Psychiatrie
An den Wänden überklebte Plakate.
Viele davon zerschlissen und mit ihren Ankündigungen längst verhallter Konzerte verjährte Zeugen großer Abende.
Zigarettenqualm überall, aus dem Saal der Klang eines sensibel gespielten Saxophons.
Vor der Tür zur Herrentoilette schwimmt ein Plastikbecher in verschüttetem Bier.
Er stand plötzlich mitten unter uns.
Ein Kolporteur mit einem Packen Zeitungen unter dem Arm.
Sein Blick mit den ruhelos umherwandernden blassgrauen Augen fixierte niemanden von uns Bier Trinkenden länger als den Bruchteil einer Sekunde. Wir paar, die wir keine Luft bekamen im übervollen Saal, tranken draußen, an die Wände gelehnt, mit großen Schlucken.
Wir lümmelten lässig in den Gängen und waren mit den Sinnen ganz bei der Band. Die tobte und rumorte im Saal, Vibrationen liefen den Boden entlang und der Bass besorgte den groove, ja.
Der Kolporteur schob sich am mittlerweile unbesetzten Glaspult der Kasse vorbei und blieb im langen Gang abwartend stehen. Witternd und unhörbare Worte murmelnd, tänzelte er zögernd ein paar Schritte vor und mit dem Schwung dieser Vorwärtsbewegung einen zurück.
Ein ruhiger Derwisch. Ein Tanzender.
Ich sah ihn so, dachte an das Meer, an die Leere der Ebbe und das Tosen der Flut.
Mein Interesse für ihn begann zu erwachen.
Gelbbraunes, verfilztes Haar lugte in wenigen Strähnen unter dem Rand seiner nicht weniger verfilzten Pelzmütze hervor.
Erinnerung, so mitten im Trinken.
Ich sah diese Form der Kopfbedeckung öfters bei den Freunden meines Großvaters, allesamt bescheidene Rübenbauern und Donaufischer, wenn sie auf ihren Waffenrädern spät abends die Wirtshäuser abfuhren.
Beobachtung.
Kein Blick weg von ihm.
Auch seine Augen ganz schnell und überall.
Immer wieder griffen seine äußerst gepflegten Hände an den Lederrand der Mütze und rückten diese mit fahrigem Druck einmal in die Stirn, dann wieder weit in den Kragen seiner abgewetzten Militärjacke.
Dabei eroberte er ein weiteres Stück der Gangfläche, kaum wahrnehmbar, mit der ihm eigenen Rhytmik des Abwägens.
Die ihm am nächsten Stehenden und auch ich erkannten den weißen Schuppenteppich auf den Schulterstücken seiner Jacke.
Einige drehten sich, unsicher geworden, zu den Wänden und ihrem Plakatbelag, suchten Schutz hinter breiten Schultern.
Was seine Anwesenheit nur intensivierte.
Einen Packen Zeitungen in der linken Hand haltend, versuchte der Kolporteur die einzelne, in seiner rechten Hand verbliebene, durch das Vorzeigen der Titelseite und dem gleichzeitigen Ausrufen des Magazinnamens, an uns, die wir ihn, so sah es jetzt tatsächlich aus, umstanden, zu verkaufen. Seiner kurzen, wenig erfolgreichen verbalen Entfesselung folgte ansatzlos ein in sich Zusammensinken, der Schritt zurück, der fahrige Griff an den Mützenrand. Keine Spur von Anbiederung, kein demütiges Getue.
In der ihn umgebenden Befangenheit der Weggaffenden war da ein unhörbares Tosen und Fluten des Sinnmeeres.
Sein Stolz ließ ihn scheinbar unbekümmert die Nichtbeachtung durch die anderen ertragen. Beim nun einsetzenden Schlagzeugsolo hielt er den Kopf lauschend nach oben gerichtet und stumm gesprochene Sätze machten seine Lippen leben.
Ergriffen beobachtete ich diesen nach vorne gebeugten kleinen Mann.
Er stützte sich jetzt, die Augen dabei fest zusammen gekniffen, auf den gebogenen Griff seines Gehstocks, während sein Kopf im Takt der Saalmusik nickte.
Es lag an mir, zu begreifen, dass er für diesen Augenblick in seiner Welt umherwanderte, unerreichbar und glücklich.
Er war auf der Reise.
Ich besorgte mir ein nächstes Bier im Zwielicht der spärlich besetzten Bar. Zwischen den zur Pause aus dem Saal strömenden Leuten traf ich den Kolporteur irgendwann wieder, später, im Vorraum des Saales. Wie unsereiner lehnte auch er an der haltgebenden vertikalen Glätte der Wände.
Wie unsereiner.
Mein mutiger Versuch der Anbahnung eines Kaufgesprächs wurde von ihm zurückhaltend akzeptiert und mit den Dankesworten eines unverständlichen Sprachgemisches entließ er mich mit dem erworbenen Magazin.
Die wiederholte, mit eindeutigen Zeichenerklärungen untermauerte Einladung des ihn bedrängenden Hausarbeiters, einen Drink an der Bar zu konsumieren, wies er ab.
Franz, so hieß der bemühte Spender, kannte den kleinen Mann schon einige Jahre. Das habe ich später, als alles schon ruhig war, an der Bar sitzend erfahren.
Und noch mehr hat Franz, der Hausarbeiter, erzählt.
Man glaubte, den kleinen Mann psychiatrieren zu müssen, und hat das auch wenig erfolgreich mehrere Jahre hindurch versucht.
Es blieb beim Versuch.
Da war nichts zu machen mit Eingrenzung, Normung.
Diesmal nicht.
Dann haben sie ihm einen Vormund als Lebensbegleiter verordnet. Wegen der Aussprache und seiner Unangepaßtheit.
Er verdient Geld, sein eigenes.
Er verkauft Zeitungen, wandert dabei durch die halbe Stadt.
In seiner Wohnung hält er ein paar Sittiche, sagt man.
Trotzdem.
Seine Aussprache versteht keiner.
Die Gesellschaft mag nicht alle ihre Kinder.
Aber er ist nicht wegzudenken, trotz seiner einsamen Reisen durch eine zurechtgezimmerte Welt. Mit seinem grün gestrichenen Gehstock, so mitten unter uns Bierkrüge schwenkenden, traumlosen Steuerzahlern und zur Parade Vorgeführten.
Als er mir das Magazin reichte, habe ich die Wärme seiner Hand gespürt.
Ganz kurz.
Eine Frage habe ich ihm gestellt, vorsichtig und leise.
Wo er denn geboren wurde, habe ich ihn gefragt.
Auf dieser Welt, hat er geantwortet.
Da habe ich ihn verstanden.
[ 07.08.2002, 13:02: Beitrag editiert von: Aqualung ]