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- 10.07.2007
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Purgatorium
Wir hatten alle damit gerechnet, dass mein Vater nur noch wenige Tage zu leben hatte. Aber als der Anruf kam, hatte ich für einen Moment diese absurde Hoffnung, dass alles ein Irrtum gewesen war und sie anriefen, um zu sagen er werde entlassen. Es war so schrecklich unfair. Er war sechsundfünfzig und hatte ausgerechnet eine der drei Sorten Krebs, die sie noch nicht heilen können.
Das Telefon lag neben mir, aber ich wartete, bis die Mailbox ansprang.
„Frau Hartwig“, sagte eine bekannte Stimme. „Hier ist Schwester Johanna Singer vom Sankt-Katharinen-Hospiz. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass Ihr Vater seine irdische Hülle verlassen hat.“
Schön ausgedrückt, dachte ich.
Ich rief das Hospiz zurück und fragte nach, wer das Conservatio-Sakrament ausgeführt hatte. Ich machte ein paar erste Anrufe zur Vorbereitung der Beerdigung – die Liste mit den Nummern hatte ich schon vor Wochen geschrieben. Dann rief ich nach und nach den Rest der Familie an. Ich war ruhig und gefasst, wir waren darauf vorbereitet gewesen. Seit Monaten sagten wir uns, dass er bald an einem besseren Ort sein würde.
Irgendwann begann es draußen zu dämmern, und ich brauchte eine Pause. Ich machte Kaffee, und dann musste ich daran denken, wie Papa uns die teure Maschine geschenkt und gesagt hatte, wir könnten ja nicht unser Leben lang Katzenpisse trinken. Das war der Moment, in dem ich doch anfing zu weinen, und damit machte ich weiter, bis Julius nach Hause kam.
Wir wissen, dass der Tod nicht das Ende ist – für die meisten ist er das nicht. Trotzdem tut es weh, wenn einem klar wird, dass man nie wieder die Hand eines geliebten Menschen halten oder seine Stimme hören wird. Agnes würde sagen, das liegt daran, dass es kein echtes Leben nach dem Tod gibt. In dem Punkt ist sie eben verbohrt.
Aus: „Die Todesfalle“ von Agnes Bachmann
Als Paxton und McAllister 2038 nachwiesen, dass der Tod eines Menschen das unwiderrufliche Ende seines Bewusstseins bedeutet, dass ein „Jenseits“ physikalisch unmöglich ist, sagten Experten bereits das Ende der Religion voraus. Sie verglichen die Erschütterungen, die Paxtons Erkenntnisse auslösten, mit Galileo und Darwin, und übersahen dabei, dass keine dieser wissenschaftlichen Revolutionen dem Glauben wirklich geschadet hat.
Experimentelle Technologie, um das Bewusstsein einer Person zu digitalisieren, existierte bereits. Nach der Veröffentlichung von Paxtons ersten Artikeln erhielten diese Forschungen plötzlich großzügige finanzielle Unterstützung aus religiösen Kreisen, allen voran dem Vatikan. Der Rest ist Religionsgeschichte. Zum ersten Mal gab es die Möglichkeit, das Wunschdenken aus Jahrtausenden Wirklichkeit werden zu lassen.
Die theologischen Begründungen variierten – die einen sahen in den mythischen Jenseitsvorstellungen ihrer heiligen Schriften eine Prophezeiung, die diese Technologie vorausgesagt hatte. Die anderen sagten, ihre Offenbarungen seien von Anfang an als moralisches Leitbild gedacht gewesen, wie das Leben nach dem Tod aussehen sollte, nicht als Beschreibung der Realität.
Eins hatten sie alle gemeinsam: Ihre Anhänger hörten nicht auf zu glauben, dass ihre Seelen nach dem Tod weiter existieren würden. Sie bekamen Gewissheit.
Pater Laske kennt unsere Familie schon sehr lange. Agnes und ich hatten Kommunionsunterricht bei ihm. Er hat mich und Julius getraut und unsere drei Kinder getauft. Er würde bei der Beerdigung meines Vaters die Predigt halten, und natürlich war er es auch gewesen, der die letzte Conservatio für ihn durchgeführt hatte. Ein freundlicher, mitfühlender Mann. Es tat mir gut, ihn zu sehen.
„Es muss sehr schwer für Sie gewesen sein“, sagte er. „Diese lange Zeit im Krankenhaus und dann im Hospiz.“
Ich musste schlucken. „Es war schwer. Aber er hat es hinter sich. Er kommt an einen besseren Ort.“
„Ja …“, sagte Laske.
Die Pause nach dem Wort gefiel mir nicht. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als sei ihm etwas unangenehm.
„Sophie“, sagte er schließlich. „Hat Ihr Vater Ihnen gegenüber einmal eine Corinna erwähnt?“
„Ich glaube nicht. Eine der Schwestern im Hospiz vielleicht?“
Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte. Sein Gesicht war gerötet, und dauernd fummelte er an seinem Kragen herum, als wäre der zu eng. Es machte mich richtig nervös.
„Nein, nicht vom Sankt Katharina. Er hat sie bei der Arbeit kennengelernt. Vor etwa acht Jahren, als Ihre Mutter noch lebte.“
Ich zuckte die Achseln. „Über seine Arbeit haben wir nicht viel geredet. Ich kenne ein paar seiner Kollegen vom Sehen, aber eine Corinna war nicht dabei.“
„Also, er …“, der Priester atmete tief durch, wie um neuen Anlauf zu nehmen. „Er hatte eine Affäre mit dieser Frau. Und das hat er nie gebeichtet.“
„Das kann nicht sein“, sagte ich automatisch. „Das ist bestimmt ein Fehler.“
Ich hatte nicht vor, mich vor irgendetwas zu drücken, aber ich konnte mir das einfach nicht vorstellen. Mein Vater und eine Frau, von der ich noch nie gehört hatte.
Laske schüttelte den Kopf. „Das Examinatio-Sakrament ist ein Algorithmus. Alle gespeicherten Erinnerungen werden automatisch geprüft. Ich hätte das auch nicht für möglich gehalten.“
„Was heißt das jetzt?“, fragte ich. Ich glaubte noch immer, dass ein Fehler vorlag, den ich aufklären könnte. Mein Vater hatte Krebs gehabt und keine Affären.
„Er wird eine Läuterung durchlaufen müssen, bevor er Zugang zum Paradies erhalten kann“, sagte der Priester.
Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen.
„Sie meinen, das Fegefeuer?“ Ich hatte schon seit gestern nicht mehr geweint, aber jetzt spürte ich, wie sich neue Tränen versammelten. Ich war ausgelaugt und müde, und ich hatte geglaubt, dass Papas Leiden zu Ende war.
„Das Purgatorium, ja.“ Laske reichte mir ein Taschentuch, und dann nahm er eins für sich, um sich Schweiß von der Stirn zu wischen. „Es ist notwendig, um ihn von dieser Sünde reinzuwaschen.“
„Das geht doch nicht“, sagte ich. „Ich … will das nicht verteidigen, wenn er eine andere Frau … aber er hat so viel gelitten! Gibt es keine Alternativen?“
Aus: „Die Todesfalle“ von Agnes Bachmann
Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurde aus der Vorstellung, dass das Bewusstsein nach dem Tod weiterexistiert, Realität. Der Vorwurf, dass sie nur Illusionen verkaufen, trifft nicht mehr zu, aber anderen Nachteile organisierter Religion existieren nach wie vor. Dogmatismus und rückwärtsgewandte Ideologien blieben bestehen, aber jetzt wirken sie über den Tod hinaus. Die Weltreligionen haben immer mit dem Versprechen jenseitiger Belohnungen und mit der Androhung von Strafen gearbeitet. Aber erst heute haben sie die Macht, all das in gewisser Weise wahr werden zu lassen.
Das Paxton-Experiment und die anschließende rasante Entwicklung digitaler Bewusstseinsspeicher führten nicht zu der Befreiung von Religion, die Humanisten sich ausgemalt hatten. Es war eher so, als hätte man einem Bankräuber, dem vorher nur eine Spielzeugpistole zur Verfügung stand, eine scharfe Waffe in die Hand gegeben.
Der Tag der Beerdigung war schnell gekommen. Ich versuchte, Laskes Predigt zuzuhören, und zumindest bei den Liedern mitzusingen, die Papa gemocht hatte, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Julius half mir auch nicht gerade dabei. „Wo bleibt deine Schwester?“, flüsterte er dauernd. Er kann so flüstern, dass man es zwei Reihen weiter noch hört, echt peinlich. „Sie wird noch kommen, oder? Es ist auch ihr Vater!“
„Natürlich kommt sie. Nur nicht in die Kirche.“ Das kannst du dir doch denken, hätte ich noch hinzugefügt, aber ich war müde und wollte keinen Streit. Heute Abend würde ich eine Schulter brauchen, an der ich weinen konnte.
„Du musst gleich mit ihr reden!“, flüsterte Julius. „Wir können uns das nicht leisten, neben dem Kredit und dem Schulgeld für die Mädchen.“
„Ich weiß“, flüsterte ich.
Agnes stand schon am Grab, als die Prozession mit den Sargträgern an der Spitze dort eintraf. Sie sah blasser und älter aus, als ich sie in Erinnerung hatte. War es wirklich zwei Monate her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten?
Wir umarmten uns zur Begrüßung. Man kann seiner Schwester ja schlecht die Hand schütteln, auch wenn man sich auseinandergelebt hat. Sie roch nach Zigaretten, die sie angeblich aufgegeben hatte. Das war seltsam tröstlich - ich hatte in den letzten Wochen auch wieder angefangen, heimlich zu rauchen.
„Tut mir leid, dass ich nicht reingekommen bin“, flüsterte sie. Warum flüsterten die Leute bei Beerdigungen immer? „Ich halte den verlogenen Scheiß nicht aus.“
„Ich bin froh, dich zu sehen“, sagte ich. Ich würde nicht darauf eingehen und etwas darüber sagen, dass der „verlogene Scheiß“ mir und vielen anderen Leuten Trost spendete. Meine Schwester und ich streiten nicht mehr über Religion, hauptsächlich, weil ich nicht mehr widerspreche.
Viele Leute, die Agnes nicht gut kennen, werfen ihr vor, sie hätte von Anfang an vorgehabt, aus ihrem Atheismus eine Karriere zu machen, als sie die Kirche verließ. Aber das stimmt einfach nicht. Ich bin natürlich auch nicht gerade glücklich, wenn ich sie in diesen Talkshows sehe, wo sie über unseren Glauben herzieht – wenn ihr „katholisches Elternhaus“ erwähnt wird, klingt das immer so, als wäre das ein Handicap, das sie überwinden musste. Aber ich weiß, dass sie alles aus Überzeugung tut. In gewisser Weise ist sie religiöser als ich, aber sie wird echt sauer, wenn man so was sagt.
Agnes ist einer der wenigen Menschen die ich kenne, die keine Backups machen lassen. Es gibt keine digitalen Kopien ihres Bewusstseins. Sie hat keine Seele. Wenn Sie einmal stirbt, dann wird sie für immer tot sein. Weil sie das so will.
Als sie damals die Kirche verließ, hatte sie eine kurze Phase, in der sie die konfessionslosen Jenseitsangebote studiert hat – Gamer, die nach ihrem Tod in ihren Lieblingsvideospielen weiterleben wollen, und solche Leute – aber jetzt lehnt sie auch das ab. Sie ist bereit, für ihre Überzeugungen zu sterben und nie wieder aufzuerstehen.
Aus: „Leben ohne Backup“ von Agnes Bachmann
Die Fakten sprechen gegen einen Dualismus von Körper und Geist. Wir müssen uns abgewöhnen, unser Bewusstsein und unseren Körper als separate Entitäten zu betrachten, die unabhängig voneinander existieren können.
Wenn mein Körper stirbt, dann existiert kein „ich“ mehr. Es ist technisch möglich, die Inhalte meines Gehirns zu kopieren, um Erinnerungen und Persönlichkeitsmerkmale später noch einmal abzurufen, aber diese Kopie wäre nicht ich. Ihre Existenz würde nichts daran ändern, dass die Augen, mit denen ich gesehen, die Hände, mit denen ich meine Ideen niedergeschrieben habe, und das Gehirn, das meine Emotionen gefühlt und meine Gedanken gedacht hat, sich allmählich in ihre Bestandteile auflösen.
„Seelen“ wissen wahrscheinlich nicht, dass sie keine echten Menschen sind. Aber es gibt Anhaltspunkte, dass selbst ein simuliertes Bewusstsein erkennt, dass etwas nicht stimmt. Die bekannten Langzeituntersuchungen der Universität Montreal haben gezeigt, dass über die Dauer der körperlosen Existenz Depressionen und andere mentale Probleme in extremem Maße zunehmen. Wir sind nicht für die Ewigkeit gemacht.
All das machte es mir natürlich nicht gerade leichter, meine Schwester um Geld zu bitten, um unserem Vater das Purgatorium zu ersparen.
Agnes verdient gut. Sie schreibt regelmäßig für große Magazine, sie tritt in Talkshows auf, sie hält Vorträge, und ihre Bücher und ihr Blog haben eine erstaunliche Zahl von Fans. Sie ist großzügig, wenn es um Geburtstagsgeschenke oder Spendenaktionen geht. Aber wenn es auch nur den geringsten Verdacht gibt, die Kirche könnte von etwas profitieren, dann könnte man sie genauso gut fragen, ob sie sich die Nase abschneiden möchte.
Wir mussten uns ungefähr tausend Beileidsbekundungen anhören. Die Hälfte der Leute kannte ich gar nicht, aber die meisten redeten länger mit mir als mit Agnes. Sie wollten gern sagen, dass Papa jetzt an einen besseren Ort kommen würde, und das fiel ihnen wohl leichter, wenn sie mit mir sprachen. Agnes sagte nichts dazu, aber man konnte ihr ansehen, was sie dachte.
Endlich hatten sich alle zerstreut. Ich wusste immer noch nicht recht, wie ich anfangen sollte.
„Kommst du mit?“, fragte ich schließlich.
„Ja, klar“, sagte Agnes. Sie sah gequält aus. „Weißt du noch, wie wir uns als Kinder bei der Beerdigung von Mamas Großtante über das Wort Leichenschmaus kaputt gelacht haben, weil es so sehr nach Zombieapokalypse klingt? Ich muss die ganze Zeit daran denken, und irgendwann werde ich anfangen zu lachen, und alle werden denken, ich bin komplett verrückt.“
„Das tun sie sowieso“, sagte ich. „Aber ich musste vorhin auch daran denken. Wenn du einen Lachanfall bekommst, halt dir einfach ein Taschentuch davor, dann glauben alle, du weinst.“
Julius warf mir einen ungeduldigen Blick zu, auf den ich gut hätte verzichten können.
„Wie lange bis du in der Stadt?“, fragte ich.
„Bis Dienstag noch. Ich hab mir ein Hotelzimmer genommen.“
„Wir hätten ein Gästebett für dich“, sagte ich. „Du kannst gerne …“
„Das Hotel ist okay“, sagte sie. „Das Netz dort ist besser.“
„Aber … können wir uns heute Abend zusammen setzen? Ein paar organisatorische Sachen klären?“
„Die Beerdigungskosten und so. Ja. Das wollte ich dir auch schon vorschlagen.“
Das hatte mir ein bisschen Hoffnung gemacht, dass es vielleicht nicht so schwierig werden würde. Aber ich bin schon immer zu optimistisch gewesen.
„Hör zu, ich übernehme den Bestatter, die Blumen und alles“, sagte Agnes. „Ich kümmere mich um den Papierkram. Alles was du willst. Aber mit Ablasshandel will ich nichts zu tun haben.“
Es ist eindrucksvoll, wie viel Wut meine Schwester in ein einziges Wort legen kann.
„Aber dann wird Papa …“
„Papa ist tot“, sagte sie. „Ich weiß, dass du darunter etwas anderes verstehst als ich. Aber wenn ich nach deiner Definition gehe, dann ist alles noch viel schlimmer. Verstehst du das nicht? Wenn das Backup – seine Seele – wirklich Papa wäre, dann wäre das Geiselnahme und Erpressung. Sie fordern Geld von uns, damit ihm nichts Schlimmes zustößt.“
„Und du willst zulassen, dass sie das mit ihm machen?“ Die philosophischen Argumente waren mir schon lange ausgegangen. Wir drehten uns im Kreis.
„Dass eine Simulation meines Vaters einem simulierten Fegefeuer ausgesetzt wird, um ihn von angeblichen Sünden zu reinigen? Ich halte das für widerlich und geschmacklos, aber ich lasse mich damit ganz bestimmt nicht erpressen.“
Agnes zündete sich eine neue Zigarette an. Seit heute Abend war unser Haus nicht mehr rauchfrei, wir hatten zu zweit den Aschenbecher gefüllt. Zum Glück passten Julius’ Eltern auf die Kinder auf.
„Was werfen sie ihm denn überhaupt vor? Er war doch ein Musterkatholik. Er ist jeden Sonntag in die Kirche gegangen, solange er noch die Kraft hatte.“
„Er hatte eine Affäre, sagt Laske. Mit einer Frau namens Corinna.“
„Was, deshalb?“ Agnes starrte mich entgeistert an. „Ist das sein Ernst?“
„Du wusstest das?“
Absurderweise fühlte ich einen Stich von Eifersucht. Agnes war immer das Papakind. Er hat ihr alles erzählt, selbst als sie in eine andere Stadt gezogen ist und wir nur ein paar Straßen weiter wohnten und uns um ihn gekümmert haben, als er krank wurde.
„Herrgott! Affäre … Er hat einmal auf einer Dienstreise einen Ausrutscher gehabt, und sich hinterher Riesenvorwürfe gemacht. Er hätte fast gekündigt, um von der Frau weg zu sein, aber sie hat dann sowieso geheiratet und ist weggezogen oder was weiß ich. Er wollte Mama nie weh tun. Ich hätte es dir erzählt, aber ich hatte ihm versprochen, den Mund zu halten, wenn er nicht selbst darüber spricht. Er hat es nie jemandem gesagt.“
„Außer dir“, sagte ich.
„Ich hab ihn eben gefragt, warum er so schlecht drauf war.“
Ich schwieg eine Weile. Wenn ich ehrlich war, wäre es mir ja auch lieber gewesen, nie von dieser Geschichte erfahren zu haben, aber trotzdem war ich sauer, dass Agnes davon gewusst hatte.
„Es gibt ein paar Fälle, wo Leute geklagt haben“, sagte sie schließlich. „Ich hab darüber geschrieben. Aber gewonnen hat keiner von denen. Mitgliedschaft in der Kirche heißt, deine Seele gehört denen. Da ist juristisch nichts zu machen.“
„Das ist ja auch bescheuert. Wenn man das Geld für einen Anwalt hat, der so eine Klage führt, dann kann man doch einfach den Ablass bezahlen.“
„Denen ging es ums Prinzip“, sagte Agnes. „Anwälte sind manchmal das kleinere Übel, ethisch gesehen.“
Ich lachte widerwillig. „Trotzdem, so was käme für mich nie infrage. Ich finde es richtig, dass die Kirche die Seelen prüft, bevor man ins Paradies kann, und dass … für Sünden bezahlt werden muss. Ich will Laske das Geld geben - wir können es uns nur im Moment nicht leisten. Ich würde es dir zurückzahlen, wenn du …“
„Die bekommen kein Geld von mir, auch nicht indirekt. Aber ich lasse mir etwas einfallen.“
„Was denn?“, fragte ich.
„Ich muss nachdenken. Ich glaube zwar nicht daran, dass Papa jetzt auf einem USB-Stick weiterlebt, aber ich werde sie nicht diese Mafianummer durchziehen lassen. Nicht mit meinem Vater.“
Aus: „Leben ohne Backup“ von Agnes Bachmann
Die Angst der Menschen vor einem eindeutigen Ende bringt wirklich perfide Geschäftsmodelle hervor. Man redet ihnen ein, dass gute Menschen es verdienen, ewig zu leben. Aber wie wird man ein guter Mensch? Selbst zu denken und dem eigenen Gewissen zu folgen ist schwer, aber es ist leicht, sich Regeln vorschreiben und beim Verstoß dagegen bestrafen zu lassen. Und wenn man der Strafe entgehen will? Auch dafür gibt es eine Lösung. Das ewige Leben, die Strafe für Verfehlungen und der Erlass der Strafe – alles ist aus einer Hand zu haben, solange man willens ist, dafür zu zahlen.
Es ist nicht einfach, diesen Sirenengesängen zu widerstehen. Sterblich zu sein ist nichts für Feiglinge. Ich nehme den Tod nicht auf die leichte Schulter. Und ich lasse mir von Menschen, die unsere Realität als Wartesaal begreifen, nicht an den Kopf werfen, dass mein Leben bedeutungslos ist oder dass ich keinen moralischen Kompass habe. Ich brauche kein künstliches Jenseits, um mich anständig zu verhalten. Gerade weil ich sterblich bin, gebe ich mich nicht mit Versprechungen zufrieden, dass später alles gut wird, und übernehme Verantwortung für mein Handeln im Hier und Jetzt.
Das Gebäude hob sich schwarz gegen den Abendhimmel ab, und es sah aus, als wäre der Vollmond auf der Turmspitze aufgespießt worden. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich beim Anblick unserer Kirche ein mulmiges Gefühl.
„Ganz ruhig, du musst bloß Schmiere stehen“, sagte Agnes.
Sie hatte leicht reden – als Journalistin ist sie es eben gewohnt, an Orte zu gehen, wo sie unerwünscht ist. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Aber als sie mich fragte, ob ich lieber nach Hause gehen wollte, sagte ich nein.
Der Chor probte an diesem Abend, Laske würde für einige Stunden in der Kirche sein und sein Büro unbesetzt lassen. Die Tür war nicht verschlossen, aber das sorgte nur dafür, dass ich mich noch schlechter fühlte.
Er vertraute seiner Gemeinde, und wir … wir kamen hierher, um die Kirche zu bestehlen. Vielleicht hatten die Leute ja Recht. Meine gottlose Schwester hatte offensichtlich einen schlechten Einfluss auf mich.
„Warte hier“, sagte Agnes. „Ich suche es.“
Ich blieb im Korridor und wanderte unruhig auf und ab, bis mir die Füße wehtaten. Als die Uhr im Kirchturm schlug, zuckte ich zusammen. So ungefähr muss sich Petrus gefühlt haben, als der Hahn krähte. Wie lange war Agnes schon da drin?
Ich sah zum Fenster hinaus und zählte die Schläge, und als ich mich umdrehte, stand Laske hinter mir. Ich bin schrecklich nutzlos als Schmieresteherin. Die Schläge der Uhr waren hier drin so laut, dass ich seine Schritte einfach nicht gehört hatte.
„Sophie!“, sagte er. „Guten Abend! Sie hätten anrufen sollen, dann hätte ich einen Termin mit Ihnen ausgemacht.“
„Oh – ich … ich wollte nur … ich muss wirklich ganz dringend mit Ihnen sprechen. Wegen meines Vaters.“ Ich stammelte weniger herum, als ich befürchtet hatte, aber mein Gesicht war heiß und vermutlich knallrot. Hoffentlich konnte er das im Halbdunkel nicht sehen.
„Natürlich, gern. Es ist nur, dass wir heute Chorprobe hatten, ich wäre normalerweise noch gar nicht zurück. Ich hoffe, Sie haben nicht allzu lange gewartet. Kommen Sie in mein Büro!“
Es brach mir das Herz, wie nett er zu mir war. Ich schämte mich so sehr, dass mir partout nichts einfiel, wie ich Agnes vorwarnen könnte. Ich konnte nur hoffen, dass sie uns gehört hatte und dass es in Laskes Büro irgendwo ein Versteck gab.
Als wir eintraten und er das Licht einschaltete, konnte ich sie nicht sehen. Für den Moment war ich erleichtert, bis mir auffiel, dass es nur einen möglichen Ort gab, wo sie sein konnte. Die Ecke neben der Tür.
„Möchten Sie eine Tasse Tee?“, fragte der Pater auf dem Weg zu seinem Schreibtisch. Er sah nicht durchsucht aus – Agnes war erschreckend gut in solchen Dingen.
Trotzdem rechnete ich jeden Moment damit, dass ihm etwas auffallen würde. Stattdessen sagte er: „Seien Sie so lieb und schließen Sie die Tür. Es zieht hier sonst wie Hechtsuppe.“
„Oh, aber ich bleibe nicht lang“, sagte ich verzweifelt. Wenn er mir kurz den Rücken zuwendete, hätte Agnes genug Zeit zu verschwinden, ohne dass er etwas bemerkte? Konnte ich ihn irgendwie ablenken?
„Trotzdem, bitte“, sagte er. „Glauben Sie mir, nach fünf Minuten bekommt man einen steifen Hals.“
Mir fiel nichts mehr ein. Ich bin auch furchtbar schlecht im Improvisieren. Ihm war bestimmt schon aufgefallen, dass ich mich merkwürdig benahm, aber wahrscheinlich dachte er, es wäre die Trauer. Bevor ich die Tür schloss, machte ich unwillkürlich die Augen zu – vielleicht glaubte das Kind in mir, wenn ich Agnes nicht sähe, würde sie unsichtbar sein.
„Mann“, sagte Agnes. „Das ist ziemlich peinlich.“ In Wahrheit lehnte sie mit verschränkten Armen an der Wand und wirkte kein bisschen verlegen.
Laske riss die Augen auf. „Sie sind auch hier? Warum …?“
Als sich das Verstehen auf seinem Gesicht abzeichnete, wollte ich am liebsten im Boden versinken. „Es tut mir so leid! Wir … ich … ich wollte den Ablass bezahlen, aber sie sagt, das ist …“
„Erpressung, ich weiß. Ich habe ihre Artikel gelesen.“
Der Pater schien nicht besonders aufgebracht zu sein. Er ging zu dem Aktenschrank in der Ecke des Raums, öffnete ihn und zog einen Ordner hervor. Er blätterte bis zum Ende, wo eine Klarsichthülle eingeheftet war, die einen silbernen Stick enthielt, und stellte die Akte zurück.
„Ihr Vater ist noch hier“, stellte er fest.
Agnes verdrehte die Augen.
„Ich kann Sie verstehen“, fuhr Laske fort. Er nahm meine Hand. „Sie sind in Trauer, und es war zweifellos ein Schock, von seiner Affäre zu erfahren. Menschen unter solcher Belastung … reagieren oft auf diese Weise. Ich werde nicht die Polizei rufen. Wir können darüber sprechen, wenn Sie das nächste Mal zur Beichte kommen. Und wenn ich Ihnen sonst irgendwie helfen kann, können Sie mich jederzeit anrufen.
Was Sie betrifft“, wandte er sich an Agnes, „Ihnen kann ich leider nicht mehr helfen.“
„Ihre Art von Hilfe brauche ich nicht.“
Ich seufzte insgeheim. Laske ließ uns so leicht davonkommen, musste sie wirklich so pampig reagieren? Ich griff nach ihrem Arm. „Lass uns gehen. Ich danke Ihnen, Pater. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was wir uns dabei gedacht haben.“
Ich rannte die Treppe runter, und zog Agnes hinter mir her, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Erst als wir den Schatten des Kirchturms hinter uns gelassen hatten, hielt ich kurz an, weil ich außer Atem war.
„Tut mir wirklich leid, ich weiß gar nicht, was wir uns dabei gedacht haben“, sagte Agnes mit sarkastischer Kleinmädchenstimme. Ich hasse es, wenn sie das macht.
Trotzdem sagte ich: „Hör zu, es tut mir leid.“
„Hör auf, dich zu entschuldigen. Es war Pech, dass er so früh zurückgekommen ist.“
„Nein“, sagte ich. „Ich will damit sagen, ich hätte dich nicht mit reinziehen sollen. Du glaubst nicht an Seelen und ans Fegefeuer und ans Paradies … für dich ist Papa für immer fort. Das ist nicht deine Sache. Ich treibe irgendwie das Geld auf. Es war falsch von mir, das umgehen zu wollen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Was die tun, ist falsch. Und das macht es zu meiner Sache.“
„Was hast du vor?“, fragte ich.
„Mal sehen“, sagte sie. „Zumindest weiß ich jetzt, wo er das Back- … die Seele aufbewahrt.“
Zweifel
Blogeintrag von Agnes Bachmann
Vier Tage nach der Beerdigung von Walther Bachmann
Ich habe immer die Ansicht vertreten, dass das, was Religionen und andere Geschäftemacher als „Leben nach dem Tod“ verkaufen, nicht echt ist. Der wirkliche Mensch, die eigentliche Person, hört auf zu existieren, wenn das Gehirn stirbt. Aber macht das wirklich einen Unterschied, für diejenigen, die sich solchen Praktiken ausliefern?
Wie ihr wisst, ist mein Vater gestorben. Das, was er für seine Seele gehalten hat, gehört jetzt der neokatholischen Kirche. Er hat geglaubt, dass seine Kirche ihn für seine sogenannten Sünden bestrafen muss, bevor er sein Leben nach dem Tod genießen darf. Sie können seine schlimmsten Schuldgefühle und seine tiefsten Ängste simulieren, und das künstliche Bewusstsein, das dem ausgesetzt ist, wird glauben, mein Vater zu sein.
Vielleicht machen wir Humanisten es uns zu einfach, wenn wir Seelen nicht als menschlich betrachten. Wenn wir sie einfach nur als das digitale Eigentum der jeweiligen Religionsgemeinschaft sehen, dann geht uns dieses ganze Geschäft nichts an, wir kümmern uns um die Wirklichkeit, in der es schon genug Menschenrechtsverletzungen zu beklagen gibt. Aber können wir es wirklich hinnehmen, was mit einem denkenden und fühlenden Bewusstsein in all den Höllen und Purgatorien passiert?
Ich danke allen Lesern für die Beileidswünsche und für eure Geduld. Mit meinen üblichen Postings geht es nächsten Freitag weiter. In der Zwischenzeit hat BlackRabbit sich freundlicherweise bereit erklärt, mich als Gastblogger zu vertreten. Seid nett zu ihm!
In den Tagen nach unserem erfolglosen Einbruch gab es viel zu tun, und obwohl Agnes in der Stadt geblieben war, sahen wir uns kaum, jedenfalls nicht unter vier Augen. Sie traf sich mit Leuten, die sie von früher kannte, oder telefonierte, oder tat beides gleichzeitig, und ich ging ihr ein bisschen aus dem Weg. Ich wurde auch ohne ihr Zutun schon dauernd daran erinnert, dass mein Vater nicht mehr unter uns war, oder daran, wo er jetzt sein musste – als würde man immer wieder über denselben Stein stolpern, und immer wieder dieselbe Wunde aufreißen.
Es war Lena, unsere Jüngste, die mich als erste auf die Nachricht aufmerksam machte.
„In der Schule haben sie gesagt, das Fegefeuer ist kaputt gegangen.“
Ich hätte es vielleicht als eine dieser merkwürdigen Kinder-Äußerungen abgetan, die aus falsch verstandenen mitgehörten Gesprächsfetzen und zuviel Phantasie entstehen, aber das Wort Fegefeuer ließ mich natürlich aufhorchen.
Es war überall die erste Meldung.
„In einem der schwersten Hackerangriffe der jüngeren Geschichte sind die Server der neokatholischen Kirche in Europa attackiert und schwere Schäden verursacht worden. Insbesondere ist das sogenannte Purgatorium, eine Simulation, die der Läuterung der Seelen Verstorbener dient, durch eingeschleuste Schadsoftware korrumpiert worden … Nach aktuellem Stand könnte der Datenverlust bis zu siebzigtausend Seelen allein in Deutschland betreffen.“
Ich war wie vor den Kopf geschlagen.
Eine dunkle Ahnung ließ mich Agnes’ Blog aufrufen, aber da war nur ein Typ namens BlackRabbit, der irgendwas über Giordano Bruno schrieb. Ihr Telefon war ständig besetzt.
Sie hatte mich den ganzen Tag nicht zurückgerufen, aber am Abend stand sie einfach vor unserer Tür. Zu diesem Zeitpunkt war ich möglicherweise schon ein wenig hysterisch. Statt einer Begrüßung hielt ich ihr mein Tablet mit den neuesten Nachrichten über die Attacke vors Gesicht und schrie sie an.
„Hast du das getan? Bist du völlig durchgedreht?“
Sie schob es zur Seite. „Ich bitte dich. Seit wann kann ich denn hacken?“
„Du hast Freunde, die das können.“
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. „Ich habe vielleicht eine Ahnung, wer dahinter steckt. Aber ich hab nichts damit zu tun. Ich heiße es übrigens auch nicht gut. Ich arbeite an einem Artikel über die ganze Sache, geht morgen online. Deswegen bin ich aber nicht hier.“
„Wenn du etwas darüber weißt, musst du zur Polizei gehen!“, sagte ich, immer noch aufgebracht. „Das war Massenmord!“
„Setz dich mal“, sagte sie. „Ich weiß nichts, ich habe eine Vermutung. Außerdem waren die Leute tot, und wenn es zutrifft, was über das Purgatorium gesagt wird, dann war es eher so was wie eine Massenerlösung.“
„Aber jetzt ist er ganz weg! Sie haben das Letzte zerstört, was von ihm noch da war. Er existiert einfach nicht mehr!“ Meine Augen brannten. Wenn ich aufhörte, wütend zu sein, würde ich wieder anfangen zu weinen.
„Das ist so, wenn jemand stirbt“, sagte Agnes. „Und die Welt wäre besser dran, wenn wir das einfach alle einsehen könnten. Trotzdem, ich habe dir was mitgebracht.“
Sie zog etwas aus ihrer Tasche und drückte es mir in die Hand. Es war silbern, hatte auf der Vorderseite ein Kreuz und auf der Rückseite ein Datum und einen Namen.
Ich las es mehrmals, ohne dass es in meinem Verstand einrastete.
„Ist das …?“
Agnes seufzte. „Ich bin mir nicht mehr sicher, was es ist, ehrlich gesagt. Ich hoffe, es ist ein Trost für dich. In der Altstadt gibt es so eine … ein Medium, nennt die sich glaube ich. Die hat die Software, um Backups abzurufen und dich mit ihnen reden zu lassen. Vielleicht … willst du dich so verabschieden. Ist billiger als die Kirche, und für Papa auch angenehmer, schätze ich.“
Ich starrte auf das kleine Gerät. Ich spürte sein Gewicht in meiner Hand und konnte trotzdem kaum glauben, dass es da war.
„Du bist noch mal bei Laske eingebrochen“, sagte ich schließlich.
„Das würde ich vor Gericht abstreiten“, sagte Agnes. „Nur dass du es weißt.“ Sie lächelte schief, und wischte sich schnell über die Augen. „Mann, ich vermisse ihn. Ich würde gerne glauben, dass noch etwas da ist, aber das ist so, als ob man versucht, sich selbst zu kitzeln. Ich kann mir nicht einreden, dass eine Datei das gleiche ist. Wenn sie damit anfangen, die Backups auf künstliche Körper zu überspielen, wird sich das immer noch beschissen anfühlen.“
Ich schwieg. Ich wollte ihr danken, ihr sagen, dass wir uns öfter sehen sollten, weil dieses Leben das einzige war, in dem wir Zeit miteinander verbringen konnten. Aber ich bekam keinen Ton raus.
Sie sah auf die Uhr. „Ich geh besser ins Hotel, ich muss morgen früh nach Berlin zurück. Mittagessen mit Chefredakteur und so.“
„Willst du … kommst du zu meinem Geburtstag?“, fragte ich.
„Weiß noch nicht, ob ich Zeit habe. Zumindest hast du jetzt schon eine Art Geschenk.“
Ich sah ihr lange nach.
In den Tagen darauf wollte ich sie oft anrufen, aber ich habe es nicht getan. Ich kann noch immer nicht in Worte fassen, was mir durch den Kopf geht.
Bei der Beerdigung haben mir so viele gesagt, dass unser Glaube uns hilft, besser mit dem Tod umzugehen. Ist das wirklich so?
Ich weiß es nicht mehr.
Und wenn wir nicht wissen, bleibt uns nur übrig zu glauben.