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Psychotikus
"Ich glaube schon, dass Drogen irgendwo auf Probleme hinweisen.", sagt Tobi, während er sich nach vorne lehnt und ein kleines Plastikröllchen an seine Nasenspitze hält. Vor ihm auf einem umgedrehten Teller liegt ein strahlend weißes Häufchen, samt kleiner Linie daneben. Letztere zieht er sich mit leisem Schniefen in den Kopf, um sich anschließend aufzurichten und immer wieder vorsichtig die Nase hochzuziehen.
Dabei hält er sich mit einer Hand beide Nasenflügel zu, um sie dann schlagartig loszulassen, während er vorsichtig durch die Nase einatmet. Er will nichts verschwenden, indem er es an der Nasenschleimhaut vorbeizieht, den Effekt steigern.
"Guck mal, ich habe letztens zum Beispiel eine Psychologin getroffen – war auch ganz witzig - die ist über 40, hat Kinder, geht aber immer noch regelmäßig feiern. Auch auf Festivals. Hab´ sie aufm Circus kennengelernt." Tobi ist zwanzig Jahre alt, ca. 1,90m groß und von schmaler Statur. Er hat längere ins Gesicht gekämmte Haare, braun, hinter denen ein bleiches, kantiges Gesicht mit kleinen Augen hervorlugt.
"Wir hatten uns halt ein bisschen unterhalten und man ... Junge, die interpretieren schon teilweise Sachen in dich rein ...", er lacht, "... aber auch so, dass es scheinbar Sinn hat!" Tobi redet mit weit aufgerissenen Augen und hält beinahe ununterbrochenen Blickkontakt zu seinem Gesprächspartner. Er wirkt ruckartig und hektisch, aber dennoch geistesgegenwärtig. Trotz seiner ausgelaugten Erscheinung erweckt er keinesfalls einen schwächlichen Eindruck. Er lächelt freundlich und spricht leise, aber mit Nachdruck.
"Sie meinte zum Beispiel auch, dass mein Bruder ein Aggressionsproblem hätte." Er legt das Röllchen, durch das er eben gezogen hatte auf den Tisch: ein Metallgestell, auf dem drei runde Glasscheiben in unterschiedlichen Höhen platziert sind. Auf einer der Scheiben steht ein Laptop, auf dem eine Sitcom läuft. Tobi wendet sich dem Gerät zu und wechselt den Kanal. "Sie glaubt er hat die Scheidung meiner Eltern nicht verkraftet und es deshalb überkompensiert. Klar hab ich ihn damals oft provoziert, das passiert halt bei Brüdern, aber er hatte es schon echt übertrieben."
Neben dem Glastisch samt Laptop beinhaltet Tobis Zimmer ein Ecksofa, ein Bett und einen breiten Kleiderschrank aus Birkenholz. Vor Kurzem ging das Bett kaputt. Tobi hatte es mit einigen Bekannten zusammen repariert, indem sie mehrere große Nägel von innen durch den Lattenrost samt Bettwand schlugen. Später wurden die hinausstehenden Nagelenden abgebogen und mit Papierresten, sowie Kippenschachteln, überdeckt, damit sich keine Besucher daran verletzen. Während des gesamten Vorhabens kam niemand auf die Idee, die Nägel von außen, also zuerst durch die Bettwand und dann in den Lattenrost zu hämmern, um somit nicht zuletzt auch Tobi eine Menge Schmerzen zu ersparen.
"Teilweise musste mein Fadder dazwischengehen und ihn ins Bad sperren." Er zieht die Augenbrauen hoch und muss grinsen. "Einmal hat er echt die Tür eingetreten, obwohl mein Vater noch drangelehnt war – hat ihn einfach mit umgehauen. Und dann schnell zu mir und ... ich hab kassiert." Tobi zieht den Ärmel seines T-Shirts hoch – es zeigt das Abbild eines grünen Pilzes mit breitem Grinsen, darunter steht "1 up" – und bringt eine lang gezogene, unförmige Narbe auf seiner Schulter hervor. In ihrer Mitte ist sie rundlich verlaufen, man kann erkennen, wie die Haut sich Schicht um Schicht absenkt, bis zu einer glitzernd, ledrigen Fläche von der Größe einer Münze. Der Rest der Schulter erinnert an eine zerknüllte Plastiktüte, die Spuren einer Verbrühung.
"Er hat mich damals gegen die Heizung gestoßen, gegen das Rohr davon ..." Tobi hat einen heiteren Ausdruck im Gesicht, als wäre es ihm egal, lediglich eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden, ein Hingucker, als wäre es schon seit Langem vergeben und vergessen. Trotzdem fügt er überbetont und mit längeren Abständen "Junge es tat so weh!" hinzu. Es erscheint ihm witzig und außerdem ist es die Wahrheit. "Damals war er immer so. Tu was ich sage, sonst kassierst du. Und ich hab immer alleine aus Prinzip genervt oder versucht ihn zu ignorieren."
Das Zimmer ist Teil eines Altbaus mit sehr hoher, weißfleckiger Decke. Die Wände sind mit Postern, Armbändern, Flyern und hier und da auch Seltenheiten wie dem mannsgroßen Abbild eines Speiseeises übersehen. Der Laminat-Boden ist größtenteils freigeräumt, während sich auf scheinbar allen anderen Oberflächen zusammengeknüllte Essensverpackungen und getragene Kleidung tummeln. Ein einzelnes, großes Fenster, mit diversen Handtüchern verhangen, taucht das gesamte Zimmer in schummriges Halbdunkel, welches nur von einer kleinen gelblich aufleuchtenden Tischlampe durchbrochen wird. Sie steht auf dem Boden neben Tobi und zielt auf den Teller, wo immer noch das weiße Häufchen liegt.
"War dein Bruder auch bei anderen so oder nur bei dir?" - hört er es aus dem Ether tönen.
"Ne, ne ...", sagt er gewohnt heiter. "Nur bei mir." Dann verschwindet das Grinsen aus seinem Gesicht und er wird nachdenklich. "Nur bei mir ..." Er lehnt sich zurück und fixiert den Laptop.
"Schlimm, schlimm! Aber gleich wird es an deine Scheibe klopfen, und dann kommt jemand richtiges vorbei."
Plötzlich ist das Zimmer leer und vollkommen still. Nur Tobis Atmung und die stumpfsinnig gröhlende Lache des Sitcompublikums.
Ein sogenannter Hirnfurz ... wie er im Buche stehen sollte.