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- 23.08.2001
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Psychose - ein Tagebuch
1. März
Draußen ist ein herrlicher Tag. Die Sonne scheint, als ob sie einen Wettbewerb gewinnen müsse und spiegelt sich dabei in meiner Seele. Ich fühle mich, als ob ich von innen heraus leuchten würde. Ich könnte jeden umarmen und fühle mich frei, glücklich und schön. Ich weiß nicht mehr, wie der Winter aussieht, wie er sich anfühlt, wie er schmeckt. Ich möchte es auch nie wieder wissen, möchte es vergessen können. Dürfen. Bis in alle Ewigkeit. Das Leben hat mich wieder!
3. März
Ich bin noch immer so euphorisch, weiß gar nicht, wohin mit meiner Energie. Anna sagt, ich sei ein ganz neuer Mensch geworden. Was für einer, habe ich gefragt. Weiß nicht, irgendwie anders. Besser oder schlechter? Besser. Du gefällst mir gleich noch mal so gut. Ich habe gelacht, als ob es nichts wäre, aber tief in mir drinnen hat etwas mitgeklungen, eine Saite in mir, die für Komplimente, für die Schönheiten der Welt zuständig ist. In letzter Zeit klingt sie häufiger.
10. März
Zur Zeit ist es wieder bedeckt, grau-in-grau, "Regentropfen die in Pfützen fallen"-Wetter. Aber ein kleiner Sonnenstrahl tief in meiner Seele hält sich krampfhaft fest, will bei mir bleiben. Ich gebe ihm Geborgenheit, nähre ihn mit meinen Gedanken, lasse ihn leben und aufleuchten. Ich will dich nicht verlieren, positiver Punkt meiner Seele!
11. März
Ein Lächeln, ein Gesicht. Im Vorbeigehen streifte es mich, tat mir gut, war Balsam auf meiner Seele. Wie Honig auf aufgesprungenen Lippen. Süß und kostbar. Aber auch bald wieder zerronnen. Nur ein Hauch der Erinnerung bleibt, abrufbar in einem Winkel meines Inneren abgespeichert. Wo ist der Sitz meiner Seele?
18. März
Ich liege in einer Wiese, die ersten frischen Grashalme kitzeln meine Nase, ein paar Blümchen zieren mein Haar. Die Sonne scheint mir auf den Rücken, die Welt ist schön.
Anna sitzt neben mir, läßt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Den Kopf tief in den Nacken zurückgelegt, scheint sie ihre Strahlen zu trinken. Wenn man diesen Ausdruck in ihrem Gesicht aufbewahren könnte, hätte man die reine Essenz des Glücks eingefangen. Ich möchte sie berühren und gleichzeitig diesen Anblick für immer genießen. Ich liege einfach nur da und schließe die Augen. Möge dieser Augenblick doch nie vorübergehen!
Später. Ich bin zuhause, Kerzen brennen, ich höre Musik. Werde traurig, melancholisch. Draußen ist es dunkel, die Nacht zieht sich über mir zusammen. Sterne funkeln, ich bleibe unverändert. Die Schönheit der Nacht geht heute an mir vorbei. Ich lösche die Kerzen, gehe ins Bett.
23. März
Warum ist manches so leicht, anderes so schwer? Warum muß man Dinge tun, die einen nicht interessieren? Warum muß man überhaupt Dinge tun, immer, immer, immer? Kann ich denn nicht einfach sitzen, Löcher in die Luft starren und nicht denken?
Ja, nicht denken zu können wäre eine Fähigkeit, die ich mir wünschen würde. Wer hat gesagt, daß man immer denken muß, immer denken will? Wenn man nichts sehen will, macht man die Augen zu. Wenn man nichts hören will, hält man sich die Ohren zu. Wenn man nichts riechen will, die Nase. Wenn man nichts schmecken will, ißt man nichts. Beim Fühlen hat man schon größere Probleme, aber wenn man sich nicht bewegt, hört auch das Fühlen auf. Nur denken, denken muß man immer. Warum? Nicht einmal im Schlaf läßt es einen ganz los. Denn was sind Träume anderes als anders verpackte Gedanken? Und manches Mal kann man mit einem Gedanken in den Traum eingreifen, kann seinen Lauf verändern, sich klarmachen, daß man nur träumt, ohne dabei zu erwachen oder sogar aufwachen, wenn man es will.
Denken muß man immer.
Was für eine Qual.
27. März
Ich habe einen Menschen kennengelernt. Irgendwie war er einfach da, ganz plötzlich. Er saß auf einmal neben mir, sah mich an und lächelte. Dieser Mensch heißt Anton und erscheint mir wie ein Wunder. Wenn ich neben ihm sitze, vergehen meine dunklen Gedanken, alles wird bunt und schön. Wie das Licht. Wenn es doch immer bei mir bliebe, das Licht.
29. März
Vielleicht bleibt ja Anton bei mir. Immer wieder taucht er an den verrücktesten Orten auf, wenn ich ihn am wenigsten erwarte. Er schenkt mir eine Rose oder bringt mir einen Kaffee und immer scheint er zu wissen, was ich gerade am nötigsten brauche. Nur Anna macht sich Sorgen. Warum?
1. April
Dieser ganze Tag ist ein einziger Scherz. Anna hat versucht, mir weiszumachen, daß es Anton gar nicht gibt. Haha, sehr witzig, aber dafür hätte sie sich doch besser einen anderen Tag suchen sollen. Aber obwohl ich sie durchschaut habe, blieb sie sehr überzeugend. Sie hat gar nicht gelacht, nur einmal, da habe ich sie erwischt. Es war auch kein richtiges Lachen, nur ein Blitzen in ihren Augen, aber das sprach Bände. Ich kenne das an ihr.
Aber nicht nur Anna wollte mich in den April schicken, auch Anton! Er muß sich mit Anna abgesprochen haben, denn er wiederum hat mir weismachen wollen, daß es Anna nicht gäbe. Sehr witzig, die beiden. Ich glaube, ich sollte sie verkuppeln!
7. April
Die Uni geht wieder los. Will ich das? Jedes Semester wieder die gleichen Fragen. Warum mache ich das alles? Was bringt es mir und warum will ich unbedingt arbeitslos werden. Aber dann ist da auch wieder diese innere Stimme, die mir sagt, daß nicht jeder arbeitslos wird, der studiert. Und meine Freunde sind da, die mir Mut machen. Anna, die wie immer dafür sorgt, daß ich weitermache und den Sinn im Studium finde, und jetzt auch Anton, der zwar nicht studiert, aber dafür immer einen guten Spruch auf Lager hat, um mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu bringen. Es tut gut, in seiner Nähe zu sein. Was für ein großes Glück, daß ich ihn getroffen habe!
9. April
War heute mit Anna im Kino. Schöner Film, sehr gefühlvoll, leider ohne Happy-End. Aber das gibt es im wahren Leben ja auch nicht. Als ich das sagte, fragte sie nach Anton. Da sei es anders, erwiderte ich. Aber bist du dir da auch sicher, fragte sie, und wieder lag die alte Skepsis in ihren Worten. Warum mag sie ihn nicht? Wahrscheinlich muß ich schon froh sein, daß sie nach ihm fragt und nicht mehr so tut, als gäbe es ihn gar nicht. Vielleicht schaffe ich es doch noch, mit beiden gleichzeitig etwas zu unternehmen, ohne das es ein Fiasko wird! Schön wäre es auf jeden Fall.
12. April
Anton hat mir Rosen mitgebracht. Einfach so, weil er mich mag. Jetzt, wo er wieder weg ist, duften sie mein Zimmer voll, lassen weder mich noch meine Gedanken los. Alles kreist um ihn. Wenn ich doch nur wüßte, wie ernst er es mit mir meint! Und warum er sich nie blicken läßt, wenn meine Freunde dabei sind. Ob er Angst hat, uns Studenten nicht zu genügen? Nur weil er kein Abi hat und keine abgeschlossene Lehre? Das wäre wirklich Unsinn, denn er weiß so viel, viel mehr als ich. Wenn er gewollt hätte, hätte er sein Abi spielend gemacht, da bin ich mir sicher. Aber er ist Künstler, malt und zeichnet den ganzen Tag, wo er geht und steht und hat sich nie viel aus den anderen Fächern gemacht. Hat nur gelernt, was ihn interessiert hat. Aber das war schon ganz schön viel, nur eben nicht Mathe und Physik und der ganze Kram.
14. April
Mein Wintertief scheint endgültig vorbei zu sein. Die Uni macht mir sogar Spaß und das Wetter ist seit Tagen so gut, daß ich jede freie Minute in der Sonne liege. Bald ist es warm genug für das erste Kleid des Jahres, und dann dauert es nicht mehr lange, bis die Jacke wegfällt!
Anna ist sauer auf mich. Sie sagt, seit ich Anton kenne - den es mal ihrer Aussage nach nicht gibt, und dann doch wieder, damit sie auf ihm herumhacken kann - hätte ich keine Zeit mehr für sie. Ich würde sie vernachlässigen! Ach Anna, so ein Quatsch! Ich bin doch immer für dich da!
17. April
Anton weigert sich weiterhin, Anna kennenzulernen. Er ist sonst so lieb und nett und macht fast alles mit, daß ich gar nicht verstehen kann, was das soll. Auf der einen Seite hat er mich neulich mitten in der Stadt einfach so in den Arm genommen, auf der anderen Seite scheut er sich, sich mit mir bei meinen Freunden zu zeigen. Und mit Anna kann ich darüber auch nicht reden, sie wird da richtig zickig und sagt nur Sätze wie: das habe ich dir ja gleich gesagt! Aber du wolltest ja nicht auf mich hören. Was bitte soll ich denn machen? Mehr als die beiden einander vorzustellen kann ich doch nicht, damit sie endlich mit ihren Vorurteilen aufräumen können!
19. April
Mir ist eine unglaubliche Idee gekommen: Wahrscheinlich kennen Anna und Anton sich und waren mal ein Paar! Sie wollen sich nicht mehr begegnen, weil sie sich mit einem tierischen Streit getrennt haben und nun total verfeindet sind. Und mir sagen sie es nicht, weil sie nicht wollen, daß ich mich für einen von ihnen entscheiden muß. Ach, sie sind ja so süß!
25. April
Ich habe beide gefragt und beide dementieren meine Vermutung. Ich weiß nicht weiter.
Das Wetter ist wieder so scheußlich wie schon seit Wochen nicht mehr und mir geht es ähnlich. Ich sitze in der Ecke und kann mich zu nichts aufraffen. Die Uni ist mir egal und auch schreiben kann ich nur mit Mühe. Was soll das auch alles, es ist ja eh unwichtig. Wen interessiert es schon, wer ich bin oder war und was ich mache. Irgendwann bin ich nur noch ein Häufchen Staub und mit viel Glück habe ich dieser Welt ein paar Kinder hinterlassen, die sich dann über mein Erbe hermachen, einmal im Jahr ihr Gewissen beruhigen, indem sie Blumen an mein Grab bringen und mich ansonsten vergessen. Für tot erklären. Und nichts anderes bin ich dann auch. Deswegen könnte man mich auch gleich für tot erklären, was würde das schon ändern!
26. April
Keine Besserung. Ich möchte heulen und kotzen. Und schreien, aber wenn ich es versuche, fange ich an zu heulen und fühle mich noch schlechter. Dann stopfe ich mir mein Kissen in den Mund, damit ich kotzen muß und dann würge ich und heule noch mehr und möchte wieder nur schreien. Warum? Mir doch egal. Alles egal, scheißegal. Wenn doch wenigstens Anna oder Anton hier wären! Aber Anna ist in der Uni und Anton soll mich gar nicht so sehen. Er glaubt, ich sei eine starke, junge Frau und das soll auch so bleiben.
Wo ist mein Lebensmut?
27. April
Habe Anton angerufen. Als Anna kam und ich es ihr erzählt habe, hat sie hämisch gelacht und gemeint, wenn er mich so sieht, nimmt er Reißaus und kommt nie wieder. Ich denke, sie glaubt eh nicht an seine Existenz? Ach ja, sie waren ja mal ein Paar. Ach nein, das glaube ich ja nur. Was ist wahr und was scheint nur so? Warum hilft mir denn keiner?
28. April
Anton war da. Als er mich sah, wollte er sofort einen Arzt holen. Ich habe es ihm verboten. Ärzte können mir auch nicht helfen, da muß ich schon alleine durch. Ärzte geben Spritzen, um mich ruhig zu stellen, aber ich will nicht ruhig gestellt werden. Ich will alles erleben, egal wie schlimm es ist.
30. April
Anna und Anton sind hier. Jetzt haben sie keine Chance mehr, sich zu ignorieren. Obwohl sie es zunächst versucht haben. Haben beide so getan, als seien sie allein mit mir im Raum. Jeder für sich. Aber als sie beide gleichzeitig auf mich einredeten und ich nichts mehr verstand, habe ich sie angeschrien, sie sollten endlich ruhig sein. Waren sie dann auch. Und dann habe ich gesagt, wenn sie sich nicht unverzüglich gegenseitig wahrnehmen, würde ich sie rauswerfen. Also haben sie begonnen, miteinander zu reden. Ich hatte recht: Sie kennen sich von früher, waren mal ein Paar. Als ob ich das nicht verkraftet hätte!
1. Mai
Ich kann nicht mehr. Wie das Wetter ist, weiß ich schon lange nicht mehr, will es nicht wissen, kann es nicht wissen. Es ist unwichtig geworden, es hat keine heilenden Kräfte mehr. Ich weiß nicht, was mir helfen kann, Anna und Anton vielleicht. Wenn sie nur nicht so dickköpfig wären und sich endlich normal benehmen würden! Aber immer wieder bemerke ich, wie sie sich ignorieren.
Nur einmal haben sie sich gestritten. Anton wollte einen Arzt holen, Anna auf keinen Fall. Sie hat schon mehr mit mir durchgemacht, weiß, daß mir kein Arzt der Welt helfen kann.
2. Mai
Ich habe Durst.
4. Mai
Es geht mir ein wenig besser, jedenfalls glaube ich das. Ich konnte aufstehen und kurz in der Wohnung herumlaufen. Bisher bin ich mit Mühe zur Toilette gekommen, habe Ewigkeiten für den Weg gebraucht. Jetzt habe ich sogar zehn Minuten in der Küche gesessen, in meine Decke gewickelt. Anna hat mich gefüttert und Anton hat mir einen Tee gekocht. Sie sind beide so fürsorglich!
5. Mai
Ich habe Fieber. Bunte Farben schwirren auf mich ein, der Raum schwankt, das Fenster verzerrt sich in allen Regenbogenfarben zu einem goldbunten Etwas hin. Die Gesichter meiner Freunde werden zu Fratzen, ich habe Angst.
6. Mai
Sie streiten wieder. Anton will mich zum Arzt bringen, Anna will nicht. Ich habe nicht die Kraft, einzuschreiten, lasse sie reden, schlafe dabei ein. Was soll’s, das Ergebnis werde ich früh genug mitbekommen.
Später
Anton hat gewonnen. Er hat mir eben gesagt, daß ich keine Angst mehr zu haben bräuchte, er hätte einen Krankenwagen gerufen. Mir würde endlich geholfen werden. Ich hatte keine Angst. Jetzt habe ich Angst!
Sie werden mich holen, noch diese Nacht. Sie werden mich hinter Gitter sperren und mir einreden wollen, ich bräuchte ihre Hilfe. Sie werden mich glauben machen wollen, sie seien meine Freunde, ich aber werde wissen, wer ihre wahren Gestalten sind. Sie dürfen mich nicht bekommen, sie wollen mich zerstören, unter dem Vorwand, mein wahres Ich zurückholen zu wollen. So, wie ich jetzt bin, ist mein wahres Ich und ich werde alles dafür tun, ich zu bleiben.
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Sie sind da.
Es klopft an der Tür und ich bin bereit, zu gehen. Nicht ihren Weg, sondern meinen Weg. Wenn sie diesen Raum betreten, werde ich nicht mehr da sein.