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Psyche der Einsamkeit
Das Prasseln des Regens hat ihm immer schon mehr gefallen als das unbarmherzige, offenbarende Strahlen der Sonne. Er sitzt vor dem Fenster und starrt auf die Szenerie vor sich, die ihn auf irgendeiner Ebene wohl berührt. Wieder setzt er sich die kalte Mündung des Revolvers auf die Schläfe. Nimmt sie weg. Setzt sie etwas weiter rechts wieder auf. Überlegt, ob er sich den Lauf doch lieber tief in den Rachen schieben soll. Wie man es möglichst schmerzlos und mit garantiertem Erfolg erledigt, hat er schon längst auf einem Dutzend Foren recherchiert. Er weiß natürlich nicht, ob dem Glauben zu schenken ist, aber was bleibt ihm sonst? Er kann schlecht jemanden um Rat fragen.
Die Waffe riecht und schmeckt ölig. Er drückt so tief, bis er den Würgereflex spürt. Dann zittern seine Hände und er lässt sie samt Waffe in seinen Schoß zurückgleiten.
Sie zu bekommen war schwieriger, als zu erfahren, wie er sie bedienen kann. Aber nur eine Frage der Zeit. Die Idee dazu lieferten ein Haufen Heldengeschichten von ruhmreichen Selbstmördern und Märtyrern. Ihr Tod wird als ehrenvoll dargestellt, trotzdem kommt er sich feige vor. Dann denkt er daran, was er verloren hat. Was er erst nie zu besitzen und dann nie zu verlieren glaubte.
Also bringen seine Hände die Waffe doch wieder in Position an seiner Schläfe. Er beginnt, hektisch zu atmen. Sein Magen wird flau, die Zunge schwer und bitter. Er versucht, tief durchzuatmen und wartet auf die Fanfaren. Dann fällt es ihm wieder ein: Wenn seine Existenz keine Rolle spielt, wird auch sein Tod niemanden bewegen. Es wird keinen Trauermarsch geben, irgendjemand wird sich höchstens über den Geruch wundern und nach vergeblichen Klingelversuchen selbst eintreten oder irgendjemand anderen dafür besorgen. Sein einziger Beitrag zur Welt wird dann eine grausige Anekdote für seinen Finder sein.
Dann überlegt er, ob er doch noch bis morgen warten soll, ob das Gefühl in seinem Magen dann vielleicht beginnt, abzuklingen. Auch wenn das wohl nur erneut seine Feigheit beweist, er legt den Revolver in eine Schachtel am Fenster. Etwas zu tun gibt es nicht. Sein Leben ist wie ein Album im Laden – nur eine leere Hülle, der Inhalt ist an der Kasse verwahrt. Was auch immer die Kasse in dieser Metapher in Wirklichkeit ist. Er hat jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.
Wobei, was denkt er da – natürlich hat er die Zeit. Ist die Kasse der Tod? Nein, er ist nicht religiös, er glaubt dass sein Tod mit großer Wahrscheinlichkeit das definitive Ende darstellt. Und selbst wenn, sein Leben war wohl nicht allzu sehr im Sinne irgendeiner herkömmlichen Religion. Ist er vielleicht die eine übrige Hülle, für die gar kein Inhalt mehr vorrätig ist. Oder muss er auf den Kunden warten, der ihn kauft und zur Theke bringt. In diesem Fall fiel dem Kunden wohl auf dem Weg sein anderer Geschmack auf, oder dass er sich vergriffen hatte, sodass er die Hülle zurückbrachte. Oder irgendwo einsortierte. Oder auf den Boden warf und zertrat.
Inzwischen ist es dunkel. Also schläft er. Beziehungsweise, er liegt auf dem Rücken und bestimmt den Rhythmus des pochenden Schmerzes im Magen. Was nicht leicht ist, denn dieser wird auch von seinen Gedanken und Erinnerungen bestimmt, die flüchtig und nur schwer kontrollierbar sind. Irgendwann wird ihm das aber auch langweilig. Er überlegt, ob er noch einen Wert für die Welt hat, ob er irgendetwas beizutragen hat. Die Antwort auf diese Frage ist ernüchternd, wie immer, wenn er sie stellt.
Also gibt er den sinnlosen Versuch zu schlafen auf und setzt sich wieder an das Fenster mit der Schachtel. Starrt in die jetzt dunkle Szenerie. Wolken verderben die Sicht auf die Gestirne. Soll er lieber warten bis er sie noch einmal gesehen hat? Nein, das sind wieder feige Ausflüchte. Das merkt er selbst. Er muss es jetzt beenden. Ohne Zögern. Entschlossen greift er in die Schachtel, überprüft die Trommel, setzt an und spannt den Hahn. Doch natürlich kommt wieder einer dieser Urinstinkte dazwischen, der sich gegen das, was er vorhat, sträubt.
Seine Augen scheinen vor Anspannung aus den Höhlen zu treten, so fühlt es sich für ihn an. Er schwitzt. Sein Körper scheint einen unmenschlichen Druck aufzubauen. Seine Hände gehorchen ihm nicht mehr. Er kann die Waffe nicht ruhig halten.
Eine Lösung um seine Instinkte auszulöschen hat er noch parat. Ein paar kräftige Schlucke Fusel und schon zittert er nicht mehr so stark wie vorher. Aber das Gefühl in seiner Magenkuhle hat auch nachgelassen, wie er jetzt erfreut bemerkt.
Am nächsten Morgen ist der Revolver wieder in der Schachtel und er selbst hat endlich Schlaf gefunden. Vielleicht mehr eine Bewusstlosigkeit, aber immerhin ein Fortschritt.
Er steht auf, stößt mit dem Zeh gegen die leere Flasche und läuft fluchend zum Bad, um den Inhalt der Flasche zu großen Teilen wieder von sich zu geben. Danach setzt er sich auf den Klodeckel und hat dummerweise nichts mehr zu tun, das ihn vom Denken abhält. Er verflucht seine eigene unwillkürliche Neugier. Sie zwingt ihn, sich zu erinnern, warum er überhaupt bedrückt war, und einem Sturzbach gleich erreicht er seinen Zustand von gestern Abend mit einem Schwall von Gefühlen, die sich wie ein hässlicher Klumpen in ihm sammeln, mit fast schon vertrauter Beständigkeit Schmerzimpulse aus seinem Unterleib senden und ihren neuen Verbündeten, den dröhnenden Schädel, freudig willkommen heißen.
Er zieht irgendetwas über und geht in einen Laden. Die Blicke der Leute, manche mitleidig, die meisten verächtlich, verträgt er mit einer neugewonnenen Art des Zynismus, die ihn selbst erstaunt. An der Kasse, den Korb voller Flaschen, erkennt er, dass es einfach an seiner neuen Einstellung liegt: Es ist ihm egal. Fast schon befreiend. Hält ihn kurze Zeit vom Denken an ... verdammt. Tückisch, diese Verdrängungsbeschäftigung. Trügerisch und unsicher. Die Kassiererin schenkt ihm ein mechanisches Lächeln, doch beim Gehen sieht er ihr Naserümpfen.
Die nächste Woche durchlebt er nur halb bewusst. Sein Hals brennt am Samstag. Er erkennt eine jetzt-oder-nie-Situation wenn er sie sieht. Er kann weitermachen wie bisher, dann landet er irgendwann im Obdachlosenasyl oder auf der Straße. So oder so wird er zugrunde gehen. Oder er spart sich seinen letzten Rest Würde auf, und erledigt es selbst. Übt noch ein letztes Mal entscheidenden Einfluss auf sein eigenes Leben aus.
Am Fenster. Die Nacht ist klar. Der Mond fast voll. Kein Regen. Kein Gewitter. Dennoch ein Donnerschlag. Danach endlich Ruhe.