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Psycho!
PSYCHO
Eine unkontrollierte Bewegung übermannte Leonard. Er spürte ein gewaltiges Zucken in seinem Unterarm und schon lag die Tasse am Boden – hatte er sie doch glatt mit dem Arm vom Tisch gewischt, ohne, dass er das jemals beabsichtigt hatte – ohne, dass er überhaupt willkürlich eine Bewegung hatte ausführen wollen. Und da kam auch schon die freundliche Bedienung und wischte wortlos den Kaffee von Tisch und Boden, sammelte die Scherben auf und schenkte ihm ein peinliches Grinsen.
Zuhause stand Leonard Müller vor dem Spiegel und sah sich an. Das war jetzt schon das dritte Mal, dass ihm so ein Missgeschick passiert war. Jedoch konnte er sich beim besten Willen nicht erklären, was diese Ausbrüche zu bedeuten hatten. Sie kamen so unvermittelt, ohne jegliche Vorwarnung in Form irgendwelcher körperlichen Symptome – sie hatten weder Merkmale, noch passierten diese Anwandlungen zu bestimmten Tageszeiten. Und somit musste Leonard quasi ständig darauf gefasst sein, dass er die Kontrolle über seinen Körper für einen Bruchteil eines Momentes verlieren würde. Vor allem in der Öffentlichkeit, wo es doch äußerst unangenehm war und nun mal auch nicht so ganz ungefährlich.
Leonard traute sich kaum noch, mit dem Auto zu fahren. Er wollte sich gar nicht ausdenken, was alles passieren konnte, würde er am Steuer plötzlich solch unkontrollierbare Bewegungen vollziehen. Und so kam es, dass er nun schon seit zwei Wochen fast alle Wege zu Fuß erledigte. Nun, mit der U-Bahn fuhr er dann doch, wenn er zur Arbeit musste – schließlich musste er dafür durch fast ganz Schöneberg gondeln.
Erzählt hatte er niemandem davon, weder seinen paar vertrauteren Arbeitskollegen, noch den engeren Leuten aus seinem Bekanntenkreis, welcher ohnehin recht spärlich besäht war. Er hatte Angst vor den Blicken, die er ernten könnte, wenn er es erwähnte und vor allem hatte er Angst, es würde einst so kommen, dass er auf der Arbeit einen ebensolchen Ausbruch bekäme.
Leonard überlegte sich, mit seinem Arzt über diese Angelegenheit zu sprechen und machte einen Termin für den nächsten Tag aus, lief dann bedacht die Treppe zum U-Bahnschacht hinunter, unsicher, als würde er gerade erst das Laufen lernen, stieg ängstlich in die Bahn und war selig, wenn er einen Sitzplatz ergattern konnte, um aus dem Fenster schauend in eine Art meditative Trance zu fallen.
Der Tag auf der Arbeit ging einigermaßen schnell und unspektakulär vorüber und Leonard war froh, ohne besondere Zwischenfälle zuhause angekommen zu sein. Müde und erschöpft vor stetiger Anspannung, aus Angst vor erneutem Kontrollverlust, schlief er schon früh ein und erwachte den darauffolgenden Morgen schon lang, bevor der Wecker geklingelt hätte.
Überlegend, wie er dem Arzt am ehesten von seinem Problem erzählen würde, kochte Leonard Kaffee und machte sich ein deftiges Frühstück, bestehend aus Rührei mit Speck und Zwiebeln auf schon etwas ausgetrocknetem Brot. Er aß sich satt, schlürfte seinen Kaffee und sah aus dem Fenster – es wurde hell und die ersten Vögel stimmten ihre Lieder an, deren Melodien an abgedrehten Freejazz erinnerten und Leonard atmete tief durch, sattgegessen und rastlos nachdenkend.
Schließlich verließ er seine etwas verwohnte Bude im Dachgeschoss eines alten, maroden Hauses, um sich auf den Weg zum Arzt zu machen. Da es noch sehr früh war und somit noch eine Menge Zeit blieb, beschloss er, zu Fuß zum Arzt zu gehen und außerdem, dachte sich Leonard, wäre ein Spaziergang an der noch frischen Morgenluft genau das richtige, um das üppige Frühstück zu verdauen. Angespannt und langsamen Schrittes trottete er die Straßen entlang, sah, wie diese sich mehr und mehr mit Menschen zu füllen begannen, wie der Verkehr immer dichter wurde und der Pegel der Geräuschkulisse stetig anwuchs.
Als er die Arztpraxis betrat, war diese noch leer und Leonard wurde bald darauf aufgerufen.
Der Doktor, welcher ihn gut kannte, empfing ihn freundlich:
„Leo, wie geht es dir?“
„Nicht so besonders. Ich habe ein gewaltiges Problem, dessen Ursprung ich mir einfach nicht erklären kann.“, entgegnete Leonard deprimiert.
Der Arzt, Herr Dr. Genius, wies ihn auf einen Stuhl und setzte sich ihm gegenüber an seinen Schreibtisch. Er musterte Leonard aufmerksam, sah ihm in die Augen und Leo rührte sich nicht, starrte zurück, bis Dr. Genius das Wort ergriff:
„Leo, du siehst auch gar nicht gut aus. Und damit meine ich nicht etwa, dass du krank ausschaust, sondern, dass deine Augen eine dermaßen krasse Anspannung ausstrahlen, die einfach nicht gesund sein kann! Was ist los, Leo?“
Leo zögerte eine Weile, gestikulierte in der Luft herum und begann dann schließlich stotternd seine Erklärung:
„Hubertus, weißt du, ich hatte in den letzten zwei Wochen nur noch Stress mit mir selbst. Drei Mal passierten mir absolut unvermittelt unkontrollierte Bewegungen, die ich nicht beeinflussen kann! Einmal war ich in einem Café und wischte plötzlich unwillkürlich die Tasse vom Tisch. Ein anderes Mal habe ich zuhause einfach eine Lampe zertreten und das erste Mal hätte ich fast einem Passanten eine in die Fresse gehauen! Hubertus, was soll das? Ich kapier das nicht! Keine Ahnung, was das soll! Ich habe Angst, ich fahre kein Auto mehr und sobald ich das Haus verlasse, fürchte ich, dass wieder etwas derart passiert!!!“
Dr. Hubertus Genius räusperte sich und sah Leo mit ernsthaftem Blick in die Augen: er überlegte. Dann beorderte er ihn in einen Raum neben dem Sprechzimmer, in welchem ein Stuhl stand, der an den elektrischen Stuhl erinnerte, wies Leo an, sich auf diesen zu setzten und begann, Kabel an Maschinen anzuschließen.
„Ich werde ein EEG machen, Leo.“, sagte der Arzt, „Diese Maschinen zeichnen deine Hirnströme auf und dann kann ich sehen, ob mit deinem Empfindungssitz irgendetwas nicht stimmt, das heißt, ob ein biochemisches Ungleichgewicht in deines Hirnes Metabolismus herrscht. Einverstanden? Dann schließe jetzt einfach die Augen und entspann dich.“
Leo nickte und schloss die Augen. Entspannen konnte er sich jedoch bei weitem nicht!
Dr. Genius hantierte mit Kabeln, Steckern und begann schließlich, das alles an Leo anzuschließen, indem er ihm Elektroden an den Kopf klebte und diese mit diversen Steckern an die Maschine neben dem Stuhl anschloss.
Vor geschlossenen Augen sah Leo grässliche Filme, wie Hirne brodelten und aus den Ohren quollen. Er vernahm das leise Piepsen der Maschine und hoffte sehr, dass es irgend etwas bringen würde, die Ströme in seinem Kopf aufzuzeichnen.
Nach einer Weile, deren Dauer Leo nicht zu bestimmen imstande gewesen wäre, sagte Dr. Genius:
„Das war’s!“, nahm Leo die Elektroden ab und zog den mit Diagrammen bedruckten Zettel aus der Maschine, die Leos Hirnströme in zackenförmige Linien übersetzte.
Es schauderte Leo, als er daran dachte, dass dies quasi seine abstrahierten Gedanken waren und wollte einfach nur vergessen, dass letztendlich alles nur elektromagnetische Vorgänge in einem Klumpen aus Fleisch waren...
Hubertus Genius betrachtete, sich räuspernd, das Hirndiagramm eine Weile, schaute auf zu Leo, welcher (gefasst auf das Schlimmste) bewegungslos in dem großen Lehnstuhl saß, sah dann wieder den Zettel an und überlegte sichtlich. Dann, nach Minuten des Schweigens (Leo hatte das Gefühl, das Blut durch seine Adern fließen zu hören) sagte der Arzt plötzlich:
„Also, Leo, auf dem Diagramm lässt sich nichts außergewöhnliches erkennen! Scheint alles in Ordnung zu sein, soweit ich das beurteilen kann. Ich werde es jedoch zu einem Neurologen schicken, um einen genauen Befund zu bekommen. Allerdings glaube ich nicht, dass dieser da noch etwas gravierendes entdecken wird. Leo, ich weiß auch nicht, was ich jetzt machen soll – vielleicht wäre es das Beste, dich zu einem Psychiater zu überweisen? Ich kenne da einen guten in der Pankower Allee, wenn du willst, -“
„Aber ich bin doch nicht etwa ein Psychopath?“, unterbrach Leo den Doktor.
Dieser schaute Leo mit einem warmen Lächeln an und sagte in ruhigem Ton:
„Leo, nein. Das hat doch damit erst einmal nichts zu tun. Was meinst du, wie viele Menschen zum Psychiater gehen, von denen du es nicht vermuten würdest. Es ist doch kein Frevel, kein Bekenntnis zum Wahnsinn, sich zur Psychotherapie zu entschließen! Ganz im Gegenteil – es kann durchaus helfen. Also, wie gesagt, ich kenne da einen guten Arzt. Soll ich ihn anrufen und einen Termin machen für dich?“
Leo nickte bloß und starrte aus dem Fenster. Das hatte er befürchtet, dass er zum Psycho geworden war. Die Angst, mit diesem Arztbesuch eine Lawine losgetreten zu haben, übermannte ihn und er stellte sich vor, wie er bald in einer Gummizelle um Gnade flehen würde, beteuernd, dass er doch ganz normal sei.
Dr. Hubertus Genius verschwand indes und kehrte ein paar Minuten später zurück, mit einem Notizzettel in der Hand und einem Grinsen, das Leo nicht einzuordnen vermochte. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er das Papier entgegennahm.
„So, du hast einen Termin bei Prof. Dr. Dipl.-Psych. Pawel Pikowitz, am Freitag dieser Woche um 11:30 Uhr. Ich rate dir, Leo, diesen Termin wahrzunehmen. Denn dein Problem sollte geklärt werden, bevor du den Überblick verlierst...“
Leo nickte erneut, stand vom elektrischen Stuhl auf, verabschiedete sich knapp von seinem Arzt und verließ die Praxis. Den Überblick hatte er längst verloren. Ihm schien das alles wie ein absoluter Irrsinn eines Traumes, der einfach nicht enden wollte.
Der Heimweg erschien Leo wie ein kosmischer Ritt durch raumlose Zeiten, oder durch zeitlose Räume – wie auch immer, zumindest wollte Leo einfach nicht glauben, dass er tatsächlich wach war. Er wünschte sich, bald aus diesem Albtraum zu erwachen. Indes lief er die Straßen entlang, bis er endlich zu Hause ankam, um sich dort ein wenig zu besinnen.
Noch war ihm nicht wieder einer dieser Ausbrüche widerfahren, doch Leo schien regelrecht darauf zu warten, denn langsam begann er an der Seriosität seiner Wahrnehmung zu zweifeln – hatte er sich das alles nur eingebildet? Leo begann, jeglichen Bezug zum rationalen Urteilsvermögen nach und nach zu verlieren und jede seiner Vermutungen schien vage, jegliche Erinnerung wie bloße Mutmaßungen – er verlor sein Selbstvertrauen gänzlich.
Also beschloss er, den Termin beim Psychiater tatsächlich wahrzunehmen und legte im Stillen all seine Hoffnung in diese als letzte Instanz scheinende Möglichkeit, Hilfe zu erlangen. Hilfe und vor allem Verständnis...
Leonard rief auf seiner Arbeitsstelle an und erklärte, dass er am Freitag einen weiteren Arzttermin habe und somit am nächsten Tag ebenfalls nicht zur Arbeit erscheinen können würde. Da er in all den Jahren so gut wie nie gefehlt hatte, war man dort einverstanden, jedoch auch verwundert und so kam es, dass man während Leos Abwesenheit über ihn zu plauschen begann.
Leo arbeitete als Sachbearbeiter im Einwohnermeldeamt. Seit bereits 10 Jahren übte er diese Tätigkeit aus und war eigentlich ganz zufrieden damit. Und jetzt, mit seinen 30 Jahren Lebensalter, hatte er das Gefühl, er würde ewig einsam bleiben. Sicher hatte Leo mal hier und da eine Freundin gehabt, aber meist nur von so kurzer Dauer, dass die Beziehungen, wenn man das so nennen konnte, bereits vorbei waren, noch bevor die Damen Leo richtig kennen gelernt haben konnten. Meist war es Leo, der die Geschichten plötzlich beendete. Er wurde unruhig, wenn ihm eine Frau zu nahe kam und sich für sein Inneres interessierte, fühlte sich bedroht dadurch und hatte Angst, ein Messer in den Rücken gerammt zu bekommen, sobald er sein Herz öffnete. Affären hatte Leo nie gemocht, genau so wenig, wie irgendwelche einnächtigen Bettbekanntschaften. Und darum war Leo nun noch immer allein, was bestimmt nicht an seinem Aussehen lag. Wenn er in Kneipen ging, kam es eigentlich sehr oft dazu, dass er verstohlene Blicke interessierter Frauen auf sich zog – hin und wieder sprach man ihn sogar an, jedoch verschloss Leo sich meist gänzlich. Die Frauen fühlten sich peinlich abserviert, Leo jedoch hatte einfach nur Angst vor menschlicher Nähe.
Den angebrochenen Tag verbrachte Leo vor dem Fernseher. Er hatte weder die Absicht, großartig nachzudenken, noch verspürte er Lust, irgend etwas in der Stadt zu erledigen. Es war ein unspektakulärer Donnerstag und Leo war froh, schon morgen einen Termin beim Psychiater bekommen zu haben. Sicher lag es daran, dass Hubertus Genius persönlich dort angerufen hatte.
Irgendwann mittags – Leo war auf dem Sessel vorm Fernseher eingenickt – klingelte das Telefon. Verwirrt schreckte er auf, hob ab und meldete sich mit rauer Stimme:
„Leonard Müller hier, hallo?“
Eine engelsgleiche Stimme meldete sich:
„Leo? Ich bin’s, Mira! Was ist’n los mit dir? Auf der Arbeit reden alle über dich, es heißt, du seiest krank? Stimmt was nicht bei dir?“
Es war Mira, Leos vertrauteste Arbeitskollegin. Er hatte schon damals mit ihr zusammen das Praktikum während der Berufsausbildung beim Einwohnermeldeamt gemacht, sie kannten sich daher bereits zehn Jahre und haben schon viel gemeinsam unternommen. Einmal waren sie sogar zusammen in Spanien im Urlaub gewesen.
Leo überlegte kurz, ob er Mira etwas erzählen würde, jedoch kam er schnell zu dem Schluss, das nicht zu tun und sagte stattdessen bloß:
„Nichts schlimmes, Mira, ich bin einfach nur erkältet und muss morgen noch mal zum Arzt, um ein Blutbild machen zu lassen wegen meines Cholesterins. Ansonsten alles in Ordnung, danke der Nachfrage.“
Er hatte versucht, so locker wie möglich zu klingen, doch bemerkte er die Skepsis in Miras Stimme, als sie antwortete:
„OK., Leo. Dann werde mir mal schnell wieder gesund. Wir sehen uns dann am Montag ... oder?!“
„Klar,“, sagte Leo leicht stockend, „Bis dann. Machs gut.“
„Ciao Leo!“
Mira legte auf und Leo legte den Hörer beiseite - er fühlte sich wohler bei dem Gedanken, heute nicht mehr erreichbar zu sein. Dann beschloss er, unter die Dusche zu gehen.
Frisch geduscht, doch noch immer mit benebeltem Verstand, holte Leo sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und schmiss sich damit wieder auf seinen Sessel vor die Glotze. Dort lief nur Mist: das übliche Nachmittagsprogramm, bestehend aus Talkshows, billig recherchierten Nachrichtensendungen und Reality Soaps. Also schaltete er das Gerät ab und legte eine Platte von Led Zeppelin auf. Leo hörte ausschließlich Schallplatten – er hasste den blechernen, seelenlosen Klang der CDs, wie er immer betonte, sobald über Musik gesprochen wurde. Das warme Knistern des Sounds einer Vinyl hingegen vermittelte ihm das Gefühl von Geborgenheit.
Leo schloss die Augen und lauschte den aufwühlenden und gleichermaßen tröstenden Klängen der Musik, trank genüsslich sein Bier und dachte: Scheiß drauf, jetzt ist jetzt.
Das zerbrechliche Gefühl von Wohlbehagen schlich sich in seinen Kopf und Leo drehte sich gemütlich eine Zigarette und rauchend verschmolz er gänzlich mit den Rhythmen der guten, alten Musik.
Der Tag zog an Leo vorbei wie die Rauchwolken der Zigaretten, die er rauchte, untermalt von Rock’n’roll und psychedelic Tunes aus den 70ern, lose Schallplatten und ihre leeren Hüllen bildeten einen Teppich vor Leos Plattenspieler und er selbst döste in Trance vor sich hin. Draußen wurde es bereits wieder dunkel und Leos Kopf war mittlerweile leer gefegt. Neben dem Sessel türmten sich zerknüllte Bierdosen und ein offenes Glas Würstchen stand griffbereit auf dem Tisch nebst Sessel: Leo ließ es sich „gut gehen“, wie er es gedanklich formulierte und war mittlerweile schon so benebelt von Bier und Musik, dass jegliche Zweifel wichen, indem sie von einer sich ausbreitenden Gleichgültigkeit ersetzt wurden. Er spielte mit dem Gedanken, sich einfach nur noch zu betrinken, um diese beschissene Angst endlich loszuwerden und musste so sehr darüber lachen, dass er das Bier, welches er gerade im Begriff zu trinken war, ausspuckte, indem er lachend einen Schwall schäumenden Biers an die gegenüberliegende Wand sprühte. Wiederum fand er das so dermaßen komisch, dass er laut los prustete und sich den Bauch hielt, ihm Tränen aus den Augen quollen und Leo lachte und lachte, bis er schließlich nicht mehr wusste, ob er nun tatsächlich lachte, oder weinte; und so entschied er sich fürs Weinen und heulte plötzlich, wie ein Schlosshund und all seine verdrängte Verzweiflung drosch nun auf ihn ein mit Peitschen der Verzagtheit. Die Atmosphäre im Raum verwandelte sich zu einer Endzeitstimmung, düster, wie es in Leos Wohnung war und er verfiel in tiefste Depression. So beschloss er, sich mit noch einem Bier zu trösten und holte, da der Weg zum Kühlschrank zu weit war, um ihn ständig zu beschreiten, gleich vier weitere Dosen zu sich an den Sessel. Die erste kippte er fast auf ex runter und die anderen drei leerte er innerhalb einer halben Stunde, hoffend, dass er endlich ohnmächtig werden würde. Jedoch passierte nichts dergleichen. Leo bekam nur immer schlechtere Laune. Und die Musik, die ihm jüngst noch solch angenehme Stimmung bereitet hatte, ging ihm nun mehr auf die Nerven.
Da bekam Leo einen Wutanfall, stand auf, nahm in einem Zug den Plattenspieler, riss sämtliche Kabel davon los, ging damit entschlossen auf seinen Balkon und schmiss ihn, noch bevor sein Bewusstsein imstande war, diesem akuten Schub nach außen kehrenden Wahnsinns zu folgen, aus dem 3. Stock auf den Bürgersteig.
Ein paar Passanten blieben erschrocken stehen, sahen sich um und gingen dann irritiert weiter, Leo sah sie und rief ihnen im Suff nach:
„Da glotzt ihr, was? Verpisst euch lieber, ihr Schwachköpfe!!!!!“
Dann ging er zurück ins Zimmer, trat gegen seine Boxen, schmiss das Wurstglas gegen die Wand und legte sich ins Bett, um kurz darauf besinnungslos zu werden.
Irgendwann gegen 8:00Uhr wachte Leo am nächsten Morgen auf und sah sich um: Überall nur Müll, seine Musikboxen gänzlich zerfetzt, Flecken an der Wand und eine offene Balkontür.
„Oh Gott!“, sprach Leo laut aus und hielt sich den Kopf, welcher ihm hämmerte, als sei darin ein Steinbruch. Hatte Leo doch tatsächlich seinen ganzen Monatsvorrat an Bier versoffen.
Normalerweise trank er recht wenig, so ein obligatorisches Bier am Abend nach der Arbeit vielleicht, jedoch betrank Leo sich eigentlich selten. Aber was war hier schon noch normal, dachte Leo, und stiefelte schwerfällig ins Bad, um dunkelgelb ins Klo zu urinieren. Der Suff, wie sehr er ihn hasste. Sein Kopf dröhnte, und er war kaum imstande, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen, was ihm angesichts der momentanen Lage sowieso schon nicht gerade leicht fiel. Verkatert drehte Leo den Wasserhahn auf und wusch sich das Gesicht. Dann schlurfte er, depressiv und müde, in die Küche, um sich erst mal einen starken Kaffee zu kochen. Während das Wasser auf dem Herd vor sich hin dampfte, trank er gläserweise Leitungswasser – sein Hals fühlte sich an wie ein ausgetrocknetes Flussbett und sein Magen brannte ekelhaft. Da fiel ihm plötzlich ein, dass er heute ja seinen Termin beim Psychiater hatte und wurde unruhig, weil er den Zettel mit dem Termin und der Adresse des Arztes verlegt hatte. Jedoch konnte er sich entsinnen, dass der Termin um 11:30 Uhr sein sollte und der Therapeut Prof. Dr. Dipl. – Psych. Pawel Pikovitz hieß und dessen Praxis sich in der Pankower Allee befinden sollte. Er sah auf die Uhr: 8:30 Uhr. Beruhigt atmete Leo auf – er hatte noch genügend Zeit, um sich den Kater aus dem Gesicht zu rasieren, kurz zu duschen und noch ein paar Zigaretten zu rauchen.
Der Kaffee wurde fertig, duftete herrlich; Leo überlegte, wie er wohl am besten das Gespräch mit Dr. Pikovitz beginnen würde und stellte sich vor, wie dieser wohl aussah. Bestimmt groß, schlank, Brille, schwarze Haare und Schnurrbart. Distanziert freundlich und eine monotone Stimme. Leo schauderte bei dem Gedanken an diese Opferhaltung, die man seines Erachtens beim Psychotherapeuten automatisch einnahm und schlürfte gedankenabwesend seinen Kaffee. Er rieb sich das Gesicht in der Hoffnung, dass dadurch endlich dieser schreckliche Kopfschmerz verschwinden würde und dachte wehmütig an seinen auf dem Bürgersteig zerschmetterten Plattenspieler.
„So eine verdammte Scheiße!!!“, brüllte Leo und stand auf, um ein paar anständige Klamotten aus dem sich im Bad türmenden Berg frisch gewaschener Wäsche zu fischen.
Nach zwei Stunden war Leo geduscht, angezogen, rasiert, einigermaßen geordnet und fertig mit seiner morgendlichen Kaffee – Zigaretten – Zeremonie. Er hatte nun noch eine Stunde, um in die Pankower Allee zu gelangen und dort die Praxis aufzusuchen. Also beschloss er, sich auf den Weg zu machen.
Mit der U-Bahn fuhr er ca. zwanzig Minuten und kam dann um kurz nach elf in die Pankower Allee. Diese lief er entlang und entdeckte nach Absuchen der Gebäude schließlich die „Praxis für Psychotherapie – Prof. Dr. Dipl. – Psych. P. Pikovitz“. Dieses Gebäude deckte sämtliche Klischees, die Leo sich in seinen Vorurteilen zurechtgeschnipselt hatte: ein in altrosa gestrichener Altbau mit monumental wirkender, dunkel lasierter Haustür aus Holz, großen Bogenfenstern mit moosgrünen Läden, welche alle aufgeklappt waren. Alle, bis auf eines, welches sich an der rechten Wand in der äußersten Ecke des Parterre befand. Eine geisterhafte Ruhe ging von diesem Gebäude aus und Leo stieg unsicher die Sandsteintreppe hinauf und drückte auf den Klingelknopf.
Ein Surren – er drückte die Tür auf: klack, trat in den Flur, die Tür hinter ihm fiel schwer ins Schloss, und Leo lief den Gang entlang, an dessen Kopf sich eine Tür befand, welche mit einem Schild versehen war:
„Anmeldung (bitte anklopfen)“, klopfte an und wartete ab.
Unmittelbar darauffolgend bat ihn eine freundliche Frauenstimme herein. So betrat Leo den Raum und erklärte der Sprechstundenhilfe, dass er um 11:30 Uhr dieses Vormittags einen Termin bei Herrn Dr. Pikovitz hätte. Die freundliche Dame mittleren Alters starrte auf einen Bildschirm, hämmerte kurz auf ihrer Tastatur herum, um dann im routinemäßig freundlichen Ton zu sagen:
„Alles klar, Herr Müller. Dann setzen sie sich doch bitte noch für einen Moment ins Wartezimmer. Der Herr Doktor ruft sie dann auf!“
Abgefertigt verließ Leo die Anmeldung und suchte die Tür mit der Aufschrift: „Wartezimmer“, fand sie und betrat den unterkühlt wirkenden Raum: pastellblaue Polsterstühle in U-Form die Wände entlang nebeneinander aufgestellt, in der Mitte ein Glastisch mit diversen Zeitschriften darauf, in jeder Ecke des Zimmers eine Pflanze, auf dem Fensterbrett gegenüber der Tür ein paar Grünlilien, zugezogene Vorhänge. Der Raum selbst in ein eigenartiges Zwielicht getaucht, durch die Vorhänge schien seicht das Tageslicht des ohnehin bereits trüben Wetters und die Wände, in cremigem Rosé gestrichen, wirkten neutral und desinteressiert an den einzelnen Schicksalen, die hier täglich ein und aus gingen.
Leo schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf einen der steifen Polsterstühle am Fenster. Außer ihm war sonst niemand im Raum. Aus dem Augenwinkel linste er auf den Tisch mit den ordentlich sortierten, ungelesenen Zeitschriften und erhaschte den Titel auf dem Deckblatt der oben liegenden Psycho-Illustrierten:
„Moderne Psychotherapie heute. Pro und Kontra“.
Leo verzog das Gesicht zu augenfälliger Skepsis und wartete ungeduldig, dass ihn der Arzt endlich aufrufen würde. Er fühlte sich in der Praxis absolut unwohl und verkrampft. Diese eigenartige Ordnung und Farbenkombination bereitete ihm Kopfschmerzen und Übelkeit, wobei dies höchstwahrscheinlich in erster Linie die Nachwirkungen seines Alkoholrauschs vergangener Nacht waren. Aber Leo war bereits dabei, all sein Unbehagen in diese Praxis zu projizieren und spielte mit dem Gedanken, einfach zu fliehen, solang er noch konnte... Dann dachte er jedoch wieder an die Worte Hubertus Genius, welcher ihm ans Herz gelegt hatte, diesen Termin wahrzunehmen und erinnerte sich daran, dass Hubertus ein guter Arzt war und schon wüsste, was er tat. Also blieb Leo dann doch auf seinem Stuhl sitzen, wartend auf den Psychiater.
Nachdem einige Zeit verstrichen war, ging die Tür auf und ein kleiner, rundlicher Mann in türkisem Jogginganzug stand in der Tür und rief Leonard Müller auf. Dieser stand, leicht irritiert, auf und folgte dem Mann durch den Gang ins Sprechzimmer. Der Mann drehte sich nach Leo um und reichte ihm die Hand mit den Worten:
„Guten Tag. Mein Name ist Pawel Pikovitz.“
Leo stockte und reichte ihm auch die Hand, überrascht von diesem Typen, der tatsächlich der Doktor war, welchen er sich bei weitem anders vorgestellt hatte...
„Herr Müller,“ ergriff Pikovitz erneut das Wort, „setzen Sie sich doch. Möchten Sie irgend etwas trinken?“
Leo war entsetzt über diese vertraulichen Gesten des Therapeuten und schüttelte den Kopf, während er weiterhin den Jogginganzug des Arztes anstarrte und kaum fassen konnte, wie normal dieser Typ war. Somit geriet sein kompletter Plan aus Vorurteilen völlig durcheinander! Und es gefiel Leo überhaupt nicht, dass dieser Psycho-Doktor so vertrauenserweckend schien – da MUSSTE doch irgendetwas faul sein! Bestimmt war das nur eine Masche, um dem Patienten sämtliche Intimitäten zu entlocken...
Leo blieb zunächst ruhig auf seinem Sessel sitzen, welcher allerdings ziemlich gemütlich war und wartete irgendeine Aktion des Arztes ab, welcher sich jedoch gelassen auf dem Sessel gegenüber niederließ und ihn freundlich anschaute. Allerdings machte Pikovitz keinerlei Anstalten, das Wort zu ergreifen und Leo wurde zunehmend nervöser, bis es plötzlich unwillkürlich aus ihm heraussprudelte. Leo erzählte von seinen Anfällen, seiner Verzweiflung darüber...
Daraufhin atmete er kurz durch, den Tränen nahe. Pikovitz merkte, dass der nahezu verzweifelte Mann noch nicht fertig war mit seinen Darstellungen, also wartete er stillschweigend, doch nicht ein einziges Mal den Blick von Leos Gesicht abwendend, dessen Fortsetzung ab:
„Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe gestern im Suff meinen Plattenspieler vom Balkon aus dem dritten Stock geworfen und verwunderte Passanten bepöbelt, weil mir die Musik, die ich doch so liebe, plötzlich dermaßen auf den Sack ging, dass ich fast das Kotzen bekam! Und dann zertrat ich noch meine Boxen und schmiss ein Glas Würstchen an die Wand! Ich erkenne mich einfach nicht mehr wieder! Ich habe schreckliche Angst!“
Leo sah den ruhigen Therapeuten flehend an. Dieser, mit einem Gesicht wie ein Kamel, schaute Leo ebenfalls an, lächelte freundlich und fragte:
„Was hören Sie denn so für Musik?“
Etwas perplex über diese unerwartete Frage stotterte der Leo los:
„Eh, wie? Ja, also – am liebsten höre ich die alten Pink Floyd, Led Zeppelin und die Doors. Aber in letzter Zeit fahre ich wieder total auf Rory Gallagher ab! Kennen Sie den?“
Leo kam plötzlich aus sich heraus und vergaß in seiner Euphorie für kurze Zeit sein eigentliches Anliegen.
„Klar kenn ich Rory!“, sagte Pawel P. fast empört über diese Frage und sang plötzlich los: „I’m not awake yeeeet...“
“GENAU! MEIN LIEBLINGSSONG!!!”, platzte es aus Leo heraus und er strahlte bis über beide Ohren.
„Wie alt sind Sie eigentlich, Herr Müller?“
„Dreißig.“, entgegnete Leo düster, plötzlich wieder ernüchtert von dieser Frage.
„Aha. Haben Sie Frau und Kinder? Oder eine Freundin? Oder leben Sie allein?“ fragte der Psychotherapeut ernsthaft.
„Allein. Ich bin allein.“, sagte Leo leise, fast flüsternd und sah erneut traurig zu Boden.
Pikovitz lächelte mild und tröstete:
„Nun, allein sind wir ja letztlich alle. Aber Sie, Sie sind noch jung! Tun Sie bloß nicht so, als sei Hopfen und Mals verloren! Und außerdem scheinen Sie mir dermaßen verkrampft – Sie haben Angst vor Verletzung, nicht wahr? Massive Angst vor Nähe und daraus möglich resultierender Verletzung, Enttäuschung, Verbitterung... und diese Hemmung – nun ja – enttäuscht, verletzt Sie und lässt Sie verbittern?“
„Ja, das stimmt schon,“ warf Leo ein, „jedoch hilft mir das jetzt akut auch nicht weiter! Bedenken Sie meine Ausbrüche, Herr Pikovitz, das kann so gar nicht weitergehen! Sie müssen mir helfen! Ich habe unglaubliche Angst, auf die Straße zu gehen, aus wiederum der Angst, wieder so etwas zu erleben! Ich arbeite als Sachbearbeiter beim Einwohnermeldeamt. Nun stellen Sie sich doch mal vor, mir passiert so etwas DORT! Wenn ich, zum Beispiel, einen Kunden betreue und plötzlich einen Aussetzer habe, was dann? Dann bin ich meinen Job los!
Vor kurzem habe ich einem Passanten fast die Fresse poliert. Ohne Grund, ohne, dass ich es wollte! Stellen Sie sich doch mal vor, das passiert mir mit meinem Chef!!!“
Dr. Pikovitz grinste und sagte locker:
„Da haben Sie recht, Herr Müller. Das wäre äußerst – nun ja, aus der Distanz komisch – aber für Sie wäre das ziemlich verhängnisvoll, das stimmt. Nun, ich schlage Ihnen Folgendes vor:
Ich werde Ihnen zunächst mal ein Neuroleptikum verschreiben, das solche Anfälle auf jeden Fall unterdrückt, um akut weitere Aussetzer zunächst zu verhindern, sodass Sie erst einmal beruhigt nach Hause gehen können, auf die Arbeit, und so weiter.
Ich gebe Ihnen einen neuen Termin gleich für Montag Nachmittag um 17:30 Uhr, wenn Ihnen das passt, und wir werden ein paar Untersuchungen machen. Dr. Genius schickt mir ja noch den Befund des EEG, das er von Ihnen gemacht hat, und das werde ich mir dann anschauen.
Wir können nicht ausschließen, dass es sich hierbei um Ausbrüche einer bisher verkappten Epilepsie handelt, darum rate ich Ihnen, die Tabletten, die ich Ihnen gleich verschreiben werde, prophylaktisch zu nehmen, bis wir weiteres wissen.
Sind Sie damit einverstanden, Herr Müller, können Sie mir folgen?“
Leo nickte, paralysiert von dieser mutmaßlichen Diagnose und niedergeschlagen davon sagte er:
„Ich möchte jetzt nach Hause.“
Prof. Dr. Dipl. – Psych. Pawel Pikovitz nickte und stand auf:
„Ich werde Ihnen ein Rezept schreiben und Ihnen einen neuen Termin geben. Gehen Sie bitte sofort zur Apotheke und holen sich das Medikament. Dann rate ich Ihnen, nach Hause zu gehen und direkt eine erste Tablette zu schlucken. Falls die Nebenwirkungen zu stark sind, was anfänglich der Fall sein kann, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen, egal, zu welcher Uhrzeit. Hierfür schreibe ich Ihnen meine Handynummer auf. In Ordnung?“
Mit diesen Worten ging der Therapeut zu seinem Schreibtisch und machte sich an die Arbeit. Leo sah ihm dabei zu, wartete ab, bis Pikovitz alles aufgeschrieben hatte, bedankte sich mit flehendem Blick bei ihm und der Arzt schüttelte ihm die Hand, mit den Worten:
„Keine Panik, Herr Müller, mit den Tabletten kann Ihnen erst einmal nichts passieren. Das versichere ich Ihnen. Kommen Sie jedoch bitte am Montag unbedingt wieder. Und vermeiden Sie den Konsum von Alkohol.“
„Ja,“ sagte Leo, „mach ich. Danke. Tschüs...“.
Leo verließ die Praxis und konnte noch nicht glauben, was eben gelaufen war. Er kam sich vor, wie in irgendeinem billig produzierten B-Movie. Was hatte Pawel P. gesagt – Epilepsie? Das einzige, was noch hängen geblieben war in der Erinnerung an das Gespräch. Der Rest, den der Doktor erzählt hatte, war an Leo vorbeigezogen.
Mit dem Rezept in der Hand, machte er sich auf den Weg zur U-Bahn, um dann zur Apotheke zu gehen, die sich nur ein paarhundert Meter von seinem Wohnhaus in einer Querstraße befand.
Dort angekommen, reichte er das Rezept ein, bekam eine blauweiße Schachtel in die Hand gedrückt, zahlte seine 10 Euro und ging nach Hause.
Unschlüssig hielt er die Pappschachtel mit den zwanzig länglichen Tabletten in der Hand. Den Beipackzettel wollte er sich eigentlich gar nicht erst durchlesen, jedoch kam er nicht daran vorbei – er wollte einfach wissen, was das für ein Medikament war. Also studierte er den Beipackzettel aufmerksam:
„Neurosignal“ hieß das Medikament und war, laut Beipack, anzuwenden bei:
- Symptomen einer akuten Psychose
- Zur Vorbeugung des Wiederauftretens einer Majorpsychose
- Zur Unterdrückung epileptischer Anfälle
- Verdacht auf Epilepsie
Leo war verunsichert. Bin ich etwa ein Psychopath?
Aufmerksam studierte er den Beipackzettel weiterhin. Eine Tablette am Tag, zu den Mahlzeiten einzunehmen, Konsum von Alkohol während der Anwendungsspanne vermeiden..
Den Beipackzettel zerknüllt in eine Ecke werfend bekam Leo einen Krampf in der Seele und weinte los. Völlig zerstreut – ein jeder hätte nicht widerstehen können, ihn in den Arm zu nehmen, hätte man ihn dort so sitzen sehen – und in Tränen aufgelöst saß Leo in der Küche, die Tabletten krampfhaft in der Hand haltend, weinend wie ein Kind.
Die Nebenwirkungen las Leo sich erst gar nicht durch – er würde sie sowieso alle bekommen. Das war meistens so. Und wenn Leo sich erst einmal die Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel eines Medikamentes durchgelesen hatte, fing er an, sich plötzlich jegliche Symptome sämtlicher Nebenwirkungen mehr oder weniger einzubilden, darum hielt er es mittlerweile für sinnvoll, Beipackzettel wegzuschmeißen.
Leo schmiss also auch dieses Mal den Zettel in den Mülleimer. Kurz darauf schluckte er, fasste sich und nahm eine der Tabletten ein. Dann setzte er sich auf seinen Sessel und schaltete erneut den Fernseher ein, vor welchem er eindöste.
Träumend, von großen Gesichtern, die ihn auslachten, schlief Leo auf dem Sessel, während es an seiner Tür klingelte. Leo wachte nicht auf. Es klingelte und klopfte und Leo hörte von alldem nichts. Dann wurde ein Zettel an die Tür geklebt, welchen Leo erst vorfinden sollte, wenn es sowieso schon zu spät gewesen sein würde...
Die Person, welche - zunächst oftmals klopfend und schellend - den Zettel an Leos Wohnungstür geheftet hatte, verließ entgeistert das Treppenhaus und eilte zum nächsten U-Bahnschacht. Es regnete und die vermummte Gestalt rannte die Treppen hinunter und verschwand schließlich in einer der Bahnen.
Leo wachte auf und fühlte sich eigenartig betäubt. Er stand auf und sah sich um, sah die Paillette mit den Tabletten, von welchen eine fehlte, erinnerte sich und suchte die Notiz des Therapeuten in seiner Manteltasche, fand sie, ging zum Telefon und wählte die Telefonnummer, die darauf verzeichnet war.
Tuuut, tuuut, tuuuut
Eine Stimme meldete sich:
„Pikovitz hier, hallo?“
„Hallo, Herr Pikovitz. Hier spricht Leo Müller.“, sagte Leo unsicher in den Hörer.
„Ach, Herr Müller. Haben Sie die Tabletten, und haben Sie denn schon eine genommen? Wie geht es Ihnen?“
„Ja, ich habe eine genommen vor ein paar Stunden und bin dann eingeschlafen. Eben wachte ich auf und – ich weiß nicht – ich fühle mich eigenartig benebelt, müde, fremd und bedroht.“
„Ich verstehe. Nun, das können die anfänglichen Nebenwirkungen sein. Sind Sie imstande, rauszugehen?“ Der Doktor klang nervös...
„Ja,“, sagte Leo, „ich denke schon.“
„Gut,“ , entgegnete Dr. Pikovitz, „dann tun Sie das. Gehen Sie unter Menschen, einen Kaffee trinken, irgendetwas, gehen Sie einkaufen, tun Sie in jedem Fall etwas absolut alltägliches! Wenn Sie jedoch ernsthafte Panik bekommen, rufen Sie mich wieder an, ja?“
„Ja, ist gut. Ich danke Ihnen. Tschüs.“
Leo legte auf und überlegte, was er nun tun würde. Vielleicht hatte Pawel Pikovitz recht, und er sollte jetzt einfach was ganz normales machen. Also zog Leo sich Schuhe und Mantel an und verließ die Wohnung.
Als er die Tür hinter sich schloss und gerade abschließen wollte, entdeckte Leo einen Zettel, der an seiner Tür klebte. Verwirrt nahm er den Zettel ab und las:
Ich habe geklopft, ich habe geklingelt – du hast nicht geöffnet. Nun, wenn du das hier liest, ist es bereits zu spät. Ich wollte dich warnen, aber nun ist es zu spät. Ich grüße dich und wünsche dir Kraft.
Ein paar Mal las Leo diesen Zettel durch, ohne irgendetwas zu verstehen. Er bekam es lediglich mit der Angst zu tun. Letztlich völlig verwirrt und der Realität entwichen, mit zitternden Händen und Schweiß auf der Stirn hastete Leo zurück in seine Wohnung und starrte erneut den Zettel an. Wer hatte ihm diese Nachricht hinterlassen? Wer hatte da an seiner Tür geklopft, während er schlief? Und vor allem: WARUM? Leo erkannte sich selbst nicht wieder.
Halluziniere ich? Liegt das an diesen komischen Tabletten? Wer will mich hier fertig machen? Was geht hier vor?
Leo versuchte, sich zu fassen und wählte erneut die Nummer des Psychiaters. Dieser meldete sich umgehend:
„Pikovitz?“
„Leo Müller hier! Ich bin kurz davor, durchzudrehen! Jemand will mich fertig machen!!!“, schrie Leo in den Hörer.
„Jetzt mal ganz ruhig,“, stotterte der Doktor, „was ist los? Wer will sie fertig machen?“
Leo geriet außer Atem, fasste sich jedoch wieder und stammelte los:
„Herr Pikovitz, ich wollte eben Ihrem Rat folgen und nach draußen gehen, da sehe ich einen Zettel an meiner Wohnungstür. Moment, ich lese Ihnen die Nachricht vor: ‚Ich habe geklopft, ich habe geklingelt – du hast nicht geöffnet. Nun, wenn du das hier liest, ist es bereits zu spät. Ich wollte dich warnen, aber nun ist es zu spät. Ich grüße dich und wünsche dir Kraft.’
Was soll das? Wozu ist es zu spät? Warnen, wovor?“
Stille. Leo hörte den Psychiater aufgeregt atmen. Dieser besann sich kurz und stotterte schließlich ins Telefon:
„Nun, Herr Müller. Jetzt bleiben Sie ganz ruhig. Setzen Sie sich hin und versuchen Sie, nicht durchzudrehen. Ich komme sofort zu Ihnen. Klar?“
Der Arzt klang äußerst beunruhigt und Leo kapierte einfach überhaupt nichts mehr. Das einzige, was ihm übrig blieb, war, auf die Kompetenz des Arztes zu vertrauen und seinem Rat zu folgen.
„Nun gut, Herr Doktor, wenn Sie meinen... Meine Adresse haben Sie ja auf der Überweisung. Klingeln Sie einfach zweimal, damit ich weiß, dass Sie es sind.“
„In Ordnung, Leo, ich bin sofort bei Ihnen!“
Der Arzt knallte einfach den Hörer auf und Leo spürte sein Herz bis ins Gesicht schlagen, hörte es in seinem Kopf und hatte keine Kontrolle mehr über sein Atmen – beinahe hätte er hyperventiliert.
Nervös tigerte der verstörte Mann durch seine Wohnung und wartete auf Pawel Pikovitz, obgleich er nicht wirklich Vertrauen in ihn hatte, nachdem er so hektisch auf die Botschaft reagiert hatte, die er ihm vorgelesen hatte. Doch was blieb Leonard anderes übrig? Er hatte das Gefühl, sich gänzlich aufzulösen.
Rrrriiiinnnnggg Rrrinnng
Leo fuhr zusammen – die Türklingel, das musste Pikovitz sein! Jäh pochte es schon an seiner Wohnungstür. Leo öffnete vorsichtig.
„Die Haustür war angelehnt, da bin ich direkt ins Haus!“, sagte Pikovitz und betrat die Wohnung. Hinter ihm schloss Leo die Tür und wies Pikovitz an, sich auf einen der Stühle in seiner Küche zu setzen.
„Herr Pikovitz, ich-“
„Nennen Sie mich Pawel, und ich denke, Sie sind auch einverstanden damit, wenn ich Sie Leo nenne?“ unterbrach der Doktor ihn.
Leo nickte und ergriff erneut das Wort:
„Pawel, ich weiß nicht, was Sie nun mit der ganzen Sache zu tun haben. Aber ich verstehe überhaupt nichts mehr! Ich drehe durch!!!!“
Pawel räusperte sich und dachte sichtlich nach. Er schwieg und starrte in eine Ecke. Dann wandte er sich plötzlich seinem Gegenüber am Küchentisch zu und begann, eine Erklärung zu formulieren:
„Leo, wissen Sie, das Ganze ist nicht so einfach und kurz zu entfalten. Das Problem ist dieser Zettel. Nun, ich weiß, von wem dieser Zettel ist und es ist fatal, dass diese Person Sie nicht erreichen konnte. Sie werden-“
„SAGEN SIE MAL, SIND SIE EIGENTLICH VÖLLIG IRRE?“ schrie Leo, den Arzt unterbrechend, „Warum wissen ausgerechnet SIE über irgendetwas, das MICH betrifft, bescheid? Ich dreh gleich ab, ich schnall’s nicht mehr! PAWEL, WAS IST HIER BITTE LOS?“
Pawel Pikovitz versuchte, Leo zu beruhigen.
„Leo, hören Sie mir zu, geben Sie mir bitte die Chance, mich zu der ganzen Sache zu äußern.“
„Nun gut, Pawel. Aber überlegen Sie sich genau, was Sie sagen, Sie sind mir nämlich mehr als nur eine Erklärung schuldig! Ich will wissen, in was für einen Scheiß ich hier reingezogen werde, ohne auch nur ne leise Ahnung zu haben, um was es geht!!“
Leo starrte Pawel grantig und entrüstet mitten ins Gesicht und wartete auf seine Erklärung.
„Nun,“ begann der Psychotherapeut erneut, „wie bereits erwähnt ist die ganze Sache nicht so einfach zu erklären. Jedoch versuche ich es trotzdem, Ihnen zumindest die Umrisse des Ganzen deutlich zu machen. Es wäre nun ohnehin an der Zeit dazu. Also:
Ihre ‚Attacken’, die sie in meiner Praxis schilderten, kommen nicht von irgendwo her.
Sie – Sie gehören zu den wenigen, deren Transformationsmechanismus Fehler aufzuweisen scheint. Bevor Sie mich unterbrechen, lassen Sie mich bitte ausreden, die Sache ist kompliziert genug. Doch bleibt mir nun nichts anderes mehr übrig, als es Ihnen zu sagen: nichts von all dem, was Sie wahrnehmen, ist echt. Es ist lediglich eine induzierte Wahrheit, eine künstliche Realität, in welcher die Menschen „leben“.
Ich, Dr. Genius und einige andere Leute sind die einzig wenigen, tatsächlich existierenden Lebewesen hier. Jedoch sind wir keine Menschen. Ihr Menschen – ihr seht uns lediglich als solche, weil wir Euch unser menschliches Erscheinungsbild als Illusion in eure ohnehin illusorische Wahrnehmung projizieren.
Früher gab es einst Menschen, ja. Allerdings lebten diese auf der Erde, auf welcher es nun längst kein Leben mehr gibt.
Als wir die Erde aufsuchten, fanden wir dort noch einige viele, frisch verstorbene Menschen – darunter auch Sie. Uns gelang es, euch zu konservieren und aus euren Gehirnen Erinnerungen abzurufen, aus welchen wir euch Menschen dann eine für euch als real empfundene Wahrnehmung modellierten. Die Erinnerung an euren Tod löschten wir natürlich, samt anderer Unannehmlichkeiten, und somit lebt ihr quasi euer Leben weiter, ohne jemals etwas zu erfahren – es sei denn, der Transformationsmechanismus hat einen Defekt. Dann passieren unter anderem Dinge dergleichen, die Sie schilderten.
So viel zunächst dazu.
Was es nun mit dem Zettel an Ihrer Tür auf sich hat, so- “
Pawel unterbrach seine Rede für einen kurzen Augenblick und räusperte sich erneut. Leo nutzte diese Gelegenheit und fragte, völlig irritiert von dem, was er da eben Fragmentweise aufgefasst hatte:
„Ja, Pawel, und auf welchem Planeten sind wir nun bitte? Und Sie wollen mir erzählen, dass meine Selbstwahrnehmung und die meiner Umwelt bloße Projektion irgendeines Computers sind???“
„Nun – so in etwa, Leo.“
„Und was ist mit meinem Körper?“
„Den gibt es nicht mehr. Was denken Sie, wo sollen wir tausende an Menschenleichen lagern? Wenn man es genau nimmt, sind Sie ein bloßes Computerprogramm, beruhend auf Ihren tatsächlichen Erinnerungen – ein selbstdenkendes Programm – quasi.
Und zu der Frage, auf welchem Planeten wir uns befinden – wir befinden uns auf überhaupt keinem Planeten!
Unsere Crew war damals auf der Suche nach einem für uns bewohnbaren Planeten – so stießen wir schließlich auch auf die Erde. Jedoch haben wir noch nichts gefunden, was unseren Anforderungen gerecht wird.
Wir sind also folglich gerade mit Raumfähren unterwegs. Und da es tierisch langweilig ist, über Jahre in einem interstellaren Schiff zu leben, kam uns diese Abwechslung, in den menschlichen Erinnerungen herumzustöbern, wie gelegen.
Momentan befinden wir uns wieder im Prox – System, „Proxima Centauri“. Von unserer Spezies sind nur noch wenige übrig, da unser Planet im Krieg gegen die Hazauten verseucht wurde und nun für Jahrtausende nicht mehr bewohnbar ist.
Wissen Sie, es ist alles nicht immer so, wie man es gerade braucht. Das dürften Sie nun auch festgestellt haben, nicht wahr?“
Leo saß da, gefangen in Trance, gelähmt vom Schock. Lediglich sein Atem und sein Tränenfluss verrieten, dass er noch lebte. Nun – lebte... Er lebte ja nun längst nicht mehr, wie er soeben erfahren hatte. Irgendein Mechanismus eines Computers steuerte seine Emotionen, basierend auf Ergebnissen irgendwelcher Untersuchungen seines toten Hirns. Er existierte überhaupt nicht, er war lediglich eine Art historische Fiktion – seine Wahrnehmung, die bloße Illusion eines Computers... Er konnte es einfach nicht fassen, und selbst das war nur virtuell.
Da fuhr Pawel unvermittelt mit seinen Ausführungen fort:
„Ja, das muss wie ein Schock sein für Sie, Leo. Ich denke, ich muss Ihnen nun nicht noch hunderte, verwirrende Details erläutern. Wozu noch, es hätte ja sowieso keinen Sinn.
Kommen wir zu dem Zettel: Dieser Zettel stammt von Hubertus Genius, Ihrem Hausarzt – meinem besten Freund. Auch er ist einer von uns Proxen. Er wollte mit Ihnen das besprechen, was wir gerade bereden. ‚Es ist bereits zu spät’ – nun, damit meint er den wahrsten Sinne des Wortes. Er wollte sich von Ihnen verabschieden, weil er Sie mochte. Oder die Projektion Ihrer Erinnerungen, er mochte das, was der Computer aus Ihren Erinnerungen als mutmaßlichen Charakter errechnet hatte – nennen Sie’s, wie Sie mögen – er mochte Sie eben.
Es ist wahrlich zu spät, denn die Hazauten haben die Koordinaten unserer interstellaren Raumfähren ausgemacht und selbstdenkende Torpedos, geeicht auf unsere Schiffe, abgeschossen. Dies teilten Sie uns ‚Fairerweise’ mit, sehr freundlich, da diese Schweine genauestens wissen, dass wir weder Waffen, noch Abwehrsysteme haben. Das ist uns alles längst ausgegangen.
Nun, vielleicht tun die Hazauten uns ja letztlich sogar mit unserer Zerstörung einen Gefallen – wie öde es doch war, über all diese Jahrzehnte durchs All zu schweben, ohne Ziel, ohne Hoffnung...
Das ist auch Ihr Ende, Leo, selbst, wenn Sie längst gestorben sind.
Das einzige, was ich nun noch für sie tun kann, Leo, ist: Ihren Prozessor abzuschalten.“
Leo saß noch immer am Küchentisch – Pawel war nicht mehr da. Und Leo – er bewegte sich längst nicht mehr. Jegliches, vermeintliches Leben war von ihm gewichen. Es war ein bloßes Standbild einer Erinnerung und Leos Geist war in diesem Standbild gefangen – nun schon seit tausenden von Jahren, ohne, dass er jemals etwas davon gewusst hatte, da er tief und fest schlief.
Die Proxen hatten die Visualisierungsprozessoren und die Illusionsprojektoren der einstigen Menschen jäh, bevor die Torpedos ihre Schiffe trafen, abgeschaltet und waren nun auch schon längst nicht mehr da...
Nichts war mehr da. Nur noch eine Erinnerung eines kollektiven Bewusstseins, ein von Leben längst verlassener Kosmos, zeitlos ruhend und leer.