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Psychiatrie

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02.11.2001
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Psychiatrie

An den Wänden überklebte Plakate.
Viele davon zerschlissen und mit ihren Ankündigungen längst verhallter Konzerte verjährte Zeugen großer Abende.
Zigarettenqualm überall, aus dem Saal der Klang eines sensibel gespielten Saxophons.
Vor der Tür zur Herrentoilette schwimmt ein Plastikbecher in verschüttetem Bier.

Er stand plötzlich mitten unter uns.
Ein Kolporteur mit einem Packen Zeitungen unter dem Arm.

Sein Blick mit den ruhelos umherwandernden blassgrauen Augen fixierte niemanden von uns Bier Trinkenden länger als den Bruchteil einer Sekunde. Wir paar, die wir keine Luft bekamen im übervollen Saal, tranken draußen, an die Wände gelehnt, mit großen Schlucken.
Wir lümmelten lässig in den Gängen und waren mit den Sinnen ganz bei der Band. Die tobte und rumorte im Saal, Vibrationen liefen den Boden entlang und der Bass besorgte den groove, ja.
Der Kolporteur schob sich am mittlerweile unbesetzten Glaspult der Kasse vorbei und blieb im langen Gang abwartend stehen. Witternd und unhörbare Worte murmelnd, tänzelte er zögernd ein paar Schritte vor und mit dem Schwung dieser Vorwärtsbewegung einen zurück.
Ein ruhiger Derwisch. Ein Tanzender.
Ich sah ihn so, dachte an das Meer, an die Leere der Ebbe und das Tosen der Flut.
Mein Interesse für ihn begann zu erwachen.

Gelbbraunes, verfilztes Haar lugte in wenigen Strähnen unter dem Rand seiner nicht weniger verfilzten Pelzmütze hervor.

Erinnerung, so mitten im Trinken.
Ich sah diese Form der Kopfbedeckung öfters bei den Freunden meines Großvaters, allesamt bescheidene Rübenbauern und Donaufischer, wenn sie auf ihren Waffenrädern spät abends die Wirtshäuser abfuhren.

Beobachtung.
Kein Blick weg von ihm.
Auch seine Augen ganz schnell und überall.
Immer wieder griffen seine äußerst gepflegten Hände an den Lederrand der Mütze und rückten diese mit fahrigem Druck einmal in die Stirn, dann wieder weit in den Kragen seiner abgewetzten Militärjacke.
Dabei eroberte er ein weiteres Stück der Gangfläche, kaum wahrnehmbar, mit der ihm eigenen Rhytmik des Abwägens.
Die ihm am nächsten Stehenden und auch ich erkannten den weißen Schuppenteppich auf den Schulterstücken seiner Jacke.

Einige drehten sich, unsicher geworden, zu den Wänden und ihrem Plakatbelag, suchten Schutz hinter breiten Schultern.
Was seine Anwesenheit nur intensivierte.

Einen Packen Zeitungen in der linken Hand haltend, versuchte der Kolporteur die einzelne, in seiner rechten Hand verbliebene, durch das Vorzeigen der Titelseite und dem gleichzeitigen Ausrufen des Magazinnamens, an uns, die wir ihn, so sah es jetzt tatsächlich aus, umstanden, zu verkaufen. Seiner kurzen, wenig erfolgreichen verbalen Entfesselung folgte ansatzlos ein in sich Zusammensinken, der Schritt zurück, der fahrige Griff an den Mützenrand. Keine Spur von Anbiederung, kein demütiges Getue.

In der ihn umgebenden Befangenheit der Weggaffenden war da ein unhörbares Tosen und Fluten des Sinnmeeres.

Sein Stolz ließ ihn scheinbar unbekümmert die Nichtbeachtung durch die anderen ertragen. Beim nun einsetzenden Schlagzeugsolo hielt er den Kopf lauschend nach oben gerichtet und stumm gesprochene Sätze machten seine Lippen leben.
Ergriffen beobachtete ich diesen nach vorne gebeugten kleinen Mann.
Er stützte sich jetzt, die Augen dabei fest zusammen gekniffen, auf den gebogenen Griff seines Gehstocks, während sein Kopf im Takt der Saalmusik nickte.
Es lag an mir, zu begreifen, dass er für diesen Augenblick in seiner Welt umherwanderte, unerreichbar und glücklich.
Er war auf der Reise.

Ich besorgte mir ein nächstes Bier im Zwielicht der spärlich besetzten Bar. Zwischen den zur Pause aus dem Saal strömenden Leuten traf ich den Kolporteur irgendwann wieder, später, im Vorraum des Saales. Wie unsereiner lehnte auch er an der haltgebenden vertikalen Glätte der Wände.
Wie unsereiner.
Mein mutiger Versuch der Anbahnung eines Kaufgesprächs wurde von ihm zurückhaltend akzeptiert und mit den Dankesworten eines unverständlichen Sprachgemisches entließ er mich mit dem erworbenen Magazin.

Die wiederholte, mit eindeutigen Zeichenerklärungen untermauerte Einladung des ihn bedrängenden Hausarbeiters, einen Drink an der Bar zu konsumieren, wies er ab.

Franz, so hieß der bemühte Spender, kannte den kleinen Mann schon einige Jahre. Das habe ich später, als alles schon ruhig war, an der Bar sitzend erfahren.

Und noch mehr hat Franz, der Hausarbeiter, erzählt.
Man glaubte, den kleinen Mann psychiatrieren zu müssen, und hat das auch wenig erfolgreich mehrere Jahre hindurch versucht.
Es blieb beim Versuch.
Da war nichts zu machen mit Eingrenzung, Normung.
Diesmal nicht.
Dann haben sie ihm einen Vormund als Lebensbegleiter verordnet. Wegen der Aussprache und seiner Unangepaßtheit.
Er verdient Geld, sein eigenes.
Er verkauft Zeitungen, wandert dabei durch die halbe Stadt.
In seiner Wohnung hält er ein paar Sittiche, sagt man.
Trotzdem.
Seine Aussprache versteht keiner.

Die Gesellschaft mag nicht alle ihre Kinder.
Aber er ist nicht wegzudenken, trotz seiner einsamen Reisen durch eine zurechtgezimmerte Welt. Mit seinem grün gestrichenen Gehstock, so mitten unter uns Bierkrüge schwenkenden, traumlosen Steuerzahlern und zur Parade Vorgeführten.

Als er mir das Magazin reichte, habe ich die Wärme seiner Hand gespürt.
Ganz kurz.
Eine Frage habe ich ihm gestellt, vorsichtig und leise.
Wo er denn geboren wurde, habe ich ihn gefragt.

Auf dieser Welt, hat er geantwortet.

Da habe ich ihn verstanden.

[ 07.08.2002, 13:02: Beitrag editiert von: Aqualung ]

 

hi aqualung!

hat mir gefallen. Eine eigenartige Stimmung bringst Du hervor. So ein wenig wie der einzig ruhige Pol im Gedränge oder so... ich kannmir gut vorstellen, wie man auf einem Konzert steht, und andere Dinge wahrnimmt, als die anderen. Oder die Dinge anders wahrnimmt. Dann entsteht diese Stimmung.

Anmerkungen von mir:

von uns Bier Trinkenden
"Biertrinkenden" muß m.E. in einem Wort geschrieben werden.

und der Bass besorgte die groove
hier bin ich vielleicht nicht cool genug. ;) Sagt man das so? kommt mir spanisch vor, irgendwie... ( "den Groove" ... könnte ich irgendwie noch verstehen... )

Die ihm am nächsten Stehenden und auch ich erkannten den weißen Schuppenteppich auf den Schulterstücken seiner Jacke.
der Anfang dieses Satzes ist ein weing zu kompliziert im Vergleich zum restlichen Aufbau...

Einen Packen Zeitungen in der linken Hand haltend, versuchte der Kolporteur die einzelne, in seiner rechten Hand verbliebene, durch das Vorzeigen der Titelseite und dem gleichzeitigen Ausrufen des Magazinnamens, an uns, die wir ihn, so sah es jetzt tatsächlich aus, umstanden, zu verkaufen.
viel zu lang, sehr kompliziert. Deinen Leser verlierst Du, fürchte ich, in der Mitte, auch wenn der Inhalt rüberkommt.
und meine Frage ist, warum bei der genauen Beobachtung zwar die Bewegungen der Hände erwähnt werden, aber die Zeitungen erst so spät.. für mich waren sie plötzlich in vorher leere Hände gezaubert. Vielleicht hilft es, wenn Du vorher betonst, daß er alles mit der einen Hand tut, oder so...
Es lag an mir, zu begreifen, dass...
Ich begriff.
ich verstehe, aber ein wenig doppelt ist es schon.

lehnte auch er an der haltgebenden vertikalen Glätte der Wände.
schön!!

Die Gesellschaft mag nicht alle ihre Kinder.
ich verstehe, daß Du es klarstellen willst und der Satz ist an sich auch gut. Aber ein wenig zu "moralisch" kommt er mir doch daher.

Lieben Gruß,
Frauke

 

Hi Aqualung,

gut rübergebrachte Stimmung / Atmosphäre. Toll, und als einen der zentralen Sätze, empfand ich :

Als er mir das Magazin reichte, habe ich die Wärme seiner Hand gespürt.
Ganz kurz.
Natürlich auch die Folgesätze :)

"störend" empfand ich, wie arc, den groove (wobei ich allerdings weiß, dass es nicht spanisch ist :D )
Dann war die Begriffsverwendung "Kolporteur" am Anfang etwas verwirrend, da ich erst einmal inerlich auf das Verbreiten von Gerüchten fixiert war. Hättest die Zeitungen eher erwähnen sollen.
Dann noch:

Er war auf der Reise. Ich begriff.
Ist vielleicht sehr subjektiv, aber in der Mitte begreifst du, und zum Schluß (letzter Satz) verstehst du ihn. Ich hätte auf "das Begreifen" verzichtet, es entsteht dann nicht ein Wiederholungseffekt, der Schlußsatz erhält mehr Exklusivität.

Unterm Strich, gut geschrieben. Meine angeführten Mängel sind Peanuts im Vergleich zum Gesamteindruck.

Gruß vom querkopp

 

Danke euch beiden, für die sehr feine Kritik.
Ich habe in dieser Geschichte ganz bewußt versucht, kompliziertere Wortaneinanderreihungen zu verwenden. Daraus ist dann der eine oder andere lange Satz entstanden, mit mehreren Satzzeichen usw...Vielleicht eine Brücke zur Kompliziertheit der Gesamtstimmung dort vor dem Saal?
Bei dem Wort "groove" hab ich länger überlegen müssen, da ich sonst Anglizismen nicht verwende. Auch das ein Versuch, mit die oder der. Egal.
Heute abend bin ich einer einen Bierkrug Schwenkender, der einen Bierkrug schwenkt, ein Schwenkender mit Bierkrug, oder so ähnlich.(Wieder ein Jahr um, schade)
Ist toll was die deutsche Sprache erlaubt. Was meint ihr?
Ganz liebe Grüße - Aqualung

 

hallo robert und guten morgen! habe deine geschichte heute morgen, gleich nach dem frühstück gelesen. Eigentlich eine zeit, zu der ich hell wach und aufnahmefähig bin. trotzdem musste ich sie zweimal lesen, um mich im komplizierten netz deiner sätze zurecht zu finden. war nicht ganz leicht, obwohl unter dem strich reizvoll. es hat sich gelohnt. wieder einmal ein wertvoller beitrag von dir. danke und gruß ernst

 

Guten Morgen, Ernst

Habe mich schon gefragt, wo du steckst. Aber ausschlafen ist allemal erlaubt. Ich geb zu, die Sache ist diesmal ein bissel komplizierter geworden und es freut mich, dass du dich davon nicht hast abschrecken lassen.
Ich wünsch dir noch einen schönen Tag und danke für deine Kritik

Aqualung

 

Hi Aqualung!

Insgesamt finde auch ich diese Geschichte sehr gut. Allerdings stört mich auch "der Bass besorgte die groove" - den groove.

Auch der Punkt mit den Zeitungen wurde in den Kritiken bereits erwähnt. Mir kam das auch zu spät, viel zu spät. Ich kam dann erst am Schluß drauf, daß es ein und derselbe ist, beim ersten Lesen war für mich der Kolporteur ein ganz anderer, der plötzlich mit einem Packen Zeitungen ins Spiel kam...

Liebe Grüße
Susi

 

Hi Susi

schön, dass dir die Geschichte gefällt und danke auch dir für deine Kritik. Du hast mich überzeugt, wie auch schon die anderen vor dir -,der groove' ist richtig. Das mit den Zeitungen werde ich auch überarbeiten. Wie mach ich das mit der Änderung? Kannst du mir sagen, wie ich nachträglich in die Geschichte reinkomme?
Dank für deine virtuelle Unterstützung

Aqualung

 

"Kannst du mir sagen, wie ich nachträglich in die Geschichte reinkomme?"
Oberhalb Deiner Geschichte, in der Zeile mit dem Datum rechts, findest Du den Button "Editieren". Da drückst Du drauf... ;)

...Du mußtest bis jetzt noch nie etwas editieren?! Grandios... :shy:

[ 07.08.2002, 12:52: Beitrag editiert von: Häferl ]

 

Hallo aqualung,

ein prima Text !
„Da war nichts zu machen mit Eingrenzung, Normung“

Eine ganz simple Feststellung – und dann wie ein Säbelhieb: „Diesmal nicht.“
Dann der Seitenhieb: „Trotzdem“,

gefolgt von der Parade: „Ganz kurz.“ (Bezogen auf die warme Berührung).

Weiterhin: Ganz „vorsichtig“ und „leise“ die zwei letzten Sätze...
... und dann komme ich als Leser auch wieder auf dieser, uns gemeinsamen Welt an.

Deine ausgefeilten Sätze gefallen mir halt wirklich gut...

Tschüß... Woltochinon

 

Danke für deine Kritik, Woltochinon.

Es tut dem Autor immer gut, verstanden zu werden.
Die kleinen Sätze mit den ganz wenigen Worten sind die, die haften bleiben.
Liebe Grüße - Aqualung

 

Hallo Aqualung,

ich wünsche Dir weiterhin so gute Ideen und viel Freude beim ausarbeiten deiner stories!

Tschüß... Siegbert

 
Zuletzt bearbeitet:

hab ich´s verstanden?

Hei Aqualung,

ernst hat es richtig geschrieben "komplizierte netz der sätze"
Egal-wird ja niemand gezwungen es zu lesen!!

Also Aqualung, hab ich´s richtig verstanden, ober bin ich bei Dir wieder "out of order"

Ich beziehe mich auf

"von dieser welt"

meine deutung: es ist egal, wer man ist, was man macht, wo man herkommt, daß zählt álles nicht.

Er, de Kolporteur lässt Dich Wohlbefinden , also deines, verspüren!

"Die Waerme" du verstehst?
Naja, du verstehst es auf alle Fälle, habe ich es verstanden.
Aqualung, jetzt sag mir bitte nicht, daß es sich bei mir um eine fehlinterpretation handelt, bitte tue es nicht.

Ich bin sensibel, sag mir eine fehlinterpretation bitte durch eine....nein, zwei blumen. hab da meine probleme mit deinen geschichten, deren stil ich allerdings bewundere.

bis dann archetyp

 

Hi Archetyp,

zur Klarstellung: du warst noch nie "Out of order", im Gegenteil.
Ich freue mich, dass du dich mit meinen Geschichten so sehr beschäftigst. Und ehrliche Kritik und dazu viele Fragen kann ich immer gebrauchen.
Mit ,Von dieser Welt' meine ich folgendes: Trotz seines für andere bestehenden Aussenseitertums gibt der Kolporteur eine Antwort, die den Fragenden beschämt in ihrer Einfachheit aber auch Logik. Er ist also nicht wirklich ein Exote in unserer Gesellschaft, sondern auch nur von dieser Welt. Bei dieser Antwort wird dem Fragenden sein vielleicht verstecktes Vorurteil zurechtgerückt....Deine Interpretation stimmt völlig, Archetyp.

Auch mit "Wärme" liegst du richtig. Ein ansich kalter Abend, in dem nur die Musik im Hintergrund Gefühle herstellt - und dann diese Berührung, diese Wärme.

Viel Spass noch beim Lesen meiner Geschichten.
Was hältst du von "Freundschaft"?

Liebe Grüße - Aqualung

 

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