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Punktegenau
Ägeia vergewisserte sich, dass der Schlüssel von innen steckte. Dann drückte sie den Knopf unter ihrem Schreibtisch. Geräuschlos schwang die Regalwand auf und gab einen geheimen Eingang frei. Heute war sturmfrei, der Chef war ausgeflogen, und Ägeia wollte die Gelegenheit nutzen, noch vor dem Wochenende ein paar eilige Dinge zu erledigen. Sie nahm ihre Handtasche, die alte kalbslederne, wobei sie Acht darauf gab, ihre frisch lackierten Fingernägel nicht zu ruinieren. Sie hätte gern noch ein bisschen gepustet, aber die Zeit drängte. „Hexerei muss man punktgenau weben“, hatte ihre Großmutter ihr schon vor langer Zeit eingetrichtert.
Als sie durch den Geheimgang schlüpfte, klingelte das Telefon. Sie konnte darauf jetzt keine Rücksicht nehmen. Die Oswald Foundation hatte ihr einen neuen Auftrag erteilt. Es ging darum, einige Kunden zu manipulieren, die wegen undurchsichtiger Abrechnungspraktiken vor Gericht ziehen wollten. Eine leichte Aufgabe zwar, aber auch eine, die Genauigkeit erforderte.
Es war für Ägeia gar nicht so einfach, im 18. Stockwerk eines Wolkenkratzers mitten in New York City ein magisches Ritual zu vollziehen. Der geheime Arbeitsraum, von den anderen Hexen in ihrem Zirkel liebevoll „Suppenküche“ genannt, war nur ein enger, gekachelter Raum, der mit den nötigsten Utensilien ausgestattet war. Aufwändige Hexenzauber konnte Ägeia hier nicht vollbringen. Die Kraftkonzentration des Bürotowers war zwar groß genug, aber das kleine Kabuff war einfach viel zu unbequem, um dort mehrere Stunden zuzubringen.
Während sie die benötigte Tinktur zusammenmixte, deren Wirkung darin bestand, auch den hartgesottensten Kritiker zu einem juristisch nachhaltigen Gesinnungswandel zu bewegen, ließ sie leise das Radio laufen. Großmutter hätte sie für diese Schludrigkeit bestimmt getadelt. Hexerei sollte ihrer Großmutter zufolge immer etwas Reines sein. Ägeia lächelte beim Gedanken an die alte Frau. Eine Hexe musste damals wie heute ihren Platz behaupten; die Mittel hatten sich geändert, die Prinzipien aber waren die gleichen. Handystrahlen und Mikrowellenherde waren nur Symptome einer Gesellschaft, die sich immer mehr von ihrer ursprünglichen Kraftquelle, der Natur, entfremdet hatte. Deswegen auf das Internet zu verzichten, hätte niemandem etwas gebracht.
Im Verlauf des routinemäßig durchgeführten Rituals plante Ägeia ihren Einkauf für das Wochenende. Freitag würden Trevira und Elisane zum Abendessen kommen. Es gab ein paar geschäftliche Angelegenheiten zu bereden, nichts Kompliziertes, danach hätten sie ausgiebig Zeit für Domino und Rotwein. Das war besser als Onlinechatten mit unbekannten Verehrern. Kater Harvey konnte ihr in einsamen Momenten zwar die Füße wärmen, eine zünftige Damenrunde war aber eigentlich, was sie gerade brauchte. Als sie die Rezeptur vollendet und das Fläschchen versandfertig gemacht hatte, trat sie durch die Geheimtür zurück ins Arbeitszimmer. Das Telefon klingelte immer noch. Sie entschloss sich den Hörer abzunehmen.
„Unternehmensberatung Stanford & Stanford & McLean, meine Name ist Anna Hathaway, was kann ich für sie tun?“
Am andern Ende herrschte für eine Sekunde Schweigen. Ägeia wartete auf eine Antwort. Dann sagte eine dunkle metallisch klingende Männerstimme:
„Ich brauche einen Flugbesen. Können Sie einen vermitteln?“
„Wie war ihr Name noch, Sir?“, sagte Ägeia mit der unveränderten Freundlichkeit einer Vorzimmersekretärin.
„Nennen Sie mich Ludovico. Ich habe ihre Nummer und ihren Namen von einem gemeinsamen Bekannten, Maxwell Caruthers. Muss ich ihren Namen am Telefon nennen?“
Ihr Hexenname war bares Kapital. Die Leitung war zwar abhörsicher, aber Ägeia hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, grundsätzlich niemandem zu trauen. Wenn der Chef erfahren würde, dass sie Kundenwünsche der besonderen Art auf eigene Rechnung bediente, würde sie gewaltig in der Tinte sitzen. Die Polizei hatte heutzutage genug Möglichkeiten einer enttarnten Hexe das Leben schwer zu machen.
„Geben Sie mir einen Moment, um ihre Angaben zu überprüfen, Sir. Nennen Sie mir eine Telefonnummer, unter der ich sie erreichen kann.“
Eine Stunde später saß sie dem Unbekannten auf dem gepolsterten Plastikstuhl einer Kaffeehauskette gegenüber. Sie saßen im oberen Bereich des Cafés und waren dort die einzigen Gäste. Sicherheitshalber hatte sie mit einem einfachen Tarnamulett ihr Äußeres verändert und eine unauffällige Aura gewählt.
Sie hatte den Anruf des Kunden durch Maxwell bestätigen lassen, einem Vermittler für Dienstleistungen aller Art, der statt eines Empfangsbüros eine schwarze Stretchlimousine mit getönten Scheiben nutzte. Sie hätte zwar auch einen Blick in die Kristallkugel in der „Suppenküche“ werfen können, aber manchmal waren die Segnungen der modernen Telekommunikation eben weniger zeitaufwändig. Außerdem besaß sie kein Bild des Unbekannten. Die Kristallkugel wäre einfach zu unpräzise gewesen.
Maxwell hatte ihr als Vermittler schon ein paar einträgliche Geschäfte zukommen lassen, die zur jeweiligen Zufriedenheit aller Beteiligten abgewickelt werden konnten. Ägeia war drauf und dran sich einen Ruf zu erarbeiten. Den Unbekannten würde sie allerdings ordentlich abkassieren, schließlich hatte er ohne Vorwarnung bei ihr angerufen und einen Ausnahmefallcode benutzt. Das entsprach eigentlich nicht den üblichen Gepflogenheiten. Der dunkle Maßanzug des Klienten und seine teuren, offensichtlich italienischen Schuhe nahmen ihr die letzten finanziellen Skrupel.
„Also Ludovico, wie kann ich Ihnen helfen?“
Der Unbekannte sah sie durchdringend an. Seine dunklen glanzlosen Augen ließen keine Emotion erkennen. Mit einer knappen Bewegung des Handgelenks leerte er seine Espressotasse. Er behielt die leere Tasse in der Hand.
„Ich vertrete eine Gruppe von Geschäftsleuten, die ihr Geld im weiteren Sinne in der Unterhaltungsbranche investieren.“
„Heißt das nun Broadway oder illegales Glücksspiel? Für die Mafia habe ich nichts übrig.“
„Einzelheiten brauchen sie nicht zu interessieren. Es geht um eine Menge Geld.“
„Wie viel?“
„Sechsstellig. Vorausgesetzt sie können liefern und alles geht glatt.“
Ägeia hätte beinahe ihren Chai Latte ausgespuckt. Noch nie hatte man ihr so viel Geld für einen Auftrag geboten. Für den Typen im Maßanzug schien das nicht weiter ungewöhnlich. Er sah sie ruhig an.
„Sind Sie interessiert?“
Ägeia versuchte sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Sie kramte in ihrer abgewetzten Handtasche und holte ein Papiertaschentuch hervor. Dabei berührte sie den Traumstein, der zu groß war, um ihn unauffällig in der Jackentasche zu tragen. Er war rau und deutlich erwärmt. Das konnte Gefahr bedeuten. Aber auch eine große Chance. Auf den Stein war diesmal so wenig Verlass wie auf das Horoskop der Tageszeitung. Sie hatte bereits die Handynummer, die ihr der Unbekannte genannt hatte, über den Fahndungscomputer des New Yorker Police Departments und den der CIA laufen lassen. Für eine moderne Hexe mit Internetanschluss und entsprechenden Kontakten zu korrupten Polizeibeamten war das eine Kleinigkeit. Der Rechner hatte aber keine Informationen ausgespuckt. Ihr Bauchgefühl ließ sie diesmal völlig im Stich. Die Technik ebenfalls. Beides wäre ihrer Großmutter nie passiert. Soviel war klar.
„Was genau soll ich für ihre überaus großzügigen Geschäftsfreunde erledigen?“
Ägeia sah dem Unbekannten lächelnd in die Augen, wobei sie scheinbar ungeschickt eines der zwei Zuckertütchen öffnete, die sie zu ihrem Chai Latte erhalten hatte. Der Zucker verteilte sich über den Tisch.
„Oh. Verzeihung. Ich bin manchmal ein echter Schussel.“
Während sie die verstreuten Zuckerkörnchen mit der Handfläche zu einem kleinen Haufen zusammenfegte, hielt sie den Blick des Fremden gefangen. Mit dem Zeigefinger schrieb Ägeia eine Kontrollrune in den Zuckerhaufen. Sie hatte nur ein paar Sekunden, der Zauber war schwach. Sie angelte das Handy aus der Tasche, fotografierte den Unbekannten und schickte das Bild per MMS an Trevira. Als sie das Handy wieder einsteckte, löste sich sein Geist aus dem Zauberbann. Er hatte nichts bemerkt.
„Es geht um sensible Daten und ein hackergeschütztes System. Kennen Sie sich mit so etwas aus?“
„Selbstverständlich.“
Einige Minuten später meldete sich Trevira per SMS: „Niente“. Weder im Netz noch in ihrer Kristallkugel hatte sie etwas finden können. Ägeia musste eine Entscheidung treffen. Die gebotene Summe war einfach zu hoch, um den Auftrag wegen unsicherer Hintergrundinformationen auszuschlagen.
„Ich denke, Sie haben einen Deal, Mister.“
Er schob ihr einen braunen Umschlag zu. Sie nahm ihn an sich. Als Sie sich gemeinsam erhoben, sah sie direkt in seine leere Espressotasse. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Es gab keinen Zweifel. Und keine andere Lösung. Klar und deutlich zeichnete sich das gehörnte Tier im Kaffeesatz ab. Ohne weiter darüber nachzudenken zog sie die schallgedämpfte Automatikpistole aus ihrer Handtasche und schoss dem Unbekannten punktgenau zwischen die Augen. „Verdammte Sauerei!“, dachte sie. „Großmutter wäre das nie passiert.“