- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Psi ist keine Kunst
"Daddy, Timmy's Vater kann Psychokinese!" Peter stürmte in das Wohnzimmer, seinen kleinen Bruder im Schlepptau.
"Und Gedankenlesen kann er auch!" ergänzte Rolf, unser Jüngster, seinen drei Jahre älteren Bruder. "Timmy gibt damit immer furchtbar an. Sein Vater verdient soviel Geld damit, dass er ihn jetzt einen lebendigen Hund geschenkt hat."
"Billy hat er ihn getauft", fuhr Peter fort. "Es ist ein richtiger lebendiger Hund, nicht bloß eine kläffende Maschine wie unser Robotdackel."
"Lebendige Hunde", dozierte ich, "sind etwas für den Tierpark. In einer Stadt fühlen sie sich nicht wohl. Und das wollt Ihr doch, dass sie sich wohlfühlen, oder?"
Die beiden senkten die Augen. "Sicher, Daddy, aber ..."
Ich ergriff die Gelegenheit, das Thema zu wechseln.
"Dass Timmy's Vater ein bißchen Psychokinese beherrscht, will ich nicht abstreiten. Er verdient damit sein Geld wie andere Leute auch. Nur arbeiten die eben wie ich im Büro der Stadtverwaltung oder tun etwas anderes. Dabei ist eine Psi-Begabung keine Seltenheit. Solche Fähigkeiten treten heutzutage sogar sehr oft auf. Ich habe sie zum Beispiel auch."
"Du kannst Psychokinese und Gedankenlesen?" Peter schaute mich ungläubig an. "Davon hast Du nie etwas erzählt." Und Rolf bekam seinen Mund nicht mehr zu.
"Nun, Gedankenlesen kann ich nicht", schränkte ich ein. "Aber Gegenstände bewegen, ohne sie anzurühren."
"Kannst Du das vormachen?" fragte Rolf.
"Ja Dad, bewege doch die Vase dort!" Peter schaute mich bittend an.
Bei der Armee war tatsächlich bei mir eine geringe psychokinetische Begabung festgestellt worden. Damals wurde ich auch darauf trainiert. Aber heute? Schließlich lag mein Wehrdienst schon fast 17 Jahre zurück.
"Nun gut,“ lenkte ich ein und starrte auf die Vase, ein altes Erbstück meiner Frau. Angeblich hat sie die Tante der Urgroßmutter meiner besseren Hälfte von irgendwoher bei Gelegenheit einer Weltreise mitgebracht. Das verdammte Ding mußte sich bewegen, sonst war ich vor meinen eigenen Kindern blamiert.
"Bitte, beweg Dich. Wackele wenigstens!" dachte ich angestrengt.
Sie bewegte sich! Und sie bewegte sich doch! Die Vase hob schwankend vom Tisch ab und verharrte einige Zentimeter über der polierten Oberfläche des Möbels.
Zufrieden lehnte ich mich in den Sessel zurück. „Habt Ihr gesehen...“, sagte ich noch. Im selben Augenblick verlor die Vase ihren Halt und fiel auf den Tisch zurück. Mit häßlichem Klirren löste sich ein großes Porzellanstück aus dem Gesamtverband der Vase.
"Toll!" jubelte Rolf. "Das hat selbst Timmy's Vater noch nicht fertig gebracht."
Bevor auch noch Peter Beifall äußern konnte, schickte ich die beiden zum Spielen nach draußen.
Es dauerte einige Zeit, bis unser Haushaltsroboter unter meiner Anleitung die fehlende Ecke wieder unauffällig in das Prunkstück eingeklebt hatte. Gerade rechtzeitig.
Ingrid kam vom Einkaufsbummel zurück. "Weißt Du, was Deine Jungen in der ganzen Nachbarschaft herumerzählen?" fragte sie anstelle einer Begrüßung.
Ahnungsvoll zuckte ich die Schultern. „Nein, woher sollte ich? Was sagen sie denn?“
"Sie sagen, Du könntest psychokinetisch Vasen zertrümmern."
„Hmm, auf was Kinder immer so kommen. Wie war denn Dein Shopping?“ sprach ich einen anderen Aspekt des Nachmittags an. Über Vasen wollte ich mich nun doch nicht weiter unterhalten.
Meine neu entdeckten Fähigkeiten sprachen sich trotz alledem innerhalb kürzester Zeit herum. Immer, wenn in der Umgebung etwas ausfiel, entzwei ging oder sonst nicht funktionierte, schaute man mich böse an.
Nach einer Woche flatterten die ersten Drohbriefe ins Haus. Ehemals gute Freunde und Nachbarn grüßten nicht mehr. Selbst in der eigenen Familie keimte der entsetzlichste Verdacht auf. Als das Ehebett zu quietschen begann, quartierte mich Ingrid kurzerhand aus. Die Nacht verbrachte ich im Wohnzimmer. Unglücklicherweise befand sich auch unser Robotdackel Waldi Zwo mit ihm Raum. Als er zwei Tage später sich wie aus heiterem Himmel wie eine Katze aufführte, sprachen Peter und Rolf kein Wort mehr mit mir. Dabei war ich mir in allen Fällen keinerlei Schuld bewußt. Außerdem: Ich verstand einfach nicht, wieso Timmy's Vater Ruhm und Lorbeeren anhäufte und ich nicht.
Am nächsten Tag kam ein Schreiben der Stadtverwaltung – Amt für Finanzen. Es handelte sich um die Festsetzung von Gewerbesteuern für die Ausübung des Schaustellergewerbes - in Klammern Psi-Vorführungen. Einen Tag später kam eine Anzeige über ruhestörenden Lärm. Waldi Zwo hatte die ganze Nacht vor einem Haus drei Straßen weiter miaut. Doch wo viel Schatten ist, ist auch Licht: Eine Woche danach sollte sich alles ändern. Der Türsummer warf nicht nur die Projektion eines kleinen, rundlichen Mannes an die Wand. Er läutete auch die nun folgenden Ereignisse ein. Ich drückte die "Öffnen"-Taste und die Haustür glitt in die Wand hinein. Erwartungsvoll schaute ich meinen Besucher an. Ein schon etwas angegrauter Mann, mit Doppelkinn und einem mächtigen Bauch, der sich über einem weißen Hemd spannte, schaute mich freundlich an. Seine linke Hand hielt einen großen schwarzen Aktenkoffer. Die rechte Hand fuhr unterdessen in seine Jackentasche und rührte suchend in dem Stoff herum. Schließlich fand die Hand was sie suchte und der dicke Mann hielt mir seinen Dienstausweis unter die Nase.
"Herr Tuchmelson, ja? Darf ich mich vorstellen? Dr. Basker. Stadtoberarzt beim Medizinisch-Paraspychologischen Institut." Er schob mich zur Seite. "Ich darf doch sicherlich eintreten? Danke. Bitte, wo können wir uns ungestört unterhalten? Ich komme wegen der -„hem - wegen der Vorfälle in der Gegend, Sie verstehen, ja?"
Ich brachte ihn ins Wohnzimmer und bot ihm höflichkeitshalber etwas zu trinken an. Nach dem dritten Glas Sherry kam er endlich zur Sache.
"Es sind uns Meldungen zu Ohren gekommen, wonach Ihre Psi-Begabung, nun ja, etwas außer Kontrolle geraten ist, nicht wahr." Er unterbrach meinen Einwand mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Ich weiß, ich weiß. Bei der Armee wurde damals nur eine ganz geringe Psi-Fähigkeit festgestellt, nicht wahr. Das ist aber schon lange her. Psi ist unbeständig – wie eine Frau, nicht wahr, wenn Sie den Witz erlauben“ – Dr. Basker kicherte in sich hinein und fuhr dann fort: „Das Psi-Talent kann ganz verschwinden, sich aber auch weiter entwickeln. Vielleicht ist das bei Ihnen geschehen, nicht wahr. Um das herauszufinden, bin ich hier. Keine Angst, es ist ein kurzer einfacher Test. Er tut nicht weh, nicht wahr. Sie machen doch mit, ja?"
Wie beiläufig begutachtete Dr. Basker die besagte Vase und fragte vollkommen desinteressiert: "Vasen und dergleichen sind bei Ihnen sicherlich nicht zerstört worden, in letzter Zeit - oder doch, Herr Tuchmelson?" "Wie kommen Sie denn darauf?" Ich machte ein erstauntes Gesicht.
Dr. Basker wuchtete nun seinen rundlichen Körper aus meinem Sessel und begann den Inhalt seines Aktenkoffers auf einem Beistelltisch auszubreiten. Ein kleiner Kasten mit einem Knopf und Display sowie ein Metallring. Das war alles.
"Psi ist keine Krankheit, Herr Tuchmelson", begann Dr. Basker in beruhigend, freundlichem Ton zu dozieren. "Praktisch jeder von uns besitzt latent gewisse außersinnlichen-Fähigkeiten, nicht wahr. Aber nur bei einigen Glücklichen treten sie offen zu Tage. Also keine Angst, wir schaffen das schon."
Ohne mich weiter zu fragen, setzte er mir den Metallring auf den Kopf. "So, das hätten wir, nicht wahr. Herr Tuchmelson, nun konzentrieren Sie sich mal, na sagen wir auf die Uhr dort an der Wand. Bitte nur an die Uhr denken, ja. Ah - ja, sehen Sie. Schon fertig. War doch alles nicht so schlimm, nicht wahr."
Dr. Basker schaltete seinen Kasten aus, nahm mir den Metallring ab und verstaute alles wieder in seinem Koffer. "Die Auswertung dauert ein paar Tage. Sie haben doch Geduld, nicht wahr? Sie bekommen dann Nachricht." Dr. Basker drückte mir flüchtig die Hand und strebte zum Ausgang.
Zwei Tage danach brachen meine Hoffnungen zusammen, wieder als normal bewertet zu werden. Das Stadtmedizinische Institut hatte einen Psi-Faktor von plus 2,8 ermittelt. Das bedeutete die am stärksten ausgeprägte Psi-Begabung in der bisherigen Geschichte der Parapsychologie.
Und damit änderte sich alles.
"Gibt es was Neues in der Post, Liebling?" fragte ich. Ingrid hatte die Briefe durchgesehen.
"Nein, nur die üblichen Heiratsanträge und Bettelbriefe. 52 Bitten um Wunder, sieben Anträge."
Wie sich die Menschen doch schnell ändern können. Irgendwie sickerte das Meßergebnis von Dr. Basker an die Öffentlichkeit und die Meldung ging um die Welt.
Seitdem war ich wer. Ich wurde zu Empfängen und Essen mit Leuten eingeladen, die mich früher keines Blickes gewürdigt hätten, bekam Angebote aus der Wirtschaft, und - das war das unwahrscheinlichste Ereignis von allen – ich wurde sogar in meiner Dienststelle zum Hauptinspektor befördert. Nur meine festgestellte Superbegabung brauchte ich bislang nie unter Beweis stellen.
An diesem Abend war der Präsident persönlich in unsere Stadt gekommen um an den Feierlichkeiten aus Anlaß meiner Ernennung zum Ehrenbürger teilzunehmen. Wie üblich bei derartigen Dingen, wurde zuerst einmal zu einem Imbiß gebeten, diesmal im Ratssaal. Robotbutler mit blankpolierten Metallkörpern rollten hin und her und schleppten laufend Nachschub herein, der ihnen von ausgesucht hübschen und jungen – und vor allem höchstlebendigen - Serviererinnen abgenommen wurde, die sich dann um die Gäste kümmerten.
Mit vollem Munde schilderte mir gerade ein Galaktischer Reichskommissar vom Mars seine amourösen Abenteuer auf der UNO-Basis Luna, als Dr. Basker sich an den Sicherheitsbeamten vorbei drängte und geradewegs auf mich zu hastete.
"Darf ich um Entschuldigung bitten, ja?" rief er mir zu. "Ein schrecklicher Meßfehler. Nicht wahr. Die Skala war unglücklicherweise verstellt. Sie haben nur einen Psi-Wert von plus 0,28."
Im Saal wurde es still. Dann verschluckte sich der Präsident. Zwei Sani-Roboter leisteten erste Hilfe. Alle anderen schauten mich an wie ein seltsames Tier. Die Feier war beendet und Ehrenbürger wurde ich auch nicht.
Ich weiß nicht, wie ich nach Hause zurück und in unser das Bett gekommen bin. Jedenfalls wälzte ich mich in der Nacht unruhig hin und her.
"Du kannst nicht schlafen? flüsterte Ingrid.
"Wie sollte ich? Nach diesem Abend."
Sie kuschelte sich an mich. "Weißt Du, normal ist mir mein Mann um vieles lieber denn als Superstar."
Ich nahm sie in die Arme. "Wirklich?"
Die Antwort war nicht in Worten ausgedrückt.