universum der Geschichte hat es übrigens auch religiöse Schismen über diese Frage gegeben, auf die ich nicht eingegangen bin, weil das hier kein Roman ist. :)
Die Kirche, der meine Figuren angehören, nennt sich ja neokatholisch. Du kannst davon ausgehen, dass es auch noch „old school“ Katholiken und Anhänger anderer Religionen gibt, die trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse daran festhalten, dass die Seele etwas Übernatürliches ist und dass die nach dem Tod in einem übernatürlichen Jenseits weiterlebt. Aber die große Mehrheit der Leute – sowohl auf religiöser als auch auf nichtreligiöser Seite – ist seit dem Paxton-Experiment davon überzeugt, dass ein menschliches Bewusstsein nur in Gehirnen oder digitalen Medien existieren kann.
Ich lasse es auch völlig offen, was das eigentlich für ein Experiment gewesen sein soll, das diese Umwälzungen ausgelöst hat – ich habe zu wenig Ahnung, um mir da etwas Plausibles einfallen zu lassen, und für die Fragen, mit denen sich die Geschichte befasst, ist das auch nicht von Bedeutung.
Ich hätte auch eine Fantasy-Geschichte schreiben können, wo eine Magierorganisation das Bewusstsein von Leuten nach dem Tod in Flaschen aufbewahrt und manipuliert, und einen ganz ähnlichen Plot drum herum bauen können.
Also ich sage, das ist kein Fehler, das ist eine Lücke. Ich bin für gewöhnlich kein Fan davon, wenn Autoren auf so etwas hingewiesen werden und dann auf ihre künstlerische Freiheit pochen … aber ich muss hier mal auf meine künstlerische Freiheit pochen. :)
Ich bin mir dieser Lücke bewusst, aber sie stört mich nicht und scheint auch die Mehrheit der Leser nicht zu stören.

Kroko schrieb:
strenggenommen falsch. Die Digitalisierung beschreibt die Überführung, Umwandlung von analogen in diskrete Werte. Es bezieht sich daher nicht auf einen Messvorgang (kopieren heißt messen und speichern), der hier gemeint ist. Ich würde hier einfach speichern benützten.
Hmm … da denke ich drüber nach. Agnes ist ja (wie ich) nicht vom Fach, sie könnte durchaus einen falschen Begriff benutzen, solange jeder weiß, was gemeint ist. Und ich bin mir nicht sicher, ob das „speichern“ dieselben Assoziationen auslöst wie das „digitalisieren“ … aber das werde ich wohl bei der nächsten Überarbeitungsrunde korrigieren.


Kroko schrieb:
Nimmt man die Sätze und ihre Konsequenzen genauer auseinander, so schließen sich diese Aussagen gegenseitig aus. Ist der Mensch tot, so ist das Bewusstsein weg. Es ist also nicht möglich, das „aktuellste, oder letzte“ Bewusstsein zu kopieren. Das aktuellste unterscheidet sich aber von den Kopien, da diese nicht die gesamte Lebensdauer umfassen. Ein Bewusstsein, was vor 5 Jahren gemacht wurde, kann sich erheblich vom Aktuellen unterschieden. Aber eigentlich zählt schon die Millisekunde. Das Bewusstsein was kopiert wird ist daher als ein eigenes anzusehen. Dies wiederum bedeutet, dass wir keine Bewusstseins von Personen kopieren können, sondern nur durch deren Bewusstseins Neue erschaffen.
Ja, das ist klar, ein paar Minuten Lebenszeit gehen mindestens verloren bei diesem Prozess. Die neokatholische Kirche hat ein neues Sakrament eingeführt, diese „Conservatio“, bei dem in regelmäßigen Abständen ein Backup des Bewusstseins erstellt wird, und bei Sterbenden ist das kurz vor dem Tod so etwas wie die letzte Ölung. Aber wenn jemand durch einen Unfall stirbt, kann es durchaus auch sein, dass da ein paar Wochen oder Monate fehlen. Wenn man in der Zeit eine Sünde begangen hat, dann hat man Glück gehabt, das kriegt die Kirche dann nicht mit. :)
Die Problematik, dass diese Kopien nicht gleichzusetzen sind mit der Person, von der sie erstellt wurden, die kommt ja in der Geschichte vor. Es gibt da Leute, die der Ansicht sind, dass das Ganze eine sinnlose Übung ist, und die auf Backups verzichten.
Das Problem, dass man ja theoretisch zig Versionen einer Person erstellen kann, je nachdem, wann die Bewusstseinskopie gemacht wurde, dazu gibt es hochkomplizierte theologische Abhandlungen in diesem Universum, und strenge Vorschriften. Es darf immer nur eine Kopie von jeder Person geben, frühere Versionen müssen gelöscht werden. Deshalb hat die Kirche auch keine Backup-Version des Fegefeuers, wie von Schwups angesprochen. :)

Kroko schrieb:
Du könntest dies aber einfach umgehen, wenn du die erste Aussage weglässt. Für deine Geschichte ist diese auch nicht relevant. Die Feststellung, dass man Bewusstsein „speichern“ kann und so ein ewiges Leben „garantiert“ reicht vollkommen aus. Damit vereinfachst du auch die Geschichte, weil du das Jenseits immer noch hast. Viele Fragen fallen dann weg, z.B. warum gibt es überhaupt noch ein Fegefeuer, wenn es das Jenseits nicht mehr gibt.
In der Geschichte hat eine ganz massive Veränderung der religiösen Vorstellungen stattgefunden – dafür muss es aus meiner Sicht einen Auslöser gegeben haben. Der bleibt in einer Black box, aber das finde ich in Ordnung, solange es ihn bloß gegeben hat. Ich glaube nicht, dass es der Geschichte etwas bringt, wenn ich diese Diskussion „es könnte aber immer noch ein klassisches übernatürliches Jenseits geben“ da mit hineinbaue. Es stecken ohnehin schon sehr viele Themen drin, und ich musste sehr viel abwägen, was rein soll und was nicht.

Vielen Dank an euch alle für die vielen Anregungen!

Für Leser, die vorhaben, in den nächsten Tagen zu kommentieren: In der nächsten Woche habe ich ganz furchtbar viel zu tun, und in der übernächsten bin ich im Urlaub. Beides könnte dazu führen, dass es eine Weile dauert, bis ich Kommentare beantworten und Überarbeitungen vornehmen kann. Aber ich freue mich trotzdem sehr, wenn ihr noch etwas zu dem Text zu sagen habt.

 

Hallo Perdita

Das ist richtig, und wenn du meine Antwort an Fugusan weiter oben anschaust, wirst du sehen, dass ich das schon selbst angesprochen habe

Fugusan diskutiert, wie das Bewusstsein gespeichert werden kann. Persönlich, finde ich deine USB Variante sehr gut gelungen. Natürlich kann das Bewusstsein nicht auf einem USB Stick gespeichert werden. Aber wir sind in der Zukunft und da kann es viele ähnliche Sachen geben. Der Punkt ist halt auch, dass die Technologie, mit der man ernsthaft ein Bewusstsein (oder nur schon mal die Informationen) kopieren könnte, noch gar nicht existiert. Daher macht es auch keinen Sinn, über wissenschaftliche Schwachstellen zu diskutieren (von denen es sowieso nicht viele gibt). Schlussendlich ist dies eine Geschichte und kein wissenschaftlicher Aufsatz.

Mein Kommentar bezieht sich aber auf die Definition des Jenseits:

Jenseits (als Substantiv) ist ein etwa seit dem Beginn der Moderne im Deutschen geläufiger Begriff zur Bezeichnung einer „anderen Wirklichkeit“, die sich nach mythischen, religiösen und mancherorts esoterischen Vorstellungen jenseits der Naturwirklichkeit befindet und ausschließlich im nicht von Naturwissenschaften verstandenen Daseinszustand wahrgenommen werden kann. Den Gegensatz dazu bildet das „Diesseits“ als Gesamtheit der Phänomene, die im Daseinszustand der Naturwirklichkeit wahrgenommen werden können und den Gesetzen der Natur gehorchen.

Hab ich schnell von Wikipedia kopiert. Schreibst du also „... Jenseits physikalisch unmöglich ...“ dann ist dies ein inhaltlich sinnloser Satz, da das Jenseits sich eben nicht auf die Physik bezieht.

In deiner Antwort auf Fugusan gibt es auch noch so einen Satz:

Das geht schon los damit, dass man eine negative Tatsache (es gibt kein Leben nach dem Tod, außer man programmiert eins) gar nicht beweisen kann.

Der Satz ergibt inhaltlich keinen Sinn. Eine Tatsache ist es erst dann, wenn es bewiesen wurde (siehe Definition Tatsache). Und was ist eine negative Tatsache? Negativ und positiv ist eine Ansichtssache bzw. wie es im Kontext definiert wurde. Dann der Einschub in Klammern: das erste Leben bezieht sich auf das Jenseits, das Zweite auf das Diesseits. Im Diesseits ist Leben klar definiert und man kann es nicht programmieren (siehe Definition Leben), Intelligenz vermutlich schon, Bewusstsein unklar. Weiterhin meint man hier eigentlich das Bewusstsein/ Existenz und man bezieht sich auf die Frage nach dem unendlichen Leben im Diesseits (das zweite Satzteil macht dies klar, das es sich um das Diesseits handelt). Hat eigentlich keinen religiösen Bezug. Es ist mir umgangssprachlich schon klar, was du damit sagen willst.

Ich könnte über den Satz bzw. deine Geschichte noch viel schreiben, aber eigentlich will ich dich nur auf folgendes hinweisen: Deine Geschichte ist gut und interessant geschrieben. Ich habe sie gerne gelesen und konnte selber auch nochmals viel lernen, z.B. wie du die Technikfragen geschickt umgangen bist, wie du mit den Einschüben die Geschichte geprägt hast. Aber, deine Geschichte basiert auch auf den wichtigen Begriffen wie Bewusstsein, Leben, Jenseits, Seele etc und hier merkt man, dass diese Begriffe nicht genügend recherchiert wurden und die daraus folgenden Konsequenzen nicht zu Ende durchdacht wurden. Je nach Leserschaft ist dies komplett egal, oder halt auch nicht.

viele Grüße
Kroko

 

Hallo Perdita,

vielen Dank für Deine tolle Geschichte.
Es macht mir immer große Freude, Deine Storys zu erleben. Und immer ist mindestens ein Part drinnen, an dem es mir kalt den Rücken hinunter läuft. Hier war es

Es gibt keine digitalen Kopien ihres Bewusstseins. Sie hat keine Seele.
Ein einfacher Satz, der eigentlich die Quintessenz der Geschichte ausdrückt.

Allerdings gab es ein paar Kleinigkeiten, die meine Lesefluss gestört haben. Nämlich empfand ich die zusätzlichen Zitate aus den imaginären Büchern als unnötig und auch zu lang. Ich finde, in einem Roman kann man auf so etwas zurückgreifen. In einer Kurzgeschichte empfinde ich es als Bremse.

Apropos: Du hast mal geschrieben, dass deine Texte immer so lang sind. Mich zumindest stört das nicht. Im Gegenteil :)

Lieben Gruß
Chricken

 

Hallo zusammen,

mir fehlt nicht der Wille, aber zur Zeit leider die Energie für die Überarbeitung - wie das manchmal so ist im Urlaub, fühl ich mich gerade viel müder und weniger gesund als in stressigen Zeiten. Ich hoffe, wenn ich am Montag wieder zur Arbeit muss, wird der steigende Adrenalinspiegel das Problem lösen. :)

Ich will aber wenigstens die neuen Kommentare beantworten.

Hi Kroko,

danke für deine Rückmeldung.

Kroko schrieb:
Schreibst du also „... Jenseits physikalisch unmöglich ...“ dann ist dies ein inhaltlich sinnloser Satz, da das Jenseits sich eben nicht auf die Physik bezieht.
Inhaltlich stimme ich dir da ja hundert Prozent zu, und ich überlege auch, wie ich das besser formulieren kann. Es ist halt so: Der Leser muss da schnell ein Briefing kriegen, was los ist. Also die Mehrheit der Leute denkt, es kann kein Jenseits geben, deshalb wurde ein virtuelles geschaffen. Darauf will ich nicht viel Text verwenden, das setzt ja bloß den Rahmen für die Geschichte. Wenn das mit einem Satz rübergebracht werden kann, bin ich da grundsätzlich bereit, den Preis zu zahlen, dass der nicht ganz korrekt ist. Denn es wird auch in der wirklichen Welt eine Menge geschrieben, was streng genommen nicht korrekt ist. Aber wie gesagt, ich überlege, wie ich den gleichen Effekt mit einem besser formulierten Satz erzielen kann. :)

Kroko schrieb:
Der Satz ergibt inhaltlich keinen Sinn. Eine Tatsache ist es erst dann, wenn es bewiesen wurde (siehe Definition Tatsache). Und was ist eine negative Tatsache?
Negative Tatsache ist eine schlechte Formulierung. Negative Aussage wollte ich da wahrscheinlich schreiben. Ich glaub, wir meinen aber das gleiche.

Kroko schrieb:
Ich könnte über den Satz bzw. deine Geschichte noch viel schreiben, aber eigentlich will ich dich nur auf folgendes hinweisen: Deine Geschichte ist gut und interessant geschrieben. Ich habe sie gerne gelesen und konnte selber auch nochmals viel lernen, z.B. wie du die Technikfragen geschickt umgangen bist, wie du mit den Einschüben die Geschichte geprägt hast.
Ja, das mache ich gerne so, dass ich solche Details elegant umgehe. :) Ich habe großen Respekt vor Autoren, die für ihr Werk genau recherchieren, aber ich selbst bin in der Hinsicht oft ziemlich faul.
Es gibt diesen schönen englischen Begriff, den man ganz schlecht übersetzen kann "suspension of disbelief", dass der Leser sich auf etwas einlässt, was er im normalen Leben hinterfragen müsste, damit eine Geschichte "funktioniert", also den beabsichtigten Unterhaltungseffekt hat. Das ist immer mein Ziel, dass das dem Leser ermöglicht wird, und dass es ihm nicht durch irgendwelche großen und offensichtlichen Logiklöcher oder durch total unglaubwürdiges Verhalten der Figuren kaputt gemacht wird. Wann das passiert, ist natürlich individuell unterschiedlich, deshalb wird es selten gelingen, jeden Leser mitzunehmen.
Das soll nicht heißen, dass man auf Recherchen und Genauigkeit grundsätzlich verzichten kann oder dass ich in der Hinsicht keinen Verbesserungsbedarf habe. Aber ich schreibe oft sehr "nach Gefühl", und lasse lieber Dinge offen, als viel Zeit auf Recherchen zu verwenden, wenn ich einmal im Schreiben bin. Das klingt so aufgeschrieben irgendwie alles sehr nach Ausrede, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich leicht blockieren kann, wenn man beim Schreiben jedes Detail hinterfragt. Dafür gibt es ja dann die Kritiker, die das dankenswerterweise übernehmen. :)

Hallo chricken!

chricken schrieb:
Es macht mir immer große Freude, Deine Storys zu erleben.
Das ist sehr schön zu hören :)

chricken schrieb:
Allerdings gab es ein paar Kleinigkeiten, die meine Lesefluss gestört haben. Nämlich empfand ich die zusätzlichen Zitate aus den imaginären Büchern als unnötig und auch zu lang.
Ja, das seh ich jetzt auch kritischer. Ich probiere gern mal neue Instrumente aus. Manchmal scheitert das - z.B. habe ich bis heute keine gescheite Geschichte im Briefformat zustande bekommen, obwohl mich schon eine Weile daran versuche. Hier hat es nach meinem Empfinden durchaus funktioniert, aber das Instrument hat definitiv auch Nachteile.
Es hat mir geholfen, ein paar Sachen einzubauen, wo ich anderenfalls unsicher gewesen wäre, wie ich sie unterbringe, und mir erlaubt, ein paar eigene Ansichten wiederzugeben. Aber Unsicherheit und der Wunsch, so "Botschaften" in der Geschichte unterzubringen sind halt nicht die besten Ratgeber. :)
Komplett rausnehmen werde ich die Teile wohl nicht, aber Kürzungen sind auf jeden Fall angebracht.

chricken schrieb:
Du hast mal geschrieben, dass deine Texte immer so lang sind. Mich zumindest stört das nicht. Im Gegenteil
Ich bin auch gar nicht gegen lange Texte. ich schreibe gern welche ,und mich freut es auch immer, wenn jemand etwas einstellt, wo man merkt, da wurde richtig lang dran gearbeitet - das sind oft auch Texte mit über zehn Seiten.
Aber ich denke, es gibt eine optimale Länge für jeden Text. Und mir fällt es scheinbar leichter, mir am Anfang Grenzen zu setzen, als im Nachhinein zu kürzen, um mich dieser optimalen Länge anzunähern. Also ich kann mich ohne weiteres entscheiden, irgendeine Figur oder Szene, die mir noch im Kopf rumschwirrt, wegzulassen, wenn der Text noch nicht geschrieben ist. Aber wenn die Dinge dann erst mal da stehen, und ich will etwas davon wieder wegnehmen, weil mir klar wird, dass es nicht unbedingt notwendig ist - das fällt mir dann richtig schwer.

 

Hi Perdita,

möchte dir hiermit offiziell mitteilen, dass das mein neuer Lieblingstext von dir ist. :) Das ist so ein verdammt cleveres Gedankenexperiment, das dieser Geschichte zugrunde liegt, das find ich wirklich super.

Ich bin mir nicht sicher, wie ich zu diesen Blog-Einträgen stehe. Einerseits ist das der eleganteste Kniff, Exposition und pädagogische Gedankengänge des Autors unterzubringen, den ich seit langem gelesen habe. (In Happy End zB hattest du das ja alles in einem laaangen belehrenden Dialog in den letzten Absätzen. Mir fällt das halt so auf, weil ich auch zu dieser Unart neige.)
Andererseits war mir beim Lesen eben klar: Okay, das ist ein Kniff, ich lese gerade Perditas Position hier, höre gerade den Essayisten im Autor reden.

Ist schwierig. Natürlich will man seine Botschaft an den Mann bringen, aber jetzt stehen halt alle klugen Gedanken, die man sich zu deinem Gedankenexperiment machen kann, voll ausformuliert im Text drin. Finde ich störend. Ich hab zwar keine Ahnung wie es geht, aber ich würde nach Wegen suchen, wie man die Geschichte ohne Erklär-Blog erzählen kann. Ohne, dass inhaltlich was fehlt, versteht sich.

Als wir eintraten und er das Licht einschaltete, konnte ich sie nicht sehen. Für den Moment war ich erleichtert, bis mir auffiel, dass es nur einen möglichen Ort gab, wo sie sein konnte.
„Möchten Sie eine Tasse Tee?“, fragte der Pater auf dem Weg zu seinem Schreibtisch.
Er sah nicht durchsucht aus – Agnes war erschreckend gut in solchen Dingen.
Trotzdem rechnete ich jeden Moment damit, dass ihm etwas auffallen würde. Stattdessen sagte er: „Seien Sie so lieb und schließen Sie die Tür. Es zieht hier sonst wie Hechtsuppe.“
„Oh, aber ich bleibe nicht lang“, sagte ich verzweifelt. Wenn er mir kurz den Rücken zuwendete, hätte Agnes genug Zeit zu verschwinden, ohne dass er etwas bemerkte? Konnte ich ihn irgendwie ablenken?
„Trotzdem, bitte“, sagte er. „Glauben Sie mir, nach fünf Minuten bekommt man einen steifen Hals.“
Mir fiel nichts mehr ein. Ich bin auch furchtbar schlecht im Improvisieren. Ihm war bestimmt schon aufgefallen, dass ich mich merkwürdig benahm, aber wahrscheinlich dachte er, es wäre die Trauer. Bevor ich die Tür schloss, machte ich unwillkürlich die Augen zu – vielleicht glaubte das Kind in mir, wenn ich Agnes nicht sähe, würde sie unsichtbar sein. ***
„Mann“, sagte Agnes. „Das ist ziemlich peinlich.“
Laske riss die Augen auf. „Sie sind auch hier? Warum …?“
Ich dachte, sie sitzt unter dem Schreibtisch.
Und bei der zweiten Stelle hier unten, da hat Kopfkino bei den *** einen Filmriss. Da würde ich noch einen Satz einschieben, wie Agnes "auftaucht", an der Wand lehnt oder so. Um mir als Leser - der immer noch hartnäckig dachte, sie hockt unterm Tisch - klarzumachen, Agnes kommt jetzt hinter der Tür zum Vorschein.

Ist auf alle Fälle eine gute Geschichte.

 

„Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen.
Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder.
Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.

Bin ich's, so ists ein jeder, der ist soviel wie ich.
Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.

Zugrund das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.
Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. “​


Hallo Perdita,

ich bin weder ein ausgewiesener S©ientolog® und somit kein häufiger Gast in SF (wobei das F mir gleich die Fantasy mit abdeckt), noch sonderlich religiös oder gläubig usw., aber wie’s halt so geht, ein Stern geht auf und man betritt die Zukunft, wobei ich froh bin, dass Luther nicht nur dem Ablasshandel widersprochen, sondern zugleich das Fegefeuer gelöscht und abgeschafft hat [„Die Meinung, dass eine kirchliche Bußstrafe in eine Fegefeuerstrafe umgewandelt werden könne, ist ein Unkraut, das offenbar gesät worden ist, während die Bischöfe schliefen.“ (Luther, These 11, neuer teutscher Rechtschreibung angepasst).] Da war ich halt neugierig, wie’s denn nun in einer nicht allzu fernen Zukunft immer noch da ist (immerhin in einer sog. toten Sprache betitelt), oder wenn’s denn schon mal weg war, wieder auftauchen kann und – so viel vorweg -, ich hab den Besuch nicht bereut, egal was jetzt noch kommen mag.

Abgesehen von andern literarischen Versuchen fiel mir dabei eine gänzlich andere Sparte ein mit einem Spielfilm aus den 80-er Jahren, in dem versucht wurde, ein bis gerade intaktes Gehirn über die Lebenszeit seines Eigentümers hinaus zu retten. Aber wie das so ging in der Ära der Iron Lady im “Britannia Hospital“ (Lindsay Anderson, 1982), strikes erschwerten den wirtschaftlich-finanziellen wie den wissenschaftlich-religiösen Fortschritt. Kurz: Es ist eine Satire, kann auch gar nicht anders sein, denn wie alles begrenzt ist, Anfang und Ende hat, so auch die elektronischen Medien, die nicht näherungsweise so lange halten, wie die ersten Speichermedien, Stein, oder das wesentlich jüngere Papier.

Ab und zu schimmert ums Purgatorium feine Ironie durch, wie’s halt das Kleinbürgertum heraufbeschwört (im Fremdgang eines Kirchgängers zB), dass ich schon fast – wenn wir schon von Religiösem sprechen – an Satire glaube (womit das S in SF erklärt wäre). Wie hier zB

Agnes würde sagen, das liegt daran, dass es kein echtes Leben nach dem Tod gibt,
nicht nur einer Thea Dorn schimmerte darin Theo(dor W.) Adorno durch mit seinem wohl bekanntesten Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Minima Moralia, I. Teil, 18)

Wie überhaupt im Namen

Agnes Bachmann!,
bedeutet doch Agnes die Heilige/Reine, dass ich der Familie Bachmann glatt noch ein prominentes, wenn auch verbranntes Mitglied zuführe (es ja eigentlich schon hab, s. o.): die heilige Ingeborg (Ingvi, Ing(uom)o = Götter und Heldennamen germanistischer Zunge, borg = Schutz, Geborgenheit) B., die mit ihren Versen (s. o.) im Nachgang zu Shakespeare (Wintermärchen) mit „Böhmen liegt am Meer“ das Problem allen Glaubens an ein Leben nach dem Tod aufgreift. Und Glauben heißt im Volksmund ja nicht wissen, oder in Deinen Worten
Und wenn wir nicht wissen, bleibt uns nur übrig zu glauben.

Nun, etymolgisch stammt das Wort der Seele von der See ab, glaubten die Alten doch, die Menschheit – d. ist ja unsere Generation wie alle Generationen zuvor und hernach – kämen und gingen wieder ins Wasser.

Aber das erklärt nicht, warum zB Waffennarren ihrem Feuerwerkzeug eine Seele zusprechen: Es ist der Lauf ihres Mordswerkzeugs, in dessen Mitte sie gar eine Seelenachse zu erkennen meinen.

So hat sich die Seele auch mit der Kriegstechnologie gewandelt, wobei zu fragen ist, ob es auch Himmel und Hölle mit allem dazwischen für Waffen gibt. Sollte das die Schrotthalde sein?
Die Bedeutung der Seele wandelt sich halt.


Was zunächst auffällt, ist die Herrschaft der Hilfsverben, bedingt durch üppige Verwendung der zusammengesetzten Zeit, die üblicherweise im Gespräch oder in unserm Fall, der mündlichen Erzählung vorherrscht, wie schon hier im ersten Satz.

Wir hatten alle damit gerechnet, dass mein Vater nur noch wenige Tage zu leben hatte.
In der mündlichen Rede freilich fällt es wegen ihrer Flüchtigkeit kaum auf, aber gefangen in der Schriftform schon. Da gäbe zudem der Nebensatz als indirekte Rede und damit im Konjunktiv I eine kleine Auflockerung im regierenden Plusquamperfekt, der für den Hauptsatz ja Bestand hat:
Wir hatten alle damit gerechnet, dass mein Vater nur noch wenige Tage zu leben [habe/hätte].
Dabei könnte sogar dem Konjunktiv irrealis der Vorzug gegeben werden, ist doch bekannt, wie Hochrechnungen unterm Prinzip Hoffnung ausfallen.
Im Prinzip gilt es auch für den zwoten Satz, der aber doch immerhin in seinem Appendix zeigt, dass es mit der indirekten Rede durchaus geht, freilich um den Preis des fehlenden Kommas zwischen den aufgezählten Nebensätzen:
…, um zu sagen[,] er werde entlassen.

Der vierte Satz weist dann mit dem Ausbruch aus dem Präteritum
… eine der drei Sorten Krebs, die sie noch nicht heilen können.
in die Zukunft, wobei’s „heilen könn(t)en“ und der faktischen "Heilung" ja schon so eine Sache ist beim Krebs.

Gelegentlich bricht ein substantivierter Stil durch (Amts- und Verwaltungsdeutsch, wo ja auch schon mal ein Anruf weniger "gemacht" als "getätigt" wird):

Ich machte ein paar erste Anrufe zur Vorbereitung der Beerdigung – die Liste mit den Nummern hatte ich schon vor Wochen geschrieben. Dann rief ich nach und nach den Rest der Familie an.
"… Anrufe … Vorbereitung … Beerdigung … [bis hin zum] Rest der Familie",
der ja auch als „restliche“ Familie ohne Schaden zu nehmen daherkommen könnte.

Aber genug des Nörgelns, dass ich nochmals Ingeborg Bachmann zitiere

„… wie ich mich irrte und Proben nie bestand,
doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.
Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags
ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.
Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land,
ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr,
ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält,
begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.“​

So, genug für heute, doch - wenn's Dir Recht ist - sicherlich nicht der letzte Besuch vom

Friedel

 

Was vor einem liegt, und wär's ein Text -

liebe perdita –

muss kein anderer sehen als irgendein andrer und selbst der Autor darf ruhig eine andere Intention zu seinem Text gehabt haben. Sei es nun eine gute Geschichte (sonst schrieben wir Gebrauchsanweisungen oder trieben Mathe) oder ein gutes Gedicht, aber auch, was einer mit dem Leben anfängt. Da ist das ewige Leben eher ein Bedrohung, weil es verdammt lange weilt und langweilt – buchstäblich zu Tode.

In Deiner Geschichte gehts weniger um die Seele, die, wie „Zeit“ als gedachte Dimension vom Raum abhängig ist, buchstäblich leibeigen und an den lebendigen Leib gebunden ist, als vielmehr ums Seelenheil, zu dem wir heute eher „Wohlbefinden“ und „Wahrhaftigkeit“ – selbst wenn die als Lüge daherkomme - zählen.
War früher der Geistliche des persönlichen Vertrauens für die Wiederherstellung des Seelenheils zuständig, so ist es heute der Seelenklempner. Steht heute noch hinterm Geistlichen eine Institution (nenne sie sich Alt- oder Neukatholisch, Griechisch paradox, usw.), so hinterm Seelenklempner eine ganze Industrie (Gesundheits[un]wesen, Chemie), vllt. sogar die gesamte Wirtschaft (schließlich ist zwar nicht jeder gleichermaßen Arbeits- und/oder Hilfskraft, aber selbst der größte Produzent ist zugleich Konsument), die inzwischen einen religiösen Status einnimmt und diktiert, was als gesund, normal etc. zu gelten habe - oder wie Manfred Lütz es ausdrückt „die Ungewissheit des Lebens schafft einen Markt für feierliche Pseudosicherheiten“, dem sich selbst Geistliche und Seelenklempner nicht entziehen (können oder wollen), aber doch immerhin verweigern können.

Mit der fünften Fassung des (amerikanischen) Klassifikationssystems DSM wird eine Trauer von über zwei Wochen zur psychischen Störung erklärt, was weniger dem Wohlbefinden des Trauernden als dem Geldbeutel der Therapierenden dient. Reichte vordem Beichte und Geständnis, so bedarf es heute des Coaches und der Couch - und des wiederauerstandenen Ablasshandel in Klempners Honorar. Aber warum ich jetzt gerade noch mal auftauch, wäre noch in einem nachzutragenden Schnitzers begründet.

Kurz nach dem Einschub

Aus: „Leben ohne Backup“ von Agnes Bachmann
heißt es da eher flüchtig
Mir schlug das Herz bis zu Hals

Gruß aus'm Pott vom

Friedel

 

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